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Siebenter Abschnitt.
Bunte Fäden

Goethe's Liebe und Ehrgeiz. Briefe von sentimentalen Jünglingen. Goethe schreibt den »Triumph der Empfindsamkeit.« Harzreise. Zusammenkunft mit Plessing, dem Misanthropen. Selbstmord des Fräulein von Laßberg. Goethe's Haß gegen die Wertherei steigt. Aufführung des »Triumphs der Empfindsamkeit«.

Bisher hat unsere Darstellung dieser Weimarschen Zeit einen vorwiegend allgemeinen Charakter getragen; denn nur so konnte ein Bild von dem Leben Goethe's entstehen. Jetzt aber wird es nothwendig, sein persönliches Dasein von dem Treiben seiner Umgebungen abzusondern.

Daß er der Thorheiten und Ausgelassenheiten der ersten Monate bald überdrüssig war, ist schon bemerkt worden. Wir finden ihn 1777 ruhig in seinem Gartenhause beschäftigt mit Zeichnen, Poesie, Botanik und der steten Nahrung seines Herzens – der Liebe zu Frau von Stein. Liebe und Ehrgeiz waren die Führer, die ihn durch das Labyrinth des Hoflebens leiteten. Inmitten dieser buntfarbigen Scenen, dieser dichtgedrängten Vergnügungen, dieses rastlosen Lärms vernahm er schmerzlich ergreifende Stimmen der Vergangenheit, die ihn an die unsterblichen Hoffnungen mahnten, welche einst der Sporn seines Strebens gewesen waren; tief und langsam, wie feierliche Bässe, tönten die Nachklänge der so innig gehegten stolzen Träume durch die raschen und kecken Melodien der umgebenden Wirklichkeit. In ununterbrochener Lust und Aufregung kann niemand leben. Leere Stunden der Ermattung stellen sich ein, die gewöhnliche Menschen mit öder Langeweile ausfüllen, edle Seelen dagegen mit thatkräftiger Erhebung über die frühere Vergeudung von Zeit und Kräften.

Der stille Einfluß der Frau von Stein ist auf jeder Seite seiner Briefe zu lesen. So viel sich in Ermangelung der ihrigen ersehen läßt, scheint sie mit ihm kokettirt zu haben; sobald er Lust zu haben schien, ihr Joch abzuwerfen, sobald sein Betragen ein wenig kühler war, lockte sie ihn durch Zärtlichkeit zurück, und sah sie ihn wieder zu ihren Füßen, so quälte sie ihn durch Kälte. »Sie werfen mir immer vor, schreibt er, daß ich ab- und zunehme in Liebe; es ist nicht so, es ist nur gut, daß ich nicht alle Tage so ganz fühle, wie lieb ich Sie habe.« Ein andermal: »Warum das Hauptingrediens Ihrer Empfindungen neuerdings Zweifel und Unglaube ist, begreif' ich nicht. Das ist aber wohl wahr, daß Sie einen, der nicht fest hielte in Treue und Liebe, von sich wegzweifeln und träumen könnten, wie man einem glauben machen kann, er sehe blaß aus und sei krank.« Daß sie ihn mit solchen angeblichen Zweifeln peinigte, ist nur zu offenbar; und wenn er fort ist, schreibt sie ihm wieder, er werde ihr theurer in der Entfernung. »Ja, lieb Gold,« erwidert er, »ich glaub' wohl, daß Ihre Lieb' zu mir mit dem Absein wächst. Denn wo ich weg bin können Sie auch die Idee lieben, die Sie von mir haben, wenn ich da bin wird sie oft gestört durch meine Thor- und Tollheit. Ich hab' Sie gegenwärtig lieber als abwesend, drum könnt ich mir anmaßen, daß meine Liebe wahrer sei. Adieu.« Zu Zeiten scheint er gezweifelt zu haben, ob er sie wirklich liebe oder sich nur der Anmuth ihrer Gegenwart freue.

