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Vierter Abschnitt.
Vorbereitungen zum Werther

Goethe befragt das Schicksal, ob er Künstler werden solle. Maximiliane von Laroche. Ausflug mit Merck. Studien in Frankfurt. Umarbeitung des Götz; Veröffentlichung; Erfolg. Unruhe und Schwärmerei des Zeitalters. Briefe an Kestner und Lotte. Goethe spielt mit dem Selbstmord. Jerusalem's Selbstmord. Geistiger Zustand Goethe's. Lotte's und Kestner's Hochzeit. Cornelia verheirathet sich. Goethe trägt sich mit einem Drama über Mohamed. Maximiliane Laroche heirathet Brentano. Gefährliche Vertraulichkeit. »Götter, Helden und Wieland.« Erste Bekanntschaft mit Karl August von Weimar. Goethe schreibt den Werther.

Nun ging es zu Fuß die Lahn hinunter nach Koblenz, wo er Merck bei Frau von Laroche treffen wollte. Die schönen Ufer des Flusses entzückten sein Auge und halfen ihm über die Trauer hinweg, die er bei dem Ende seines Liebesromans fühlte. Die bebuschten Felsen, die feuchten Gründe, die thronenden Schlösser forderten seinen Pinsel heraus; die alte Sehnsucht, ein Maler zu werden, die ihn sein Leben lang verfolgte, stieg in ihm auf. Es ist eine psychologische Merkwürdigkeit, daß eine solche Sehnsucht, während sie sonst gewöhnlich ein angebornes Talent voraussetzt, bei Goethe ohne jedes Talent so lange sich hielt. Jetzt wurde sie so mächtig, daß er die Frage, ob er zum Maler bestimmt sei oder nicht, ein für alle Mal zu entscheiden beschloß. Die Probe dafür war seltsam genug. Unter ihm zur Linken glitt der Fluß, hier von reichem Weidengebüsch verdeckt, dort im Sonnenlichte blinkend dahin; eine innere Stimme, meint er, gebot ihm, ein Taschenmesser, welches er in der linken Hand hielt, in den Fluß zu schleudern: sähe er es hineinfallen, so würde sein künstlerischer Wunsch erfüllt werden; würde aber das Eintauchen des Messers durch die überhängenden Weidenbüsche verdeckt, so solle er die Hoffnung aufgeben. Die Antwort, die er nun aus seine Frage an das Schicksal erhielt, war so zweideutig, wie nur je ein Orakelspruch des Alterthums: die Weidenzweige verdeckten ihm das Einsinken des Messers, aber das dem Sturz entgegenwirkende Wasser sprang wie eine Fontaine in die Höhe und war ihm vollkommen sichtbar. So blieb er auch hinfort in Zweifel.

