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Zwölfter Abschnitt.

Man muß den Kindern nicht zuviel Willen lassen.

§ 103. Ich sagte vorhin, daß Kinder die Freiheit liebten und daß man sie deshalb zu ihren Geschäften ohne merklichen Zwang anhalten sollte. Jetzt muß ich noch erinnern, daß sie wirklich noch nach etwas mehr als Freiheit trachten, nämlich nach Herrschaft, und dies ist die Urquelle der meisten fehlerhaften Neigungen, die Kindern gewöhnlich und natürlich sind. Auch äußert sich dieser Hang zur Gewalt und zur Herrschaft sehr frühzeitig und zwar auf zweierlei Weise.

§ 104. Wir sehen erstlich, daß Kinder, wenn sie kaum auf die Welt gekommen sind, ja weit früher, als sie noch sprechen lernen, schreien, unwillig werden, sich erzürnen und erbosen aus keiner anderen Ursache, als weil sie ihren Willen haben wollen. Andere sollen sich nach ihren Wünschen bequemen, sie fordern von allen, die sie umgeben, vollkommene Willfährigkeit, besonders von denen, die in Ansehung des Alters und Ranges ihnen gleich sind oder unter ihnen stehen, sobald sie nur fähig sind, dieses zu unterscheiden.

§ 105. Sie äußern ferner ihre Herrschbegier dadurch, daß sie alles, was sie sehen, gern selbst haben mögen. Sie streben nach dem Besitz dieser Dinge, weil sie dadurch eine Art der Gewalt zu erhalten glauben und ein Recht, darüber nach ihrem Belieben zu schalten. Wer nicht weiß, daß diese beiden Neigungen sehr früh bei den Kindern wirken, der hat ihr Tun und Lassen gewiß schlecht beobachtet, und wer nicht darauf bedacht ist, diese beiden Quellen fast aller Ungerechtigkeiten und Streitigkeiten, welche das menschliche Leben beunruhigen, beizeiten zu verstopfen und entgegengesetzte Fertigkeiten zu bewirken, verabsäumt die bequemste Zeit, in der der Grund zu einem guten und rechtschaffenen Manne gelegt werden muß. Diese Ansicht Lockes wurde von den Philanthropisten (besonders von Trapp) sehr bekämpft. Der Grundtrieb der Kinder, ein Eigentum haben zu wollen, müsse in der Erziehung benutzt werden durch Veranstaltung von Arbeits- und Erwerbsmöglichkeiten. Vergl. Rev.-Werk IX, 298 ff. und Th. Fritzsch, »E. Chr. Trapp« 1900. Diese Absicht werden folgende Regeln merklich befördern.

§ 106. Erstlich sollte man nie zugeben, daß ein Kind das erhielte, was es namentlich verlangt, und noch weniger, wenn es danach weint oder schreit. – Ich würde gesagt haben »worum es euch anspricht«; da man dies aber mißverstehen und so auslegen könnte, als sollten Kinder ihre Eltern nie um etwas ansprechen (welches das Gemüt derselben zum Nachteil der Liebe und Zuneigung, die zwischen Eltern und Kindern stattfinden muß, leicht zu sehr niederdrücken könnte), so will ich mich hierüber etwas umständlicher erklären. Man muß ihnen allerdings die Freiheit gestatten, den Eltern ihre Bedürfnisse zu erkennen zu geben, sie mit Zärtlichkeit anhören und ihnen willfahren, wenigstens solange sie noch klein sind. Aber es ist nicht einerlei, ob das Kind sagt: »Ich bin hungrig«, oder »Ich will Braten haben«. Wenn Kinder bloß ihre natürlichen Bedürfnisse zu erkennen geben, d. h. die unangenehme Empfindung, die ihnen Hunger, Durst, Kälte oder andere natürliche Übel verursachen, so ist es Pflicht der Eltern und derer, die, um sie sind, ihr Verlangen zu befriedigen: allem sie müssen es der Wahl und dem Willen ihrer Eltern überlassen, was und wieviel sie ihnen zu geben für gut finden. Es muß ihnen nicht erlaubt sein, selbst zu wählen oder zu sagen: »Ich will Wein oder Weißbrot haben«, bloß einer solchen näheren Bestimmung wegen sollten sie nichts erhalten.

