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Zweites Buch.
Universitäts-Jahre.

1765 bis 1771.

In großen Städten lernen früh
Die jüngsten Knaben was;
Denn manche Bücher lesen sie
Und hören dies und das
Vom Lieben und vom Küssen,
Sie brauchen's nicht zu wissen;
Und mancher ist im zwölften Jahr
Fast klüger als sein Vater war.
Da er die Mutter nahm.

 

Oeser lehrte mich, das Ideal der
Schönheit sei Einfalt und Stille,
und daraus folgt, daß kein Jüngling
Meister werden könne.

Erster Abschnitt.
Der Leipziger Student

Goethe beginnt sein Studentenleben in Leipzig. Bekommt Logik und Juristerei satt. Sein Auftreten in der Gesellschaft. Bekanntschaft mit Frau Boehme. Literarische Gesellschaft an Herrn Schönkopf's Mittagstisch. Verliebt sich in Anna Katharina Schönkopf. Schilderung Goethe's in Horn's Briefen an Moors. »Die Laune des Verliebten.« Goethe's Werke, eine Verkörperung seiner Erlebnisse. Lustige Streiche und Tollheiten mit Behrisch. »Die Mitschuldigen«.

Im Oktober 1765, eben sechzehn Jahre alt geworden, kam Goethe nach Leipzig, um sein akademisches Leben zu beginnen und, wie er hoffte, die solide Grundlage zu einer künftigen Professur zu legen. Er nahm seine Wohnung in der Feuerkugel am Neumarkt und wurde am 19. Oktober von dem Rektor der Universität als Student in der bayrischen Nation inscribirt Bis in die Neueste Zeit gehörten alle Mitglieder dieser Universität einer der vier bei der Stiftung bestimmten Nationen an, der meißnischen, sächsischen, bayrischen und polnischen. Als Frankfurter wurde Goethe der bayrischen zugeschrieben. – Otto Jahn »Goethe's Briefe an Leipziger Freunde;« auch das Folgende beruht auf diesem Buche und anderen Mittheilungen Jahn's..

Sollte der Leser von der Schilderung der Leipziger Periode in »Wahrheit und Dichtung« eine lebhafte Erinnerung haben, so muß ich ihn bitten, dieselbe schleunigst zu verbannen; die ruhig ernste Erzählung Seiner Excellenz des Herrn Geheimen Raths von Goethe giebt ein sehr ungenaues Bild von dem wahren Treiben des naturwüchsigen wilden Studenten, der eben seinen ersten Ausflug aus dem väterlichen Hause machte, so viel Geld im Beutel hatte, daß es ihm unendlich schien, vor dem die Welt, um mit Pistol's Worten zu reden, wie eine Auster lag, die sein Genie ihm öffnen sollte. Seine eigenen Briefe und die seiner Freunde setzen uns in den Stand, in der Goethe'schen Erzählung zwischen den Zeilen zu lesen, und da lautet denn die Geschichte ganz anders.

Zuerst stellte er sich dem Hofrath Boehme vor, einem ächten deutschen Professor, der durchaus in den engen Kreis seiner Fachwissenschaft festgebannt war und Literatur und schöne Künste tief verachtete. Ganz offen theilte ihm Goethe seinen geheimen Plan mit, statt der Jurisprudenz, wie der Vater verlangte, die schönen Wissenschaften, Alterthum und Kunst zu studiren; aber der Hofrath redete ihm auf's ernstlichste ab. Es war nicht schwer, den leicht bestimmbaren Studenten zu überzeugen, daß eleganten Juristen, wie Otto und Heineccius, nachzustreben der rechte Ehrgeiz für einen tüchtigen Menschen sei. Goethe ging denn auch mit Eifer an die Arbeit, wie Studenten das gewöhnlich thun, wenn sie zuerst die Spitze der Gelehrsamkeit aufsuchen. Philosophische und juristische Vorlesungen besuchte er anfangs so emsig, daß sein Vater eine rechte Freude daran gehabt hätte. Aber dieser Anflug von Fleiß ging schnell vorüber. Gegen die Logik bekam er bald einen unüberwindlichen Widerwillen. Er hungerte nach Realitäten, Begriffe konnten ihn nicht befriedigen. Es kam ihm »wunderlich vor, daß er diejenigen Geistesoperationen, die er von Jugend auf mit der größten Bequemlichkeit verrichtet hatte, so auseinander zerren, vereinzeln und gleichsam zerstören sollte Die Ausführung dieses Textes giebt Mephisto dem Schüler.
Dann lehret man euch manchen Tag
Daß, was ihr sonst auf einen Schlag
Getrieben, wie Essen und Trinken frei,
Eins! Zwei! Drei! dazu nöthig sei.
Zwar ist's mit der Gedanken-Fabrik
Wie mit einem Weber-Meisterstück,
Wo ein Tritt tausend Fäden regt,
Die Schifflein herüber hinüber schießen,
Die Fäden ungesehen fließen,
Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt:
Der Philosoph der tritt herein,
Und beweist' euch, es müßt' so sein:
Das Erst' wär' so, das Zweite so,
Und drum das Dritt' und Vierte so;
Und wenn das Erst' und Zweit' nicht wär',
Das Dritt' und Viert' wär nimmermehr.
Das preisen die Schüler aller Orten,
Sind aber keine Weber geworden.
Wer will was Lebendig's erkennen und beschreiben,
Sucht erst den Geist heraus zu treiben,
Dann hat er die Theile in seiner Hand,
Fehlt leider! nur das geistige Band.
Encheiresin naturae nennt's die Chemie,
Spottet ihrer selbst und weiß nicht wie.
Worauf denn die Antwort des Schülers den Seelenzustand des Leipziger Studenten Goethe mit dem einen bekannten Meisterstriche malt:
Mir wird von alle dem so dumm,
Als ging' mir ein Mühlrad im Kopf herum.
(Anm. d. Uebers.)
, um den rechten Gebrauch derselben einzusehen« und etwa noch ihren wissenschaftlichen Namen zu erfahren. Von dem Dinge, von der Welt, von Gott, versichert Goethe, habe er ungefähr so viel zu wissen geglaubt, als der Lehrer selbst, und an mehr als einer Stelle schien es ihm »gewaltig zu hapern.« Mit den juristischen Collegien wurde es bald eben so schlimm; denn er wußte grade schon so viel, als der Lehrer ihm zu bieten für gut fand. Als noch dazu gegen Fastnacht in der Nähe des Hörsaals gerade um die Stunde der Vorlesung, »die köstlichsten Krapfeln heiß aus der Pfanne kamen,« so verlor, wie jeder denken kann, der sechzehnjährige Leichtsinn vollends alle Collegien aus dem Gedächtniß.

