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Zweiter Abschnitt.
Geistige Eigenthümlichkeiten

Subjektive und objektive Geister. Widerstreit zwischen dem Idealen und Realen. Objektivität des Goethe'schen Geistes. Concrete Richtung seiner Schriften. Vergleichung Goethe's mit Shakespeare. Sittliche Toleranz.

Die beiden dramatischen Arbeiten, die wir am Schlusse des vorigen Abschnittes erwähnten, können als der eigentliche Anfang von Goethe's dichterischer Laufbahn gelten, weil er in ihnen wirklich Erlebtes poetisch gestaltete. Sie bieten uns Gelegenheit zu einigen Bemerkungen über seine Eigenthümlichkeiten, deren genaue Erkenntniß das Verständniß seines Lebens und seiner Schriften erleichtern wird: Wir machen eine Abschweifung, aber der Leser wird gleich sehen, daß wir mit dieser Abweichung vom geraden Wege der Erzählung nur unser Schifflein umlegen, um den Segeln vollen Fahrwind zu geben.

Friedrich Schlegel und Coleridge nach ihm haben die treffende Bemerkung, jeder Mensch sei ein geborner Platoniker oder Aristoteliker. Dieser Unterschied wird auch oft mit den Ausdrücken: subjektive und objektive Geister bezeichnet. Ein objektiver Geist geht darauf aus, die Dinge unmittelbar, in ihrer positiven Wirklichkeit anzuschauen; die Richtung subjektiver Geister ist, sie ideell in ihrer Bedeutung für den Menschengeist aufzufassen. Natürlich ist kein Geist ausschließlich subjektiv oder ausschließlich objektiv, aber jeder Geist ist überwiegend das eine oder das andere. Jener steigt mit seinem Denken von der Natur aufwärts, geht von der Wirklichkeit aus und verliert sie niemals lange aus den Augen, selbst nicht auf dem kühnen Fluge der Hypothese und Spekulation; dieser steigt von der Idee abwärts, geht von einer idealen Vorstellung, einem apriorischen Standpunkte aus, von dem er zu der Wirklichkeit gleichsam als sichtbarem Bilde, als einem Symbole des tieferen und höheren idealen Seins gelangt. Zu der letzteren Art von Philosophie bekennt sich Plato ausdrücklich; weniger ausdrücklich, aber entschieden lehrt Aristoteles die erstere.

Reales und Ideales stehen als die Endpunkte zweier entgegengesetzter Gedankenreihen einander gegenüber. In der Philosophie, der Moral, der Kunst sind diese beiden Principien in fortdauerndem Widerstreit. So suchen in der Moral die Platoniker die höchste Sittlichkeit außerhalb der menschlichen Natur und nicht in der gesunden Entwicklung aller unserer Kräfte und in ihrem richtigen Zusammenwirken, und durch die Unterdrückung wesentlicher Triebe hoffen sie den Menschen über sich selbst zu heben. Ein Ideal nennen sie, was die Wirklichkeit nie erreichen kann, aber wonach wir immer streben sollen. Sie setzen von außen an, statt von innen heraus zu entwickeln. Aus ihrem Innern oder aus überlieferten Sätzen nehmen sie eine willkürliche Form und in diese hinein versuchen sie die organische Thätigkeit der Menschennatur zu gießen.

Hätte diese Schule nicht den mächtigen Trieb des Fortschrittes und das Streben nach einem Höheren für sich, so könnte sie sich nicht behaupten. Aber indem sie jenes Streben befriedigt, wiegt sie manches Gemüth ein und gewinnt es für sich. Dichterische und erregbare Naturen stimmen ihr am willigsten zu; vor lauter Entzücken über das, was ein Dichter aus dem Menschen macht, vergessen sie gern, was der Mensch wirklich ist. Für solche Naturen muß alle Gestalten der Dichtung ein überirdischer Glanz – aus Nebel halb und halb aus Sonnenschein – umstrahlen; die Helden müssen Halbgötter sein, an denen »selbst ein Kammerdiener« keinen Fehler entdecken kann, und die Bösewichter Teufel, für die kein menschlich Mitleid eine Rechtfertigung zu finden vermag.