Mit diesen Zweifeln vermischt sich noch ein anderes Element, – sein leidenschaftliches Streben, etwas zu thun, um ihrer würdig zu werden. Trotz seines Genie's und seines Ruhmes hat er ihr Herz noch nicht bezwungen, sondern nur erregt. Er versuchte es, sie durch Hingebung zu besiegen. Die strenge Zurückziehung, zu der ihn seine Leidenschaft veranlaßt, erfüllte seine Freunde, die mit wahrer Unersättlichkeit nach seiner Gesellschaft verlangten, mit schmerzlichem Erstaunen.

Im Juni dieses Jahres ward seine Einsamkeit von einer der Erschütterungen heimgesucht, denen er am wenigsten widerstehen konnte. Es war der Tod seiner Schwester Cornelia. »Leiden und Träume« lautet seine Aufzeichnung über den Tag, nachdem er die Nachricht erhalten hatte.

Um diese Zeit übernahm er die Fürsorge für einen Knaben aus der Schweiz, Peter Imbaumgarten, den sein Freund, der Baron Lindau, an Sohnes statt angenommen hatte. Der Tod des Barons ließ Peter abermals ohne Schutz. Goethe, der besonders für Kinder ein fühlendes Herz hatte, erbot sich bereitwillig, an die Stelle seines Freundes zu treten. Wie er früher seiner Mutter den kleinen Italiener zugesandt hatte, wie Wilhelm Meister Mignon und Felix zu sich nimmt, so erhöht dieser »kalte« Goethe auch hier das Mitleid zur Liebe und wird ein Vater für den Vaterlosen.

Das Roth und Gelb des herbstlichen Laubes begann zwischen den düstern und ernsten Fichten der Ilmenauer Berge hervorzuleuchten, und Goethe und der Herzog konnten sich nicht länger enthalten, die vielgeliebte Gegend zu besuchen, wo die Tage mit geschäftlichen und dichterischen Planen hingebracht, die Nächte mit manchem tollen Streiche geweckt wurden. Hier tanzten sie mit den Bauermädchen bis zum Morgen; der nächste Gewinn davon war ein geschwollenes Gesicht, welches Goethe zwang, im Bette zu bleiben.

Bei seiner Rückkehr nach Weimar machte ihn einer der zahlreichen Briefe unglücklich, die ihm der Werther auf den Hals zog. Er hatte die Empfindsamkeit dichterisch verherrlicht; bald ward sie zur Mode. Melancholische Jünglinge vertrauten ihm von allen Seiten ihre Leiden und baten um Theilnahme und Trost. Nichts konnte seiner klaren und gesunden Natur mehr zuwider sein. Er schämte sich seines Werther. Er wurde unbarmherzig gegen die Wertherei. Um sich von dem Verdruß zu befreien, schrieb er die satirische Posse »der Triumph der Empfindsamkeit.« Höchst bezeichnend aber ist es für die unwandelbar liebevolle Grundstimmung seines Wesens, daß er, obschon ihm alle diese Gefühlsergüsse nur einen lächerlichen oder peinlichen Eindruck machten, bei seinem Widerwillen gegen die Krankheit doch Mitgefühl für die Kranken behielt. Den besten Beweis dafür giebt die Erzählung seiner Harzreise, die er im November und Dezember dieses Jahres unternahm Nicht 1776, wie er selbst erzählt. Die Briefe an Frau von Stein sind beweisend.. Die Ode »Harzreise im Winter« ist bekannt; der Zweck der Reise war ein doppelter: er wollte die Bergwerke besuchen und einen unglücklichen Menschenfeind kennen lernen, mit dessen Empfindelei er Mitleid fühlte. Der Herzog hatte eine Jagdpartie zur Erlegung eines großen Ebers veranstaltet, der die Gegend um Eisenach verwüstete; Goethe zog mit ihm aus, allein auf dem Wege verließ er die Gesellschaft, um seinen eigenen Plan zu verfolgen.