Leichtsinnig war er und wild und etwas roh, sowohl in der äußeren Erscheinung wie in seinem Dialekt. Er hatte die derberen Frankfurter Manieren, einen stark oberdeutschen Accent und provinzielle Wendungen mit nach Leipzig gebracht, die für die dortige feinere Conversation um so weniger paßten, als er sie mit biblischen Kernworten und »treuherzigen Chroniken-Ausdrücken« mischte. Ja, selbst seine Kleidung stand in einem unangenehmen Gegensatze zu der Mode, in der die sogenannte gute Gesellschaft sich trug. Seine Garderobe war recht ansehnlich, aber in erhöhtem Grade provinziell; nicht nur war sie nach Frankfurter Schnitt, sondern in diesem Schnitt von einem Bedienten des sparsamen Vaters noch besonders wunderlich gemacht. Er selbst hielt sich für recht schmuck gekleidet; bald aber enttäuschten ihn wiederholte Neckereien und ernsthafte Vorstellungen seiner Freundinnen. Um seinen Verdruß voll zu machen, trat eines Tages auf dem Theater der (damals sehr beliebte) poetische Dorfjunker in einer ähnlichen Kleidung auf und erregte in dieser seltsamen Tracht lautestes Gelächter; da war denn kein Halten, er tauschte seine sämmtliche Garderobe gegen neumodische Kleider um.

Eine Stelle aus einem Briefe, den er bereits am 20. Oktober an einen Frankfurter Freund schrieb, mag uns ein kleines Bild von den ersten Eindrücken des Leipziger Lebens geben: »Ich habe heute zwei Kollegien gehört, die Staatengeschichte bei Professor Böhmer, und bei Ernesti über Ciceron's Gespräch vom Redner. Nicht wahr, das ging an. Die andere Woche geht Collegium philosophicum et mathematicum an. – Gottscheden hab ich noch nicht gesehen. Er hat wieder geheurathet. Eine Ifr. Obristleutnantin. Ihr wißt es doch. Sie ist 19 und er 65 Jahr. Sie ist 4 Schue groß und er 7. Sie ist mager wie ein Häring und er dick wie ein Federsack. – Ich mache hier große Figur! Aber noch zur Zeit bin ich kein Stutzer. Ich werd es auch nicht. – Ich brauche Kunst um fleißig zu sein. In Gesellschaften, Concert, Komoedie, bei Gastereyen, Abendessen, Spazierfahrten so viel es um diese Zeit angeht. Ha! das geht köstlich. Aber auch köstlich kostspielig. Zum Henker das fühlt mein Beutel. Halt! rettet! haltet auf! Siehst Du sie nicht mehr fliegen? Da marschierten 2 Louisd'or. Helft! da ging eine. Himmel, schon wieder ein paar. Groschen die hier sind wie Kreuzer bei euch draußen im Reiche. Aber dennoch kann hier einer sehr wohlfeil leben. So hoffe ich des Jahrs mit 300 Rthlr., was sage ich mit 200 Rthlr. auszukommen. NB. das nicht mitgerechnet, was schon zum Henker ist.«

Von den Vorlesungen unbefriedigt, suchte er anderweitige Belehrung. An der Mittagstafel bei dem Rektor Hofrath Ludwig, wo er täglich speiste, traf er mehre junge Mediziner. Fast nur von Botanik war da die Rede und die Namen Haller, Linné und Buffon hörte er fortwährend mit Verehrung nennen. Immer bereit, auf die Interessen seiner Umgebung einzugehen, kam er so auf einmal in diese Studien hinein; aber mit so leidenschaftlichem Eifer er sie später betrieb, damals berührte er sie nur obenhin. Eine andere Quelle der Bildung wartete seiner, die er sein Leben lang dankbar anerkannte, nämlich die Gesellschaft der Frauen.