§ 107. Eltern müssen immer darauf bedacht sein, die Bedürfnisse der Einbildung von den Bedürfnissen der Natur zu unterscheiden, welche letztere Horaz in folgender Zeile sehr genau bezeichnet hat:

Queis humana sibi doleat natura negatis. Was die Natur mit Schmerz entbehrt.

Das sind die wirklich natürlichen Bedürfnisse, welche die Vernunft allein ohne anderweitigen Beistand nicht zu besiegen, noch zu verhindern imstande ist, daß sie uns nicht beunruhigen sollten. Alle Menschen fühlen das Schmerzhafte der Krankheit, des Hungers, des Durstes, der Kälte, des Mangels an Schlaf oder an Ruhe und Erholung des durch Arbeit abgematteten Körpers, und die standhaftesten Seelen sind gegen die daher entstehende Unbehaglichkeit empfindlich. Man muß also auch diesen Übeln durch schickliche Mittel abzuhelfen suchen, doch aber nicht mit ungeduldiger und übergroßer Eile bei der ersten Annäherung derselben, wenn nicht etwa der Verzug sehr großen Nachteil befürchten läßt. Die Schmerzen, welche aus der Einrichtung der menschlichen Maschine entstehen, sind Erinnerer und Vorboten, um uns vor größerem Schaden zu warnen. Man muß sie also nicht zu lange verhalten oder zu stark werden lassen. Je mehr man aber Kinder zu dergleichen Unbequemlichkeiten abhärten und durch kluge Maßregeln ihren Geist und Körper fester machen kann, desto besser wird es für sie sein. Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß man hierbei in den Schranken der wohltätigen Wirkung bleiben und dahin sehen müsse, daß weder das Gemüt, noch die Gesundheit des Kindes darunter leide; denn Eltern sind ohnehin mehr zur Gelindigkeit geneigt.

Ob man nun gleich die Forderungen der Natur bei Kindern befriedigen muß, so sollte man ihnen doch nie die Bedürfnisse der Einbildungskraft gewähren, noch gestatten, daß sie solche erwähnten. Schon um der bloßen Erwähnung willen muß man sie ihnen abschlagen. Kleider z. B. müssen sie haben, wenn sie sie brauchen; aber wenn sie dieses oder jenes Zeug, diese oder jene Farbe verlangen, so sollte man ihren Wunsch nicht erfüllen. Ich verlange indes nicht, daß Eltern den Wünschen der Kinder in gleichgültigen Dingen mit Vorsatz zuwider sein sollen; im Gegenteil bin ich der Meinung, daß, sobald es ihre Aufführung verdient und man versichert ist, daß dadurch ihr Gemüt nicht verzärtelt, noch ihr Geschmack auf eitle Dinge geheftet wird, man alles so viel als möglich zu ihrer Zufriedenheit einrichten sollte, damit sie von ihrem Wohlverhalten Freude und Vergnügen einernteten. Das Beste der Kinder aber erfordert, daß sie nicht eben in solchen Dingen ihr Vergnügen suchen und ihre Zufriedenheit von der Einbildungskraft abhängig machen, sondern daß sie gegen das, was seiner Natur nach gleichgültig ist, sich auch so verhalten. Hierauf sollten Eltern und Lehrer ihr Hauptaugenmerk richten; und in dieser Hinsicht behaupte ich, daß man sich dem ausdrücklichen Verlangen der Kinder entgegensetzen und die lüsternen Einfälle ihrer Phantasie nie befriedigen müsse.