Um diese Auseinandersetzung nicht zu einer Abhandlung zu erweitern, sage ich kurz: Goethe gehört zur objektiven Klasse. »Ueberall bei Goethe, sagt Franz Horn, sind wir auf festem Land oder Inseln; nirgends die unendliche See.« Eine bessere Charakteristik ist nie in einem Satze geschrieben worden. Aus jeder Seite seiner Werke tritt ein starkes Gefühl für das Wirkliche, das Concrete, das Lebendige, und ein eben so starker Widerwille gegen das Unbestimmte, das Abstrakte, das Ueberschwängliche hervor. Sein stetes Streben war, die Natur zu studiren, um sie von Angesicht zu Angesicht zu schauen und nicht durch die Nebel der Phantasie oder durch die Verzerrungen des Vorurtheils, die Menschen zu beobachten und zu erkennen, die Dinge zu begreifen, wie sie sind. In seiner Auffassung des Weltalls konnte er Gott nicht davon trennen, ihn nicht darüber oder jenseits stellen, wie die Philosophen, welche den lieben Gott das Weltall um seinen Finger wirbeln und zusehen lassen, wie es sich dreht Was wär ein Gott, der nur von außen stieße,
Im Kreis das All am Finger laufen ließe!
Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen,
So daß, was in ihm lebt und webt und ist,
Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermißt.
. Solch eine Auffassung empörte ihn. Er beseelte das Weltall mit Gott; er beseelte die Materie mit göttlichem Leben; er sah in der Wirklichkeit die Verkörperung des Ideals, in der Sittlichkeit das hohe harmonische Zusammenwirken aller menschlichen Kräfte, in der Kunst die höchste Vollendung des Lebens.

Bei einer kritisch aufmerksamen Durchsicht seiner Werke ergiebt sich, daß die concrete Richtung seines Geistes erstens die Wahl der Stoffe, zweitens die Behandlung der Charaktere, drittens seinen Stil bestimmt, und durchweg thätig tritt uns das Gesetz seines Geistes entgegen, wonach seine schöpferische Kraft sich nur in Verbindung mit selbsterlebten Empfindungen regte. Seine Einbildungskraft war nicht, wie bei vielen andern, unaufhörlich beschäftigt, Bilder zu erfinden und zu verknüpfen, die für sich selbst, ohne die Prüfung, ob sie auch den Anblick der Wirklichkeit ertrügen, Geltung hätten; seine Einbildungskraft verlangte diese Prüfung und nur auf dem sichern Boden der Wirklichkeit war sie zu Hause. Ein Beispiel aus der Wissenschaft mag diesen Unterschied deutlicher machen. In der Wissenschaft giebt es Männer, deren thätige Phantasie sie zu Hypothesen und Spekulationen fortträgt, und zwar um so leichter, als sie ihre Hypothesen nie den harten Thatsachen gegenüber stellen. Das bloße Vergnügen an dem Spiel der Gedanken genügt ihnen; sind die Schlußfolgerungen nur logisch, so liegt ihnen wenig daran, ob sie auch wahr sind. Solcher Art giebt es auch Dichter, ja die meisten Dichter sind so geartet. Bei Goethe wie bei den Männern der positiven Wissenschaft beherrschte ein übermächtiges Gefühl für die Wirklichkeit die fahrige Beweglichkeit der Phantasie.

Das ist der Grund, warum er Menschen darstellen mußte, nicht Halbgötter und Engel, – Egmonts und Klärchen, nicht Posas und Theklas. Das ist auch der Grund, warum seine Gestalten ihre Moral in sich tragen, und nicht eine »Moral zum Schluß« ihnen äußerlich angehängt ist, als Wahrspruch so zu sagen eines außerhalb der Sache stehenden Richters. Endlich – und das ist besonders hervorzuheben – endlich unterliegt auch sein Stil, beides in Poesie und Prosa, demselben Gesetze. So sehr derselbe durch Bilder belebt ist, ist er doch kaum bilderreich. Die meisten Dichter beschreiben die Dinge durch figürliche Wendungen oder Vergleichungen; Goethe sagt selten von einem Dinge, wem es gleich ist; er sagt, was es ist. In dieser Beziehung unterscheidet sich Shakespeare wesentlich von Goethe. Bei Shakespeare überwuchert die verschwenderische Fülle des Bilderreichthums die Verse oft so, daß sie ihre Bewegung hemmt. Zwar ist er gewiß auch außerordentlich concret: er sieht den wirklichen Gegenstand lebendig vor Augen und stellt ihn uns lebendig dar, aber er malt ihn nur in den Farben der Metapher und des Gleichnisses. Shakespeare's Bilderreichthum sprudelt wie ein ewiger Springquell, ja, fließt oft genug über. Nicht immer beherrscht er seinen Pegasus; er läßt den wilden Renner auch wohl der Schwingen Pracht entfalten und frei den luftigen Pfad durchmessen. Goethe dagegen beherrscht nicht nur sein Flügelroß stets und reitet es nicht nur mit ruhiger, sicherer Anmuth; er scheint auch so fest darauf gerichtet, das Ziel zu erreichen, daß er kaum an etwas anderes denkt. Um es ohne Bild zu sagen, er benutzt alle Hülfsmittel der Bildersprache mit größter Sparsamkeit und schafft Bilder von den Dingen, statt Bilder zu geben, denen die Dinge gleichen.