Willst du genau erfahren, was sich ziemt,
So frage nur bei edlen Frauen an –

sagt er im Tasso, und hier, in Leipzig, ließ er sich von Frau Böhme nicht nur über gesellschaftlichen Verkehr, sondern auch in den Grundsätzen des guten poetischen Geschmacks gern belehren. Diese feine, gebildete Frau verstand es, ihn in die Gesellschaft zu ziehen, ihn L'hombre und Piquet zu lehren, seine provinziellen Sitten und Ausdrücke abzuschleifen und endlich ihn zu überzeugen, daß die Dichter, die er damals bewunderte, nichts taugten, und daß seine eigenen Gedichte nichts besseres werth seien als das Feuer. Wie er seine Garderobe auf einmal ganz geopfert hatte, so sollte er nun auch den Vorrath an Gedichten preisgeben, den er so stolz von Hause mitgebracht hatte. Er sah ein, daß seine Jugendarbeiten schlechtes Zeug seien, daß seine Gedichte des wahren Lebens entbehrten, und so verbrannte er eines Tages »Poesie und Prosa, Plane, Skizzen und Entwürfe sämmtlich zugleich auf dem Küchenheerde,« und die Flamme riß sie fort in alle Winde.

Die Gesellschaft wurde bald schal für ihn. Er ward unruhig, unglücklich. Die Karten boten ihm keinen Reiz und literarische Gespräche wurden ihm lästig. »Ich habe nicht geschrieben,« berichtet er, (28. April 1766) an seinen Freund Riese. »Verzeiht es mir. Fragt nicht nach der Ursache! Die Geschäfte waren es wenigstens nicht. Ihr lebt vergnügt in Marburg, ich lebe hier eben so. Einsam, einsam, ganz einsam. Bester Riese, diese Einsamkeit hat so eine gewisse Traurigkeit in meine Seele gepräget.

Es ist mein einziges Vergnügen,
Wenn ich entfernt von jedermann
Am Bache, bei den Büschen liegen,
An meine Lieben denken kann.

»So vergnügt ich aber auch da bin, so fühle ich dennoch allen Mangel des gesellschaftlichen Lebens. Ich seufze nach meinen Freunden und meinen Mädgen, und wenn ich fühle, daß ich vergebens seufze

Da wird mein Herz vom Jammer voll,
Mein Aug' wird trüber,
Der Bach rauscht jetzt im Sturm vorüber,
Der mir vorher so sanft erscholl.
Kein Vogel singt in den Gebüschen,
Der grüne Baum verdorrt,
Der Zephir, der mich zu erfrischen
Sonst wehte, stürmt und wird zum Nord,
Und trägt entrissne Blüthen fort.
Voll Zittern flieh ich dann den Ort,
Ich flieh und such in öden Mauern
Einsames Trauern.

»Aber wie froh bin ich, ganz froh. Horn hat mich durch seine Ankunft einem Theil meiner Schwermuth entrissen. Er wundert sich daß ich so verändert bin.

Er sucht die Ursach zu ergründen,
Denkt lächelnd nach und sieht mir ins Gesicht.
Doch wie kann er die Ursach finden,
Ich weiß sie selbsten nicht.

»Euer Brief redet von … Ich muß doch ein wenig von mir selbst reden.

Ganz andre Wünsche steigen jetzt als sonst
Geliebter Freund in meiner Brust herauf.
Du weißt, wie sehr ich mich zur Dichtkunst neigte,
Wie großer Haß in meinem Busen schlug,
Mit dem ich die verfolgte, die sich nur
Dem Recht und seinem Heiligthume weihten
Und nicht der Mußen sanften Lockungen
Ein offnes Ohr und ausgestreckte Hände
Voll Sehnsucht reichten. Ach Du weißt mein Freund,
Wie sehr ich (und gewiß mit Unrecht) glaubte,
Die Muße liebte mich und gäb mir oft
Ein Lied. Es klang von meiner Leyer zwar
Manch stolzes Lied, das aber nicht die Musen,
Und nicht Apollo reichten. Zwar mein Stolz
Der glaubt es, daß so tief zu mir herab
Sich Götter niederließen, glaubte daß
Aus Meisterhänden nichts Vollkommners käme,
Als es aus meiner Hand gekommen war.
Ich fühlte nicht, daß keine Schwingen mir
Gegeben waren, um empor zu rudern,
Und auch vielleicht, mir von der Götter Hand,
Niemals gegeben werden würden. Doch
Glaubt ich, ich hab sie schon und könnte fliegen.
Allein kaum kam ich her, als schnell der Nebel
Vor meinen Augen sank, als ich den Ruhm
Der großen Männer sah, und erst vernahm,
Wie viel dazu gehörte, Ruhm verdienen.
Da sah ich erst, daß mein erhabner Flug,
Wie er mir schien, nichts war als das Bemühn
Des Wurms im Staube, der den Adler sieht
Zur Sonn sich schwingen und wie der hinauf
Sich sehnt. Er sträubt empor, und windet sich,
Und ängstlich spannt er alle Nerven an
Und bleibt am Staub. Doch schnell entsteht ein Wind,
Der hebt den Staub in Wirbeln auf. Der glaubt
Sich groß, dem Adler gleich, und jauchzet schon
Im Taumel. Doch auf einmal zieht der Wind
Den Odem ein. Es sinkt der Staub hinab,
Mit ihm der Wurm. Jetzt kriecht er wie zuvor.