In Regen und Schnee, auf grundlosen Pfaden, allein, von großen Gedanken begleitet, durchritt er die einsamen Gebirge und erreichte zuletzt den Brocken. Eine glänzende Sonne beschien den reinen Schnee, wie er hinanstieg und auf das in Wolken verhüllte Land herabblickte. Die Luft der Freiheit schwellte seine Brust. Die Welt mit ihren Aeußerlichkeiten lag unter ihm; der Hof mit seinen Zerstreuungen lag in unsichtbarer Ferne, und der Dichter stand in den schneeigen Einsamkeiten nur dem majestätischen Geiste der Schönheit gegenüber, der die Natur beseelt. Da,

hoch erhaben über dem Gewölk
Des Dampfes und dem Tosen mächt'ger Städte High above the misty air and
turbulence of murmuring cities vast.
Wordsworth.

verlor er sich in Träume über seine Zukunft:

Dem Geier gleich,
Der auf schweren Morgenwolken,
Mit sanftem Fittig ruhend,
Nach Beute schaut,
Schwebe mein Lied.

Der Geier über den Morgenwolken ist (nach seiner eigenen Erklärung) ein Bild des Dichters, der von den schneeigen Höhen auf die winterliche Landschaft hinabschaut und mit »seines Geistes Auge« zwischen den Verworrenheiten des Lebens nach einem Gegenstande sucht, um seine Muse zu beschäftigen.

In den Briefen an seine Geliebte erzählt er, wie günstig dieses Leben unter einfachen Menschen, die ihn nur unter angenommenem Namen als Landschaftsmaler Weber kennen, auf seine Einbildungskraft einwirkt. Es ist wie ein kaltes Bad, sagt er. Und bei Gelegenheit seiner Verkleidung macht er die Bemerkung, wie leicht es ist, ein Spitzbube zu sein, und welchen Vortheil es über gute, einfache Leute gewährt, einen fremden Charakter darzustellen.

Doch wenden wir uns zu dem andern Zwecke seiner Reise. Der Brief des eben erwähnten Menschenfeindes war aus Wernigerode datirt und Plessing unterzeichnet. Es lag etwas Interessantes in der krankhaften Reizbarkeit des Gefühls und dem entschiedenen Talent, das sich darin aussprach. Goethe antwortete nicht, da ihn solche Erwiderungen schon öfters in unangenehme Verhältnisse verwickelt hatten. Ein zweiter, überaus leidenschaftlicher Brief beschwor ihn noch dringender, sein Schweigen zu brechen; auch darauf schrieb Goethe nicht. Er wollte sich persönlich unterrichten, welch ein Mensch der Briefsteller sei; und unter angenommenem Namen ließ er sich bei Plessing anmelden.

Sobald dieser hörte, daß sein Besuch aus Gotha käme, fragte er eifrig, ob er nicht in Weimar gewesen sei und die ausgezeichneten Männer kenne, die dort lebten. Mit vollkommener Unbefangenheit sagte Goethe Ja und begann von Kraus, Bertuch, Musäus, Jagemann u. s. w. zu sprechen, als er ungeduldig unterbrochen ward: »Warum reden Sie nicht von Goethe?« Er erwiderte, er habe auch Goethe gesehen; und nun mußte er eine Beschreibung des Dichters liefern, die er mit großer Gelassenheit und in einer Weise gab, die sein Incognito für scharfsichtigere Augen genugsam verrathen haben würde.

Plessing erzählte ihm dann in großer Bewegung, Goethe habe einen höchst dringenden und leidenschaftlichen Brief unbeantwortet gelassen, worin er ihm den Zustand seines Innern geschildert und um Zuspruch und Beistand gebeten habe. Goethe entschuldigte sich, so gut er konnte; aber Plessing bestand darauf, ihm die Briefe vorzulesen, damit er selbst beurtheilen könne, ob er eine solche Behandlung verdiene.