Der natürlichen Zärtlichkeit der Eltern wird dies vielleicht zu hart vorkommen; es ist aber nichtsdestoweniger sehr nötig. Denn da die hier auseinandergesetzte Methode den Gebrauch der Rute verbannt, so wird diese Bezähmung der Zunge von großem Nutzen sein, um die Scheu, von der ich schon oben geredet, sowie die den Eltern gebührende Ehrerbietung aufrechtzuerhalten. Hiernächst lernen die Kinder auch ihre Neigungen bezähmen und beherrschen. Sie werden in der Kunst geübt, ihre Begierden gleich im Entstehen zu unterdrücken, wenn sie noch am leichtesten unterjocht werden können. Denn seinen Begierden luftmachen, heißt ihnen Leben und Stärke erteilen; und wer die Dreistigkeit hat, seine Wünsche in Bitten zu verwandeln, ist auf dem halben Wege, die Erfüllung derselben als eine Schuldigkeit zu betrachten. Gewiß ist es auch, daß ein jeder sich leichter selbst etwas versagt, als eine Weigerung von einem anderen erträgt. Der Mensch muß also beizeiten gewöhnt werden, seine eigene Vernunft zu Rate zu ziehen und ihr zu folgen, ehe er seinen Neigungen Raum gibt, und er hat schon einen großen Schritt zur Herrschaft über seine Begierden getan, wenn er sie stillschweigend in sich selbst zu verschließen imstande ist. Erlangen die Kinder eine gewisse Fertigkeit mit den Einfällen ihrer Phantasie nicht gleich herauszuplatzen, sondern, ehe sie etwas sagen, erst zu überlegen, ob es auch schicklich ist, so wird ihnen dies im künftigen Leben bei weit wichtigeren Angelegenheiten zu großem Vorteil gereichen. Denn ich kann es nicht zu oft erinnern, das Vornehmste, ja ich möchte fast sagen, das einzige, worauf man bei jeder Sache, sie sei so groß oder so klein als sie wolle und bei jeder Handlung des Kindes Rücksicht zu nehmen hat, ist dieses: Was wird sie auf den Charakter für Einfluß haben, was für eine Fertigkeit kann wahrscheinlich daraus entstehen, was wird daraus werden, wenn das Kind größer wird, und wohin wird diese Fertigkeit, falls man dieselbe bestärkt, es führen, wenn es erwachsen ist?

Meine Meinung ist also nicht, daß man Kinder mit Vorsatz verdrießlich machen und quälen soll. Das würde in der Tat Unmenschlichkeit und Bosheit verraten und die Kinder selbst mit diesen Lastern anstecken. Sie sollen nur ihre Begierden bezähmen lernen, der Geist sowohl als der Körper soll an Lebhaftigkeit, Wohlsein und Stärke gewinnen, indem man sie gewöhnt, ihre Neigungen zu besiegen und ihren Körper zu Beschwerlichkeiten abhärtet. Es darf daher bei diesem Verfahren auch keine Spur, kein Verdacht stattfinden, als wollte man ihnen Übles tun. Die unausbleibliche Versagung dessen, wonach sie selbst gelüsten und begehren, muß sie Bescheidenheit, Unterwerfung und Erduldsamkeit lehren, daß aber diejenigen, welche diesen strengen Gehorsam von ihnen fordern, sie dem ungeachtet lieben, davon werden sie dadurch überzeugt, daß diese ihre Bescheidenheit und ihr Stillschweigen mit Dingen, die ihnen angenehm sind, vergelten. Wenn sie sich bei Entbehrung dessen, was sie wünschen, beruhigen, so ist dies eine Tugend, welche zu einer anderen Zeit durch das, was ihnen lieb ist und sich für sie schickt, belohnt werden muß. Doch muß ihnen dies bloß als eine natürliche Folge ihrer guten Aufführung zuteil werden, nicht aber als eine erkaufte Bedingung. Inzwischen würde alle eure Mühe und, was noch mehr ist, alle eure Achtung und Ehrerbietung verloren gehen, wenn sie das, was ihr ihnen versagt, von anderen erhalten könnten, welches man also auf das sorgfältigste verhüten muß. – Doch hier kommen mir wieder die Bedienten in den Weg. Siehe oben § 59, 69.

§ 108. Werden Kinder nach dieser Methode frühzeitig angehalten, ihre Begierden zum Schweigen zu bringen, so wird sich diese überaus nützliche Fertigkeit in ihnen bald befestigen. So wie sie aber an Alter und Verstand zunehmen, kann man ihnen auch größere Freiheit verstatten, wenn nämlich nicht mehr bloß die Begierde, sondern die Vernunft in ihnen sich zu äußern beginnt; der letzteren aber muß man jederzeit Gehör geben. Ob man ihnen nun gleich nie zu Willen sein darf, wenn sie dies oder jenes verlangen, ohne daß man es ihnen zuvor angeboten hat, so sollte man doch auf der anderen Seite ihre Fragen, wenn sie etwas gern wissen möchten, oder wovon unterrichtet sein wollen, immer gütig aufnehmen und freundlich beantworten; denn die Wißbegierde ist bei Kindern ebenso sorgfältig zu unterhalten, als andere Begierden zu unterdrücken.