»Werdet nicht über meinen Galimathias böse. Lebt wohl. – Liebt mich. Lebt wohl. Lebt wohl.«

Dieser Brief ist nicht blos wegen des Aufschlusses über Goethe's geistigen Zustand interessant, sondern die Verse, in die er sich wie von selbst ergießt, beweisen auch, daß er bei seinen Freunden schon damals für einen künftigen Dichter galt. Das Geständniß in den Schlußversen stammt offenbar aus dem Verkehr mit Frau Böhme, aber nicht jeder junge Dichter hätte sich so leicht entmuthigen lassen. Selbst Goethe's Entmuthigung dauerte nicht lange. Sein nachheriger Schwager Schlosser kam nach Leipzig und veranlaßte ihn durch Lehre und Beispiel zu erneuter Thätigkeit; er machte deutsche, französische, englische, italienische Gedichte, die er an Schlosser richtete.

Schlosser, zehn Jahre älter als er, regte ihn durch seine Überlegenheit an Kenntnissen und Gewandtheit zur Nachahmung an und war ihm daneben durch Einführung in einen Kreis literarischer Freunde förderlich. Das war eine Tischgesellschaft, die sich bei dem Weinhändler und Hauswirth Schönkopf, am Brühl Nr. 79, versammelte. Schönkopf's Frau, eine lebhafte gebildete Dame, zog durch ihre Frankfurter Beziehungen – sie stammte aus einer dortigen Patrizierfamilie – Frankfurter Reisende in ihr Haus. Bald stand Goethe mit ihr auf befreundetem Fuße, gehörte mit zur Familie und verliebte sich in die Tochter. Die deutsche Art, lange bei Tisch zu sitzen, nach Tisch bei Kaffee und Taback behaglich zu schwatzen, über Literatur und was damit zusammenhängt zu disputiren, erleichterte den Verkehr und die Anknüpfung dauernder Bekanntschaft. Der Wirth und die Wirthin führten an der Tafel den Vorsitz, während ihre reizende Tochter, nachdem sie in der Küche thätig gewesen, den Wein auftrug. Diese Tochter war Anna Catharina oder Käthchen, von Goethe in Dichtung und Wahrheit unter dem Namen Aennchen oder Annette eingeführt. Ihr noch vorhandenes Bild ist sehr hübsch. Damals war sie neunzehn Jahr alt, ein munteres verliebtes Mädchen; wie hätte sie unempfänglich sein sollen für die Liebe dieses herrlichen Jünglings mit all den Reizen seiner Schönheit? Sie sahen einander täglich, Mittags bei Tisch und Abends, wo er mit seinem stümperhaften Flötenspiel ihren Bruder zum Klavier begleitete. Auch Theater wurde in dem Freundeskreise gespielt; da hatten Goethe und Käthchen natürlich die Liebhaberrollen. Minna von Barnhelm, damals ganz neu, war unter den aufgeführten Stücken. Es ging dabei sehr einfach her; in einem Stücke spielte eine Nachtigall eine Hauptrolle; um sie darzustellen, wurde aus einem Taschentuche, so gut es eben gehen wollte, eine Vogelgestalt gedreht.

Aus dieser Zeit sind uns zwei Briefe erhalten, die von Goethe's damaligem Treiben ein so interessantes Bild geben, wie wir es in seiner eigenen Darstellung oder der eines andern Biographen vergebens suchen würden. Sie sind von seinem Freunde Horn, der in der letzten Frankfurter Zeit sein täglicher Genosse gewesen und Ostern 1766 auch nach Leipzig gekommen war; beide sind an Moors, einen gemeinsamen Frankfurter Bekannten gerichtet, der erste unterm 12. August 1766.

»Von unserem Goethe zu reden! – Das ist immer noch der stolze Phantast der er war als ich herkam. Wenn Du ihn nur sähst, Du würdest entweder vor Zorn rasend werden, oder vor Lachen bersten müssen. Ich kann gar nicht einsehen, wie sich ein Mensch so geschwind verändern kann. All seine Sitten und sein ganzes jetziges Betragen sind himmelweit von seiner vorigen Aufführung verschieden. Er ist bei seinem Stolze auch ein Stutzer, und alle seine Kleider, so schön sie auch sind, sind von so einem närrischen Gout, der ihn auf der ganzen Akademie auszeichnet. Doch dieses ist ihm alles einerlei; man mag ihm seine Thorheit vorhalten, so viel man will.

Man mag Amphion sein und Feld und Wald bezwingen,
Nur keinen Goethe nicht kann man zur Klugheit bringen.