»Indessen (so berichtet Goethe) war mir der bedauernswürdige Zustand dieses jungen Mannes immer deutlicher geworden; er hatte nämlich von der Außenwelt niemals Kenntniß genommen, dagegen sich durch Lektüre mannigfaltig ausgebildet, alle seine Kraft und Neigung aber nach Innen gewendet und sich auf diese Weise, da er in der Tiefe seines Lebens kein produktives Talent fand, so gut als zu Grunde gerichtet; wie ihm denn sogar Unterhaltung und Trost, dergleichen uns aus der Beschäftigung mit alten Sprachen so herrlich zu gewinnen offen steht, völlig abzugehen schien.

»Da ich an mir und andern schon glücklich erprobt hatte, daß in solchem Fall eine rasche, gläubige Wendung gegen die Natur und ihre gränzenlose Mannigfaltigkeit das beste Heilmittel sei, so wagt' ich alsobald den Versuch, es auch in diesem Falle anzuwenden und ihm daher nach einigem Bedenken folgendermaßen zu antworten. Ich glaube zu begreifen, warum der junge Mann, auf den Sie so viel Vertrauen gesetzt, gegen Sie stumm geblieben, denn seine jetzige Denkweise weicht zu sehr von der Ihrigen ab, als daß er hoffen dürfte sich mit Ihnen verständigen zu können. Ich habe selbst einigen Unterhaltungen in jenem Kreise beigewohnt und behaupten hören: man werde sich aus einem schmerzlichen, selbstquälerischen, düstern Seelenzustande nur durch Naturbeschauung und herzliche Theilnahme an der äußern Welt retten und befreien. Schon die allgemeinste Bekanntschaft mit der Natur, gleichviel von welcher Seite, ein thätiges Eingreifen, sei es als Gärtner oder Landbebauer, als Jäger oder Bergmann, ziehe uns von uns selbst ab; die Richtung geistiger Kräfte auf wirkliche, wahrhafte Erscheinungen gebe nach und nach das größte Behagen, Klarheit und Belehrung: wie denn der Künstler, der sich treu an die Natur halte und zugleich sein Inneres auszubilden suche, gewiß am besten fahren werde.

»Der junge Freund schien darüber sehr unruhig und ungeduldig, wie man über eine fremde oder verworrene Sprache, deren Sinn wir nicht vernehmen, ärgerlich zu werden anfängt. Ich darauf, ohne sonderliche Hoffnung eines glücklichen Erfolgs, eigentlich aber um nicht zu verstummen, fuhr zu reden fort. Mir, als Landschaftsmaler, sagte ich, mußte dies zu allererst einleuchten, da ja meine Kunst unmittelbar auf die Natur angewiesen ist; doch habe ich seit jener Zeit emsiger und eifriger als bisher nicht etwa nur ausgezeichnete und auffallende Naturbilder und Erscheinungen betrachtet, sondern mich zu allem und jedem liebevoll hingewendet. Damit ich mich nun aber nicht in's Allgemeine verlöre, erzählte ich, wie mir sogar diese nothgedrungene Winterreise, anstatt beschwerlich zu sein, dauernden Genuß gewährt; ich schilderte ihm mit malerischer Poesie und doch so unmittelbar und natürlich als ich nur konnte, den Vorschritt meiner Reise, jenen morgendlichen Schneehimmel über den Bergen, die mannigfaltigsten Tageserscheinungen, dann bot ich seiner Einbildungskraft die wunderlichen Thurm- und Mauerbefestigungen von Nordhausen, gesehen bei hereinbrechender Abenddämmerung, ferner die nächtlich rauschenden, von des Boten Laterne zwischen Bergschluchten flüchtig erleuchtet blinkenden Gewässer und gelangte sodann zur Baumannshöhle. Hier aber unterbrach er mich lebhaft und versicherte: der kurze Weg, den er daran gewendet, gereue ihn ganz eigentlich; sie habe keineswegs dem Bilde sich gleich gestellt, das er in seiner Phantasie entworfen. Nach dem vorhergegangenen konnten mich solche krankhafte Symptome nicht verdrießen: denn wie oft hatte ich erfahren müssen, daß der Mensch den Werth einer klaren Wirklichkeit gegen ein trübes Phantom einer düstern Einbildungskraft von sich ablehnt. Eben so wenig war ich verwundert, als er auf meine Frage: wie er sich denn die Höhle vorgestellt habe, eine Beschreibung machte, wie kaum der kühnste Theatermaler den Vorhof des Plutonischen Reiches darzustellen gewagt hätte.