So sehr indes die Jugend in Ansehung der bloß eingebildeten Bedürfnisse einzuschränken ist, so gibt es doch einen Fall, wo die Einbildungskraft ihre Stimme geben und Gehör verlangen darf, bei den Erholungen nämlich, welche ebenso nötig sind als Arbeit und Speise. Denn da keine Erholung ohne Ergötzung stattfinden kann, die Ergötzung aber nicht immer von der Vernunft, sondern weit öfter von der Einbildungskraft abhängt, so muß man auch Kindern erlauben, daß sie sich nach ihrer Weise vergnügen, wenn es nur auf eine unschuldige, ihrer Gesundheit nicht schädliche Art geschieht. Bringen sie daher eine besondere Art der Erholung in Vorschlag, so kann man ihnen selbige nicht versagen. Inzwischen glaube ich, daß bei einer wohlgeordneten Erziehung das Kind selten genötigt sein werde, eine solche Freiheit zu verlangen. Denn man wird alsdann dahin sehen, daß Kinder das, was zu ihrem Besten dient, allezeit mit Vergnügen tun und zu dem Ende, noch ehe ihnen solch eine Arbeit Überdruß verursacht, sie unvermerkt auf eine andere nützliche Beschäftigung leiten. Solange sie aber noch nicht so weit sind, daß irgendeine nützliche Beschäftigung ihnen zur Erholung werden kann, muß man sie lieber den kindlichen Spielen, worauf sie verfallen, überlassen, von diesen aber sie dadurch abzubringen suchen, daß man sie selbige bis zum Überdruß fortsetzen läßt. Sind es nützliche Gegenstände, womit sie sich beschäftigen, so müssen sie allemal noch mit etwas Lust zur Fortsetzung davon entlassen werden; wenigstens doch eher, als sie ihrer ganz müde und überdrüssig geworden sind, damit sie immer wie zu einem unterhaltenden Vergnügen zu ihnen zurückkehren. Denn solange sind sie noch nicht auf dem rechten Wege, so lange die Ausübung lobenswürdiger Dinge ihnen noch nicht Vergnügen macht, solange die nützlichen Beschäftigungen des Geistes und des Körpers noch nicht dergestalt miteinander abwechseln, daß ihr ganzes Dasein, ihr Wachstum im Guten in einer ununterbrochenen Reihe von angenehmen Erholungen besteht, wobei bald der Geist, bald der Körper sich von der Ermüdung erquickt. Ob dies gerade bei allen Charakteren der Kinder sich tun läßt, ob Eltern und Erzieher Lust haben, diese etwas mühsame Methode zu wählen und sich die dazu erforderliche Einsicht und Geduld zu erwerben, muß ich freilich dahingestellt sein lassen: aber daß es bei den meisten Kindern möglich ist, wenn man auf eine kluge Art das Verlangen nach Lob, Achtung und einem guten Ruf in ihnen anzuregen weiß, daran kann ich gar nicht zweifeln. Sind sie dann von diesen Empfindungen beseelt, so kann man ohne Nachteil von dem, was ihnen Vergnügen macht, mit ihnen sprechen und sie es frei genießen lassen, damit sie erfahren, daß sie mit wahrer Zärtlichkeit geliebt werden, und daß diejenigen, unter deren Aufsicht sie stehen, keine Feinde ihres Vergnügens sind. Solch eine Behandlung wird ihnen Liebe für den Erzieher und für die Tugend, zu der sie angeführt werden, einflößen.

Bei der Freiheit, welche man Kindern in Ansehung ihrer Ergötzungen gestattet, hat man überdies auch den Vorteil, daß man ihren natürlichen Charakter, ihre Neigungen und Fähigkeiten dadurch kennen lernt. Vernünftige Eltern können sich hiernach nicht nur in der Wahl der Lebensart und Beschäftigung richten, wozu sie die Kinder bestimmen wollen, sondern auch in der Wahl der Mittel, deren sie sich bis dahin bedienen müssen, um diesen oder jenen Hang der Natur, welcher dieselben einst mißleiten könnte, zu verbessern.

§ 109. 2. Die Herrschbegier der Kleinen offenbart sich ferner Siehe oben § 106 »erstlich«, hier Fortsetzung des oben Begonnenen. auch dadurch, daß sie oft mit den Kindern, mit welchen sie zusammenleben, um die Oberhand streiten, wessen Wille den Vorzug haben soll. Sobald solch ein Streit beginnt, muß man sogleich bedacht sein, ihn beizulegen, ja nicht nur dies, sondern man muß die Kinder auch lehren, sich wechselseitig alle mögliche Gefälligkeit, Achtung und Höflichkeit zu beweisen. Sehen sie nun, daß solch ein Betragen ihnen Beifall, Liebe und Wertschätzung erwirbt und daß sie dadurch keinen Vorzug verlieren, so werden sie mehr Vergnügen daran finden als an übermütiger Herrschsucht.