»Sein ganzes Dichten und Trachten ist nur seiner gnädigen Fräulein und sich selbst zu gefallen. Er macht sich in allen Gesellschaften mehr lächerlich als angenehm. Er hat (blos weil es die Fräulein gern sieht) solche porte-mains und Geberden angewöhnt, bei welchen man unmöglich das Lachen enthalten kann. Einen Gang hat er angenommen, der ganz unerträglich ist. Wenn Du es nur sähest!

il marche à pas comtés,
Comme un Recteur suivi des quatre Facultés.

Sein Umgang wird mir alle Tage unerträglicher, und Er sucht auch denselbigen wo er kann zu vermeiden. Ich bin ihm zu schlecht, als daß er mit mir über die Straße gehen sollte. Was würde der König von Holland (?) sagen, wenn er ihn in dieser Positur sähe? Schreibe doch bald wieder an ihn und sage ihm Deine Meinung. Er bleibt sonst samt seiner gnädigen Fräulein närrisch. Wenn mich nur der Himmel so lange ich hier bin vor einem Mädchen bewahrt, denn das hiesige Weibervolk ist ganz des Teufels. Goethe ist nicht der erste, der seiner Dulzinea zu Gefallen ein Narr ist. Ich wünschte nur, daß Du sie ein einzigmal sähest, sie ist die abgeschmackteste Creatur von der Welt. Eine mine coquette avec un air hautain ist alles, womit sie Goethen bezaubert hat. Lieber Freund! ich wäre hier noch einmal so vergnügt, wenn nur Goethe noch so wäre wie in Frankfurth. So gute Freunde wir auch sonst waren, so vertragen wir uns jetzo kaum ¼ Stunde. Doch mit der Zeit hoffe ich ihn noch zu bekehren, ob es schon schwer ist, einen Narren klug zu machen. Doch ich will alles mögliche daran wagen.

Ach fruchtete dies mein Bemühn!
Ach könnt ich meinen Zweck erreichen,
Ich wollt nicht Luther, nicht Calvin
Noch einem der Bekehrer weichen. –

»Du kannst ihm nur alles wieder schreiben, was ich Dir hier erzählt habe. Es ist mir recht lieb, wenn Du es thust. Es ist mir weder an seinem noch an der gnädigen Fräulein Zorn etwas gelegen. Denn Er wird doch nicht so leichte bös auf mich; wann wir uns auch gezankt haben, so läßt er mich doch den andern Tag wieder zu sich rufen. – So viel von Ihm, künftig mehr – … Leb und vergiß nicht
Deinen Horn.«

Moors befolgte den Rath Horn's und drückte dem Freunde sein Erstaunen und seine Mißbilligung über die unvortheilhafte Veränderung unverhohlen und, wie es scheint, ziemlich derb aus. Im Oktober erhielt er durch Horn folgende nicht minder überraschende Aufklärung.

»– Aber lieber Moors! welche Freude wird Dir es sein, wenn ich Dir berichte, daß wir an unserm Goethe keinen Freund verloren haben, wie wir es fälschlich geglaubt. Er hatte sich verstellt, daß er nicht allein mich, sondern noch mehrere Leute betrogen, und mir niemals den Grund der Sache entdeckt haben würde, wenn Deine Briefe ihm nicht den nahen Verlust eines Freundes vorher verkündigt hätten. Ich muß Dir die ganze Sache, wie er sie mir selbst erzählt hat, erzählen, denn er hat es mir aufgetragen, um ihm die Mühe die es ihm machen würde, zu ersparen. – Er liebt, es ist wahr, er hat es mir bekannt und wird es auch Dir bekennen; allein seine Liebe, ob sie gleich immer traurig ist, ist dennoch nicht strafbar, wie ich es sonst geglaubt. Er liebt. Allein nicht jene Fräulein mit der ich ihn in Verdacht hatte. Er liebt ein Mädchen das unter seinem Stand ist, aber ein Mädchen das – ich glaube nicht zu viel zu sagen – das Du selbst lieben würdest, wenn Du es sähest. Ich bin kein Liebhaber und also werd ich ganz ohne Leidenschaft schreiben. Denke Dir ein Frauenzimmer, wohlgewachsen, obgleich nicht sehr groß, ein rundes, freundliches, obgleich nicht außerordentlich schönes Gesicht, eine offene sanfte einnehmende Miene, viele Freimüthigkeit ohne Coquetterie, einen sehr artigen Verstand ohne die größte Erziehung gehabt zu haben. Er liebt sie sehr zärtlich, mit den vollkommenen redlichen Absichten eines tugendhaften Menschen, ob er gleich weiß, daß sie nie seine Frau werden kann. Ob sie ihn wiederliebt, weiß ich nicht. Du weißt lieber Moors! das ist so eine Sache nach der sich nicht gut fragen läßt, so viel aber kann ich Dir sagen, daß sie für einander geboren zu sein scheinen. Merke nun seine List! Damit Niemand ihn wegen einer solchen Liebe im Verdacht haben mögte, nimmt er vor, die Welt grad das Gegentheil zu bereden, welches ihm bisher außerordentlich geglückt ist. Er macht Staat und scheint einer gewissen Fräulein, von der ich Dir erzählt habe, die Cur zu machen. Er kann zu gewissen Zeiten seine Geliebte sehen und sprechen, ohne daß jemand deswegen den geringsten Argwohn schöpft, und ich begleite ihn manchmal zu ihr. Wenn Goethe nicht mein Freund wäre, ich verliebte mich selbst in sie. Mittlerweile hält man ihn nun in Fräulein (der Name ist wieder ausgestrichen) – doch was brauchst Du ihren Namen zu wissen, verliebt und man vexirt ihn wohl gern in Gesellschaft deswegen. Vielleicht glaubt sie selbst, daß er sie liebt, aber die gute Fräulein betrügt sich. Er hat mich seit der Zeit einer näheren Vertrautheit gewürdigt, mir seine Oekonomie entdeckt und gezeigt, daß der Aufwand, den er macht, nicht so groß ist wie man glauben sollte. Er ist mehr Philosoph und mehr Moralist als jemals und so unschuldig seine Liebe ist, so mißbilligt er sie dennoch. Wir streiten sehr oft darüber, aber er mag eine Parthey nehmen, welche er will, so gewinnt er; denn Du weißt, was er auch nur scheinbaren Gründen für ein Gewicht geben kann. Ich bedaure ihn und sein gutes Herz, das wirklich in einem sehr mißlichen Zustande sich befinden muß, da er das tugendhafteste und vollkommenste Mädchen ohne Hoffnung liebt. Und wenn wir annehmen, daß sie ihn wiederliebt, wie elend muß er da erst sein. Ich brauche Dir das nicht zu erklären, da Du das menschliche Herz so gut kennst. Genug von dieser Sache. Er wird noch eines oder das andere davon an Dich selbst schreiben, wie er mir gesagt hat. Ich habe nicht nöthig Dir das Stillschweigen hierbei zu empfehlen, da Du selbst siehest, wie nöthig es ist …«