»Ich versuchte hierauf noch einige propädeutische Wendungen als Versuchsmittel einer zu unternehmenden Kur; ich ward aber mit der Versicherung, es könne und solle ihm nichts in dieser Welt genügen, so entschieden abgewiesen, daß mein Innerstes sich zuschloß und ich mein Gewissen durch den beschwerlichen Weg, im Bewußtsein des besten Willens, völlig befreit und mich gegen ihn von jeder weiteren Pflicht entbunden glaubte. Es war schon spät geworden, als er mir den zweiten noch heftigern, mir gleichfalls nicht unbekannten brieflichen Erlaß vorlesen wollte, doch aber meine Entschuldigung wegen allzugroßer Müdigkeit gelten ließ, indem er zugleich eine Einladung auf morgen zu Tische im Namen der Seinigen dringend hinzufügte; wogegen ich mir die Erklärung auf morgen ganz in der Frühe vorbehielt. Und so schieden wir friedlich und schicklich. Seine Persönlichkeit ließ einen ganz individuellen Eindruck zurück; er war von mittlerer Größe, seine Gesichtszüge hatten nichts Anlockendes, aber auch nichts eigentlich Abstoßendes, sein düsteres Wesen erschien nicht unhöflich, er konnte vielmehr für einen wohlerzogenen jungen Mann gelten, der sich in der Stille auf Schulen und Akademien zu Kanzel und Lehrstuhl vorbereitet hatte.

»Heraustretend fand ich den völlig aufgehellten Himmel von Sternen blinken, Straßen und Plätze mit Schnee überdeckt, blieb auf einem schmalen Steg ruhig stehen und beschaute mir die winternächtliche Welt. Zugleich überdacht' ich das Abenteuer und fühlte mich fest entschlossen, den jungen Mann nicht wieder zu sehen; in Gefolg dessen bestellt' ich mein Pferd auf Tagesanbruch, übergab ein anonymes, entschuldigendes Bleistiftblättchen dem Kellner, dem ich zugleich so viel gutes und wahres von dem jungen Manne, den er mir bekannt gemacht, zu sagen wußte, welches denn der gewandte Bursche mit eigener Zufriedenheit gewiß wohl benutzt haben mag.«

Später hatte Goethe Gelegenheit, Plessing gefällig zu sein; dieser suchte ihn in Weimar auf und fand da seinen alten Bekannten, den Landschaftsmaler 1778 ward Plessing als Professor der Philosophie an der Universität Duisburg angestellt, wo Goethe ihn bei seiner Rückkehr von der Campagne in Frankreich 1792 besuchte. Vielleicht interessirt es den Leser, zu erfahren, daß Plessing seine krankhafte Melancholie vollkommen überwand und einen geachteten Namen in der deutschen Wissenschaft erlangte. Seine Hauptwerke sind: Osiris und Sokrates, 1783; historische und philosophische Untersuchungen über die Denkart, Philosophie und Theologie der ältesten Völker, 1785; und Memnonium, oder Versuche zur Enthüllung der Geheimnisse des Alterthums, 1787. Er starb 1806.. Indeß das eigentlich Charakteristische an der Geschichte, um dessentwillen ich sie berichtet habe, ist der gründliche Realismus Goethe's, der sich darin ausdrückt; ein Realismus, der in der Natur und in ernsthafter Thätigkeit die einzige Heilung für Empfindsamkeit, Selbstquälerei und Weltschmerz sieht. Wenn der Geist sich zur Wirklichkeit wendet, so verschwinden die selbstgeschaffenen Schreckbilder, die ihn umdunkeln, wie die Schatten der Nacht im Lichte des Tages.