Die Anklagen der Kinder gegeneinander, die gemeiniglich nur die Befriedigung ihrer Rache und ihres Zorns zur Absicht haben, sollten nicht günstig aufgenommen, noch angehört werden. Sie werden nur weich und weibisch, wenn sie sich oft beklagen. Es kann ihnen nicht schaden, wenn sie auch zuweilen Verdruß oder Schmerz von anderen erdulden, ohne sich darüber umständlich beschweren zu dürfen: denn sie lernen dadurch etwas ertragen und werden beizeiten abgehärtet. Ob man aber gleich den Beschwerden des Klagsüchtigen nicht immer Gehör geben darf, so muß man doch nicht verabsäumen, dem Übermut und der Bosheit des Beleidigers Einhalt zu tun. Ist man selbst dabei zugegen, so verweise man es ihm in Gegenwart des beleidigten Teils. Betrifft aber die angebrachte Klage etwas, das wirklich Ahndung verdient und dem für die Zukunft vorgebeugt werden muß, so nehme man den Täter allein und gebe ihm den verdienten Verweis, ohne daß der Kläger dabei ist; man bringe ihn dahin, daß er hingehe, es dem Beleidigten abbitte und sich mit ihm aussöhne. Kann man dies so veranstalten, als käme es von selbst, so wird beides, die Abbitte und Aussöhnung, mit willigerem Herzen geschehen, die gegenseitige Zuneigung wird dadurch gestärkt und ein höfliches Betragen den Kindern untereinander zur Gewohnheit werden.

§ 110. 3. Da sie auch so gern Dinge selbst haben und besitzen mögen, so lehre man sie, das Ihrige gern und willig ihren Freunden mitzuteilen und zeige ihnen durch Erfahrung, daß der Freigebigste immer am besten daran ist und obendrein Achtung und Lob einerntet. Auf die Art werden sie diese Tugend bald ausüben lernen; Brüder und Schwestern werden dadurch untereinander selbst und folglich auch gegen andere freundschaftlicher und gefälliger werden, als wenn ihnen noch so viel Regeln und Sittenlehren vorgepredigt würden, womit man Kinder insgemein nur verwirrt und ihnen Langeweile verursacht. Habsucht und die Begierde, mehr im Besitz und unter unserer Herrschaft zu haben, als wir bedürfen, ist die Wurzel alles Übels und muß daher beizeiten und mit Sorgfalt ausgewurzelt, die entgegengesetzte Eigenschaft aber, nämlich die Bereitwilligkeit anderen von dem Seinigen mitzuteilen, dafür eingepflanzt werden. Hierzu sollte man das Kind durch häufiges Lob und Beifall aufmuntern und zugleich dahin sehen, daß es durch diese Freigebigkeit nichts einbüßte. In allen Fällen, wo es dieselbe äußert, muß sie ihm jederzeit und mit Zinsen vergolten werden; Diese Methode, die Kinder zur Freigebigkeit und Gefälligkeit zu gewöhnen, scheint der geradeste Weg zu sein, sie interessiert und eigennützig zu machen. Man vergl. die »Einwände der Erziehungrevisoren« im Revisions-Werk IX, S. 322 ff. und es muß sichtlich wahrnehmen, daß die Gefälligkeiten, welche es anderen erweist, keine Verschwendung in Rücksicht auf sich selbst seien, daß sie ihm vielmehr reichlich wiedererstattet werden, sowohl von denen, welchen sie wirklich zuteil wurden, als von denen, die davon bloß Zeugen waren. In diesem Stücke muß man eine Art von Wetteifer unter den Kindern veranlassen, und auf diese Weise wird die gegenseitige Mitteilung und Opferwilligkeit den Kindern durch beständige Übung zur Natur werden und Gutherzigkeit bei ihnen zu einer solchen Fertigkeit anwachsen, daß sie sich's zur Ehre und zum Vergnügen rechnen werden, dienstfertig, höflich und freigebig zu sein.