Einen so phantastischen Jüngling nun, wie hier Goethe geschildert ist, denke man sich in dem sichern Gefühle, daß seine Liebe erwidert werde, und man wird es begreiflich finden, daß er in jugendlich übermüthiger Laune sich darin gefiel, die Geliebte zu quälen. Niemand ist grausamer als die Jugend, und sobald verliebte junge Leute sich ihres Sieges gewiß fühlen, sind sie nur zu geneigt, unter den nichtigsten Vorwänden in ausgesuchter Quälerei sich zu ergehen.

»Erringen will der Mensch; er will nicht sicher sein,« sagt Goethe in dem Stücke, worin er diesen Liebeshandel dramatisirt hat. Hätte Käthchen mit ihm coquettirt, ihn in der schlimmen Pein der Ungewißheit gehalten, dann wäre sie mit ihm glücklicher dran gewesen, aber wie er in dem Gedichte »der wahre Genuß« sagt:

Sie ist vollkommen und sie fehlet
Darin allein daß sie mich liebt.

Er ärgerte sie mit willkürlichen und tyrannischen Grillen, und durch ungegründete und geschmacklose Eifersüchteleien verdarb er ihr und sich die schönsten Tage; endlich war ihre Geduld erschöpft, ihre Liebe in den Thränen ihres Kummers untergegangen. Nun bereute er und bemühte sich, das Kleinod wieder zu erlangen, das er wie ein Verschwender weggeworfen hatte. Vergebens. Er gerieth in Verzweiflung und, um seinen Schmerz zu vergessen, suchte er die wildeste Zerstreuung und stürmte in unsinniger Weise auf seine physische Natur ein. Als ein besseres Heilmittel erwies sich sein dichterisches Talent. Außer einigen lyrischen Gedichten, in denen dieselbe Empfindung anklingt, ist ein ganzes Schäferspiel der poetischen Darstellung dieser Liebeshändel gewidmet; es heißt: »die Laune des Verliebten.« Als die erste uns erhaltene dramatische Arbeit des großen Dichters und zugleich als das erste Zeugniß für die Richtung, Selbsterlebtes dichterisch zu gestalten, ist dieses kleine Stück sehr interessant. In dem Singspiel »Erwin und Elmire« hat er später einen ähnlichen Gegenstand in sehr verschiedener Weise behandelt, aber der erste Versuch ist interessanter als dieser spätere. »Die Laune des Verliebten« ist ganz in der Art jener Schäferspiele geschrieben, die den zärtlichen und fast lüsternen italienischen Stücken, Tasso's Aminta und Guarini's Pastor fido ihren Ursprung verdankten und durch die Franzosen über ganz Europa verbreitet waren.

Zwei glückliche und zwei unglückliche Liebende sind einander etwas künstlich gegenübergestellt; unter den beiden letzteren sind Käthchen und der Dichter gemeint. Handlung ist in dem Stücke nicht; es wird von Liebe geschwatzt, die ächte Treue in einigen glücklichen Versen gepriesen und auch in das verschlungene Getriebe der Leidenschaft fällt hie und da ein Blick. Eridon, der eifersüchtige Liebende, quält seine Geliebte auf eine Weise, die zugleich launisch und doch natürlich ist; mit bewundernswürdiger Wahrheit beklagt die Geliebte und – entschuldigt seine Eifersucht:

Zwar oft betrübt er mich, doch rührt ihn auch mein Schmerz.
Wirst er mir etwas vor, fängt er mich an zu plagen,
So darf ich nur ein Wort, ein gutes Wort nur sagen,
Gleich ist er umgekehrt, die wilde Zanksucht flieht,
Er weint sogar mit mir wenn er mich weinen sieht.