Im Januar des folgenden Jahres (1778) sah Goethe zweimal dem Tode ins Angesicht. Das erste Mal auf einer Eberjagd; sein Speer zerbrach beim Anlauf des Thiers, und er war in der dringendsten Lebensgefahr, kam jedoch glücklich davon. Am folgenden Tage waren er und der Herzog beim Schlittschuhlaufen und plauderten vielleicht über das gestrige Ereigniß, als ein Haufe von Menschen auf dem Eise erschien und die Leiche des unglücklichen Fräulein von Laßberg getragen brachte, die sich in der Verzweiflung unerwiderter Liebe in der Ilm ertränkt hatte, ganz nahe bei der Stelle, wo Goethe am Abend zu lustwandeln pflegte. Unter allen Umständen würde ihn ein solcher Vorfall schmerzlich ergriffen haben; diesmal ward er um so tiefer bewegt, als man in der Tasche des unglücklichen Mädchens den Werther fand. Riemer, der nie etwas zugiebt, was seinen Abgott herabsetzen könnte, bemüht sich die Thatsache anzuzweifeln und behandelt sie als Erfindung der Bosheit. Doch sind seine Gründe unzureichend. Wir unsererseits pflegen einen Schriftsteller in solchen Fällen freizusprechen. Kein Mensch von gereifter Einsicht hat einem Plato den Selbstmord des Kleombrotus oder einem Schiller die Verbrechen von Räubern zur Last gelegt. Treten indeß wirklich tragische Ereignisse ein, so spricht der Schriftsteller sich selbst nicht so leicht frei, wie wir es thun. Wenn sein Werk auch, bei richtiger Auffassung, nicht zum Selbstmorde führt, so ist es doch, unrichtig aufgefaßt, dessen nächste Veranlassung, und der Verfasser kann die Last dieses Vorwurfs nicht ohne Weiteres von sich abschütteln. Auf strenger Logik fußend konnte Goethe sagen: »Wenn Plato den Selbstmord des Kleombrotus hervorrief, so hat er dafür den des Olympiodorus abgewandt. Wenn ich zu dem unseligen Entschlusse dieses Mädchens mitgewirkt habe, so verdanken mir dafür Andere ihre Rettung, wie jener junge Franzose, der mir seinen Dank dafür ausgesprochen hat.« So hätte er sagen können; allein das Gewissen ist zartfühlender als die Logik.

Die Leiche wurde in das Haus der Frau von Stein gebracht, das dem Orte zunächst stand; da blieb Goethe den ganzen Tag und bemühte sich, die jammernden Eltern zu trösten. Er selbst bedurfte des Trostes. Das Ereigniß erschütterte ihn tief und leitete ihn auf Betrachtungen über verwandte schwermüthige Gegenstände. »Diese einladende Trauer,« bemerkt er schön, »hat was gefährlich Anziehendes wie das Wasser selbst, und der Abglanz der Sterne des Himmels, der aus beiden leuchtet, lockt uns

Bald ward er indeß wieder in theatralische Leichtfertigkeiten hineingezogen. Zum Geburtstage der Herzogin sollte ein Stück gegeben werden, das vielfache Proben erforderte. Es war der Triumph der Empfindsamkeit. Das Abenteuer mit Plessing und neuerdings der tragische Todesfall des Fräulein von Laßberg hatten seinen Widerwillen gegen Werther'sche Empfindelei geschärft, und er ließ jetzt dem Spotte schonungslos die Zügel. Der Held der Posse ist ein Prinz, dessen Seele nur für Mondschein-Schwärmereien und zärtliche Poesien empfänglich ist. Er vergöttert die Natur: nicht die rauhe, wilde, unvollkommene Natur, deren riesenmäßige Kraft jede feinfühlende Seele erschrecken muß, sondern die zarte, rosige Natur der Bühne. Er liebt die Natur, so wie man sie in der Oper sieht. Felsen sind freilich malerisch, allein sie sind oft mit Schneediademen gekrönt, zwischen denen man sich, so schön sie auch glänzen, leicht erkälten kann; durch ihre Klüfte und Spalten heulen unruhige Winde in einer Weise, die reizbare Nerven nicht ertragen können. Der Prinz liebt den Wind nicht; Sonnenaufgang und früher Morgen sind hübsch, aber feucht; und der Prinz ist geneigt zu Rheumatismen.