Shakespeare war wie Goethe ein entschiedener Realist. Auch er begnügte sich damit, daß seine Schöpfungen ihre eigene Moral in sich trugen; auch er hing ihnen keine »Moral« an und spielte nicht die Rolle eines Chors, der über den Text seiner Dichterwerke predigt. Darum können wir auch nicht aus seinen Werken seine persönlichen Ansichten ersehen Die Meinung des Verf. darf als irrig bezeichnet werden. Shakespeare's eigene Gedanken über Welt und Leben lassen sich, bei aller Objektivität seiner Dramen und bei aller Meisterschaft, mit der er die verschiedensten Charaktere in gleicher Lebenstreue gezeichnet hat, gewiß erkennen. Allerdings gehört bei ihm, dem Dramatiker, über den die Mittheilungen seiner Zeitgenossen so spärlich sind, ein mühsameres Studium dazu als bei Goethe, von dem eigene Bekenntnisse und die Zeugnisse Mitlebender so zahlreich vorliegen. Aber, wenn man auch annehmen wollte, daß, wer so lange mit dem Hamlet sich trug, vom Hamlet nichts in sich getragen habe, so ist doch der wichtige, ja entscheidende Punkt unbestreitbar, daß die bloße Zeitfolge von Shakespeare's Dramen den Abriß einer Bildungsgeschichte darstellt, in der nicht nur der Dichter und Künstler sich von Stufe zu Stufe sichtlich vollendet, sondern in gleicher Deutlichkeit auch der sittliche Mensch zu immer tieferer Weltauffassung, immer höherer Lebensweisheit sich entwickelt. Die »Moral« seiner Dramen, um diesen Ausdruck beizubehalten, ist der Kern seiner persönlichen Ansichten, an den das Verwandte sich leicht anschließt. (Anm. d. Uebers.). Aber zwischen ihm und Goethe ist doch der große Unterschied, daß seine gewaltige Neigung für die kraftvollen Leidenschaften und die wilden Triebe unseres Geschlechts ihn mit Vorliebe zu heroischen Charakteren, zu Männern härtesten Stoffes und zu heißblütigen Thaten hinzog. Mit einem Zusatz von Schiller's bestem Lebensblut wäre Goethe ein Shakespeare geworden, aber wie ihn die Natur einmal gemacht hatte, war er – kein Shakespeare.

Wenden wir uns von diesen allgemeinen Betrachtungen zu den beiden frühesten Werken Goethe's zurück, so sehen wir, daß der jugendliche Dichter bei der Wahl seiner Stoffe durch seine realistische Tendenz bestimmt wurde. Statt die Zaubergärten der Armida zu durchschweifen, statt sich in die entlegenste Vergangenheit zu werfen, statt in den verschlungenen Netzen eines modernen Stoffes sich fangen zu lassen, dramatisirt dieser Knabe von einem Dichter seine eigene Erfahrung, seine eigene Beobachtung. Er schaut in sein eigen Herz, wirft Blicke in die Abwege der Civilisation, und neugierig beobachtend durchwandert er schmutzige Straßen und dunkle, schaurige Gänge. Besonders auffallend ist dabei, daß der Anblick so vieler Verderbniß unter der Oberfläche der Gesellschaft ihn nicht zu grimmiger Entrüstung aufregt, ihm keinen Schmerzensruf abnöthigt. In der Jugend hat die Zerstörung von Illusionen gewöhnlich cynischen Menschenhaß oder heftige Anklagen gegen die Menschheit zur Folge. Goethe wurde weder cynisch noch entrüstet. Er scheint die Sache als eine Thatsache hingenommen zu haben, gegen die man zur Abhülfe ruhig ankämpfen müsse; er scheint mit dem jüngeren Plinius der Ansicht gewesen zu sein, zur Gerechtigkeit gehöre Nachsicht, und dem Lieblingssatze des strengen, aber menschlich fühlenden Thraseas: »wer die Fehler der Menschheit haßt, haßt die Menschen selbst«, hätte er gewiß selbst zugestimmt Plin. VIII, 2: qui vitia odit, homines odit. Mehrere Jahre, nachdem der Verf. die obigen Worte geschrieben hatte, veröffentlichte Schoell das Straßburger Tagebuch, worin Goethe diesen selben Satz des Plinius bespricht. Es war so recht ein Ausspruch, um ihn zu fesseln.. Denn in den »Mitschuldigen« führt er uns eine Sorte von Leuten vor, deren jeder sich damit tröstet, die andern seien nicht besser als er selbst, und wie er in späteren Jahren sagte, hat er eben dieses Stück, ohne sich dessen bewußt zu sein, von dem »höheren Gesichtspunkte einer vorsichtigen Duldung bei moralischer Zurechnung« geschrieben und jenes höchst christliche Wort darin aussprechen wollen: wer sich ohne Sünde fühlt, der hebe den ersten Stein auf.



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