Und an einer andern Stelle heißt es treffend und charakteristisch:

Da er kein Elend hat, will er sich Elend machen.

Amine, die Geliebte Eridon's, ist ebenfalls mit feinen Zügen gezeichnet. Ihre liebevolle, vergebende, geduldige Natur ist aus dem Leben gegriffen. Die beiden folgenden Verse, die sie spricht, athmen die reine Zärtlichkeit der Liebe:

Der Liebe leichtes Band machst Du zum schweren Joch;
Du quälst mich als Tyrann; und ich? ich lieb Dich noch.

Eine Zeile noch und es mag genug sein: Egle, die glückliche Geliebte, beweist dem Eridon, Amina's Neigung zum Tanze thue ihrer Liebe zu ihm keinen Eintrag, da nach dem Tanze ihr erster Gedanke sein werde, ihn zu suchen –

Und durch das Suchen selbst wirst Du ihr immer lieber.

In solchen Zügen, wie diese, zeigt sich der künftige Dichter. Aber mehr noch in der Wahl seines Gegenstandes. Hier wie immer in seinem Leben, betrügt er sich nicht damit, erheuchelte Leiden in heuchelnde Verse auszuströmen; nur was er erlebt hat, legt er in seinen Versen nieder. Er läßt sich nicht darauf ein, aus »Büchern und Papier« Charaktere und Ereignisse zu nehmen; seine Seele ist der Quell seiner Dichtung. Er singt, was er selbst empfunden und weil er es selbst empfunden, nicht weil andere vor ihm gesungen. Nicht ein Echo fremder Freuden und Leiden sind seine Lieder; sie singen von eigenem Glück und Gram. Das ist der Grund, weßhalb sie einen so unvergänglichen Reiz haben; sie gehen zu Herzen, weil sie von Herzen kommen; sie sind ewig wie die Leidenschaft selbst.

Alle seine Schriften, hat er nachdrücklichst gesagt, »sind nur Bruchstücke einer großen Confession,« und es gilt von ihm, was Horaz so schön von dem Dichter Lucilius sagt:

Gleich als treuen Genossen vertraut' einst dieser den Schriften
Herzensgeheimnisse an. Niemals, ob ihm Schlimmes begegnet,
Wandt' er sich anders wohin, ob Erfreuliches; also daß hierin
Völlig das Leben des Greises enthüllt wie ein Weihegemälde
Vor uns liegt
.

Daß jede andere Art der Production nichtig und leer sei, davon hatte er die klarste Einsicht. Aus den vielen Stellen in Gesprächen und Briefen, in denen er das ausgesprochen, mag hier ein charakteristisches Wort stehen, welches Riemer aufbewahrt hat. »Es wird, so scherzte Goethe im Jahre 1806, bald Poesie ohne Poesie geben, eine wahre ποίησις, wo die Gegenstände ἐν ποιήσει, in der Mache sind, eine gemachte Poesie. Die Dichter heißen dann so, wie schon Moritz spaßte, a spissando, densando, vom Dichtmachen, weil sie alles zusammendrängen, und kommen mir vor wie eine Art Wurstmacher, die in den Darm des Hexameters oder Trimeters ihre Wort- und Silbenfülle stopfen.« Für ihn begann schon in Leipzig die entgegengesetzte Richtung, von der er dann sein ganzes Leben nicht abweichen konnte, »nämlich dasjenige, was ihn erfreute oder quälte oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit sich selbst abzuschließen, um sowohl seine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen, als sich im Innern deßhalb zu beruhigen.« Er giebt auch für diese Richtung einen besondern Grund an; er meint, bei der großen Beschränktheit seines Zustandes, bei dem Mangel an Belehrung durch Professoren oder Universitätsfreunde oder sonstigen gebildeten Verkehr, sei er genöthigt gewesen, alles in sich selbst zu suchen, wenn er für seine Gedichte eine wahre Unterlage haben wollte. Dieser Grund aber ist sehr bedenklich. Hätte nicht sein Genius ihm diese Bahn angewiesen, die Verhältnisse hätten ihn nicht des Weges geleitet.

Jung, vorwitzig und leidenschaftlich wie er war, verstieß er natürlich oft mit wilden ausgelassenen Streichen gegen die Regeln der bürgerlichen Sitte. Sein Gefährte dabei war Behrisch, jener seltsame Kauz, den er in Dichtung und Wahrheit mit so liebevoller Genauigkeit schildert, ein Mann von sarkastischem Witz, der sich um Gott und die Welt nicht kümmerte, und der als feste Unterlage für alle seine Thorheiten einen tüchtigen gesunden Menschenverstand besaß. Durch ihn wurde Goethe mit einigen jungen Damen bekannt, die besser waren als ihr Ruf, und auch in andere Beziehungen eingeführt, die mehr für den künftigen Dichter als für den guten Namen des jungen Studenten förderlich waren. Auch aus seinen literarischen Geschmack wirkte Behrisch ein; er verleidete ihm durch Spott alle Neigung, Götter, Göttinnen und die sonstigen hohlen Scheingestalten aus der Mythologie noch länger seine Verse verunstalten zu lassen; er ließ ihn mit seinem Dichten gewähren, aber nur unter der Bedingung, daß er nichts drucken lasse, und beschwichtigte das ungeduldige Verlangen des jungen Autors, sich gedruckt zu sehen, dadurch, daß er selbst seine Gedichte auf das zierlichste abschrieb und mit Vignetten ausschmückte. Behrisch war, so zu sagen, der Vorläufer Merck's; sein Einfluß war zwar nicht so groß, aber ungefähr in derselben Richtung.