Um all' diese Uebelstände zu vermeiden, hat er sich eine künstliche Nachahmung der Natur verfertigen lassen, die ihn auf allen Reisen begleitet; so daß er stets in wenigen Augenblicken und vor Erkältung gesichert eine Mondscheinscene, eine sonnige Landschaft oder eine düstere Grotte haben kann.

Er ist verliebt; aber seine Geliebte ist ein Werk der Kunst, wie seine Landschaften. Weiber sind reizend, aber eigensinnig; sie können zärtlich sein, machen aber Ansprüche; deshalb hat der Prinz eine Puppe bei sich, die eben so gekleidet ist, wie seine frühere Geliebte. Mit dieser Puppe verlebt er Stunden des Entzückens; nach ihr seufzt er; ihr gelten seine Liebeslieder.

Die wirkliche Geliebte erscheint, das Original des angebeteten Bildes. Ist er nun glücklich? Keineswegs. Sein Herz schlägt nicht rascher in ihrer Gegenwart; er erkennt sie nicht wieder; er wirft sich abermals seiner Puppe in die Arme, und so triumphirt die Empfindsamkeit.

Diese »ausgesuchte Narrethei« hat fünf Akte. Ursprünglich war sie weit derber und persönlicher, als sie uns jetzt vorliegt. Wie Böttiger versichert, ist kaum ein Schatten von ihrem blitzenden Humor und ihrer satirischen Laune übrig. Die Geißel des Aristophanes wurde mit kräftiger Hand über jede Art von Modethorheit in Kleidung, Sitte und Literatur geschwungen, und die Zuschauer sahen sich selbst wie in einem Zerrspiegel. Zum Schlusse ward die Puppe geöffnet, und herausfielen eine Menge von Büchern, die damals an der Tagesordnung waren; über alle wurden strenge und übermüthige Urtheile gefällt – das strengste über Werther. Ballete, Musik und komische Scenenveränderungen belebten das Stück, so daß, was uns jetzt als eine langweilige Farce erscheint, damals als ein unwiderstehlicher Unsinn bewundert wurde.

Das Stück erinnert an die Tollheiten des Aristophanes und hat etwas von jener lärmenden Ausgelassenheit, in der es Goethe damals zur Vollendung gebracht hatte. Wenn jedoch deutsche Kritiker über den Witz und die Ironie des Werkes außer sich sind, so muß ich offen bekennen, ich verstehe nicht, wovon sie reden. Es ist allerdings mit der nationalen Komik der Deutschen überhaupt nicht anders. Was ihnen außerordentlich lächerlich erscheint, darin findet der Franzose oder Engländer fast immer nur einen äußerst frostigen Spaß. An den eigentlichen Witz, der mit Feinheit gehandhabt sein will, wagen sich die Deutschen höchstens mit Handschuhen. Die Ironie ist bei ihnen nicht ein leichter Stoßdegen, sondern ein mächtiges Schwert; sie zerhauen das Opfer, wo ein geschickter Stoß genügt hätte. Es ist eine beachtenswerthe Thatsache, daß sie unter allen Schätzen ihrer Literatur nichts eigentlich Komisches im höheren Sinne besitzen. Sie haben kein Lustspiel hervorgebracht. Es bewährt sich an ihnen, was der Altmeister des hohen grotesken Drama's, Aristophanes, behauptet hat:

»Nichts Schwereres giebt's im Gebiete der Kunst, als echte Komödien schreiben;
Wohl haben sich Viele bemüht um den Preis, doch wenigen glückte das Streben.«



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