So wie man indes die Kinder zur Freigebigkeit aufmuntern muß, so muß man sie um so mehr von der anderen Seite zurückhalten, die Regeln der Gerechtigkeit Wie sich aus dem Folgenden ergibt, im Sinne von »Redlichkeit«. nicht zu übertreten. Wenn sie es aber tun, so muß man sie zurechtweisen und nach den Umständen ernstlich bestrafen.

Da die erste Quelle unserer Tätigkeit nicht sowohl in der Vernunft und Überlegungskraft als in der Selbstliebe zu suchen ist, so darf man sich nicht wundern, daß Kinder sehr aufgelegt sind, die Grenzen von Recht und Unrecht zu überschreiten; denn diese Begriffe sind das Resultat der Vernunft und des ernsthaften Nachdenkens. Je leichter nun die Jugend hierin fehlen kann, desto wachsamer muß die Aufsicht in diesem Stücke sein. Der kleinste Verstoß gegen diese wichtige gesellschaftliche Tugend muß bemerkt und geahndet werden, und zwar auch bei den geringfügigsten Dingen, teils um ihren Verstand darüber aufzuhellen, teils um bösen Gewohnheiten vorzubeugen. Diese fangen bei unbedeutenden Kleinigkeiten, bei Nadeln und Kirschkernen an, gehen, wenn sie nicht eingeschränkt werden, zu größeren Betrügereien fort und stürzen am Ende den Menschen in Gefahr, ein verhärteter Bösewicht zu werden. Der Hang zur Unredlichkeit muß in den ersten Ausbrüchen erstickt werden, indem Eltern und Erzieher Verwunderung und Abscheu darüber bezeugen. Da man aber Kindern nicht leicht verständlich machen kann, was Unredlichkeit ist, bevor sie Begriffe von Eigentum haben, und wie einzelne Personen dazu gelangen, so ist der sicherste Weg, ihre Ehrlichkeit sicherzustellen, dieser, daß man sie früh zur Freigebigkeit gewöhnt und zur Bereitwilligkeit, anderen das, was sie haben und was ihnen selbst lieb ist, mitzuteilen. Hierzu müssen Kinder angeführt werden, noch ehe sie ihre Sprache und ihren Verstand so weit ausbilden, daß sie sich deutliche Begriffe von Eigentum erwerben und inwiefern etwas durch ein ausschließendes Recht ihnen zugehört. Weil sie nun auch selten zu irgend etwas anderem gelängen als durch Geschenk, und zwar meistens von ihren Eltern, so muß man ihnen nicht erlauben, sich etwas anzumaßen oder zu nehmen, was ihnen nicht von denen, die ihrer Meinung nach darüber disponieren können, gegeben worden. Mit der Zunahme ihrer Fähigkeiten kann man ihnen sodann die Anwendung der Begriffe von Mein und Dein in einzelnen Fällen erklären und ihnen die näheren Grundsätze der Gerechtigkeit einschärfen. Sieht man, daß eine ungerechte Tat nicht etwa aus Irrtum, sondern aus verkehrtem Willen herrührt und sind sanfte Verweise und Beschämung nicht hinreichend, solch eine unordentliche und habsüchtige Neigung zu dämpfen, so müssen härtere Mittel angewandt werden. Der Vater oder der Erzieher muß ihnen alsdann etwas, das ihnen wert ist und sie als ihr eigen betrachten, wegnehmen, oder es muß hierzu jemand anderes angestellt werden, damit sie empfinden, wie schlecht sie fahren würden, wenn sie ungerechterweise sich fremdes Gut anmaßen wollten, da es außer ihnen noch mehr und stärkere Menschen in der Welt gibt. Das sicherste und beste Mittel, diesem Verbrechen vorzubeugen, ist ein aufrichtiger Abscheu gegen dieses schändliche Laster. Dieser muß ihnen frühzeitig und, mit der größten Sorgfalt eingeflößt werden, er wird alsdann eine stärkere Schutzwehr gegen Unredlichkeit abgeben, als alle auf das eigene Interesse hingeführte Raisonnements. »Als alle Gegengründe, die vom Interesse hergenommen sind« (nach Rudolphis Übersetzung) – »als irgendwelche, dem Eigennutz entlehnte Erwägungen« (Wattendorff). Gewohnheiten wirken überhaupt zuverlässiger und leichter als die Vernunft; denn diese wird in den Fällen, wo wir sie am nötigsten brauchen, nur selten gehörig zu Rate gezogen und noch seltener befolgt.


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