Goethe's Freunde waren sehr unzufrieden, ihn aus der guten Gesellschaft in so bedenkliche Verbindungen treten zu sehen; aber ebenso wie vor ihm Lessing über den witzigen Köpfen und armen Teufeln die »feinere Welt« von Leipzig vernachlässigt und aller modischen Eleganz der guten Gesellschaft den lockern Dichter Mylius mit seinen Schuhen ohne Absätze vorgezogen hatte, ebenso vernachlässigte auch der junge Goethe die Salons der Gesellschaft und die Hörsäle der Professoren über dem bunten Treiben in weniger feinen Kreisen. Aber ängstige dich nicht, lieber Leser! Dem Dichter widerfährt dabei nichts Leides; er sammelt Erfahrung, und Erfahrung selbst über die Schattenseiten der Menschennatur wird zu edlen Zwecken sich abklären; nutzt doch der weise Landwirth selbst das Aas von Thieren zu nährend fruchtbarem Dünger. In dem großen Drang dieses Lebens hat jedes Theater seine Coulissen, und wenn der Dichter nicht weiß, wie es hinter den Coulissen aussieht, wird er auch Sprache und Aktion der Schauspieler niemals verstehen lernen.

Es war natürlich, daß solche bittere Erfahrung ihn zunächst verleitete, auf die ganze gesellschaftliche Maschine mit Verachtung hinzublicken. Um sich Luft zu schaffen, entwarf er, nach dem Muster der damals von ihm sehr verehrten Molière'schen Stücke, den Plan zu mehren Schauspielen, aber die Verwicklungen waren sämmtlich so ängstigend und die Stücke endeten so tragisch, daß er die Ausarbeitung unterließ. »Die Mitschuldigen« sind das einzig fertig gewordene Stück; es steht noch jetzt unter seinen Werken, aber nur selten wird es gelesen. Doch verdient es eine rasche Prüfung und als die Arbeit eines noch nicht achtzehnjährigen Jünglings ist es sehr beachtenswerth. Es ist voll Leben, stark an wirkungsvollen Situationen, und von den Charakteren sind zwei recht glücklich gezeichnet: der schuftige Söller und sein Schwiegervater, der neugierige Wirth. Der Inhalt des Stücks ist dieser: Söller's Frau hat vor der Ehe einen gewissen Alcest geliebt, und das Benehmen ihres Ehemanns gegen sie ist nicht gerade der Art, um sie den früheren Geliebten vergessen zu machen, der, beim Beginn des Stücks, in ihres Vaters Gasthof wohnt. Alcest verlangt von ihr die Einwilligung zu einer Zusammenkunft in seinem eigenen Zimmer, während Söller auf dem Maskenball ist. Unglücklicherweise hat Söller den Entschluß gefaßt, gerade in derselben Nacht den Alcest zu bestehlen. Heimlich betritt er das Zimmer, öffnet den Schreibtisch, nimmt das Geld, – da erschreckt ihn ein Geräusch, er verbirgt sich im Alkoven und sieht seinen Schwiegervater in das Zimmer treten. Der alte Mann brennt vor Neugierde, den Inhalt eines Briefes zu erfahren, den Alcest am Tage vorher erhalten hat; er will ihn jetzt heimlich lesen. Aber er wird wiederum durch seine Tochter unterbrochen; er läßt das Licht fallen und entflieht. Nun muß Söller mit verhaltenem Grimm Zeuge der freundschaftlichen Zusammenkunft seiner Frau mit Alcest sein – eine Situation, die, wie das ganze Stück, halb lächerlich, halb verletzend, sehr dramatisch zwar, aber sehr widerwärtig ist. Am Morgen darauf wird der Diebstahl entdeckt; Sophie hält ihren Vater für den Dieb; er giebt ihr das Compliment zurück, ja von seiner Neugier getrieben, geht er so weit, daß er, für die Erlaubniß den geheimnißvollen Brief lesen zu dürfen, dem Alcest seinen Verdacht mittheilt. Daß ein Vater einer erbärmlichen Neugier so die eigene Tochter zum Opfer bringt – das ist zu stark; in dem sonst von großer Reife zeugenden Stücke ist dies der einzige Zug, der die Jugendlichkeit des Verfassers verräth. Empört über eine solche Beschuldigung, wirft Sophie die Anklage auf ihren Vater zurück; es kommt zu sehr unangenehmen Zänkereien, bis endlich Söller durch die Andeutung, daß er die nächtliche Zusammenkunft mit angehört, sich selbst verräth und zugleich vor Bestrafung schützt. Die Moral ist: Mitschuldige müssen einander vergeben und vergessen!



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