Nach einer angenehmen Wanderung fuhr er von Ems im Nachen den Fluß hinab. Nun eröffnete sich ihm der alte Rhein; die schöne Lage von Oberlahnstein entzückte ihn; Schloß Ehrenbreitstein fand er vor allem herrlich und majestätisch. Von der edlen Familie des Geheimraths von Laroche, wo ihn Merck angekündigt hatte, wurde er sehr freundlich empfangen und bald als ein Glied derselben betrachtet. Mit der Mutter verband ihn sein belletristisches und sentimentales Streben, mit dem Vater ein heiterer Weltsinn, mit den Töchtern Jugend und Poesie. Frau von Laroche, Wieland's erste Liebe, hatte in Richardsons Manier einen Roman, »Geschichte des Fräuleins von Sternheim,« geschrieben, und wie Schäfer vermuthet, versammelte sie nun Merck, Goethe und andere Kritiker in ihrem Hause, um diesen Roman günstig besprochen zu sehen; bei Goethe erreichte sie ihren Zweck: die Recension in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen ist von ihm. Ob er diese Gefälligkeit der Mutter zu Liebe erwies, oder ob ihn die Reize ihrer ältesten Tochter Maximiliane dazu bewogen, darüber schweigt die Geschichte; sicher aber ist, daß die schwarzen Augen der Tochter in dem Herzen des jungen Recensenten heftig zündeten. Sie ist das Fräulein B. im Werther; noch mehr aber interessirt sie uns als die künftige Mutter von Bettina. Goethe scheint mit ihr geliebelt zu haben, als hätte er keine Lotte in Wetzlar verlassen. Wer die bewegliche Natur unseres Dichters kennt, den überrascht das wohl nicht. Für Augenblicke fühlt er sich elend, aber überströmende Lebenskraft, siegreiche Willensstärke und Empfänglichkeit für neue Eindrücke bewahren seine immerthätige Natur vor dem Trübsinn, an dem Werther zu Grunde geht. Er läßt nicht immer den Kopf hangen, weil Lotte einem andern gehört, und allen neuen Eindrücken, ernsten wie heiteren, ist er offen. So sehen wir ihn in »Pater Brey« und »Satyros« mit Witz und Spott, dergleichen man in der Wertherzeit nicht von ihm erwarten sollte, um sich werfen und in bester Stimmung den Rhein hinauf mit Merck und seiner Familie an der ganzen Pracht dieser Gegenden sich freuen, an Rheinfels, St. Goar und Bacharach vorbei bis Bingen und Bieberich hinauf »der unendlich mannigfaltigen Gegenstände, die bei dem herrlichsten Wetter jede Stunde an Schönheit zuzunehmen und sowohl an Größe als an Gefälligkeit immer neu zu wechseln schienen, mit Muße genießen« und in fleißigem Müssiggang zeichnen, als wäre das Leben ein Sommertag ohne Arbeit.

Nach Frankfurt zurückgekehrt, beschäftigte er sich mit der Rechtspraxis, Literatur und Malerei. Herumziehende Italiener brachten Gypsabgüsse antiker Köpfe auf die Frankfurter Messe und mit freudigem Eifer kaufte er sich von ihnen ein kleines Museum, um so den großen Eindruck, den er in Mannheim gewonnen, möglichst wieder zu beleben. Sein durch die Natur geschärfter Blick warf sich ganz wieder auf die Kunstbeschauung; die Natur in der Kunst zu sehen ward bei ihm zu fast wahnsinniger Leidenschaft, und seine volle Neigung wandte er damals den Niederländern zu. Er malte auch einige einfache Stillleben; eins davon erwähnt er mit Stolz, und – sollte man es glauben? – es war ein Messerstiel von Schildpatt mit Silber eingelegt! Den Götz fertig in der Tasche und hat seine Freude daran, einen Messerstiel zu malen!

Den Rechtsgeschäften widmete er sich mit größerem Eifer als früher. Sein Vater liebte es, die Akten mit ihm durchzugehen, freute sich höchlich über diesen ehrsamen Fleiß und bewies dafür volle Nachsicht gegen alles, was »dieser singulare Mensch,« wie er ihn mit Recht nannte, sonst trieb. Daneben hatte Goethe zahlreiche schriftstellerische Pläne, und die Frankfurter Gelehrten Anzeigen gaben ihm fortwährend Gelegenheit, sich über literarische, theologische und selbst politische Fragen auszusprechen. In einem dieser Aufsätze findet sich eine sehr bezeichnende Stelle; es handelt sich um die Klage, die Deutschen hätten kein Vaterland, keine Vaterlandsliebe; dazu meint der junge Goethe: »Wenn wir einen Platz in der Welt finden, da mit unsern Besitzthümern zu ruhen; ein Feld, uns zu nähren; ein Haus, uns zu decken: haben wir da nicht Vaterland? und haben das nicht Tausende und Tausende in jedem Staat? Und leben sie nicht in dieser Beschränkung glücklich? Wozu nun das vergebene Aufstreben nach einer Empfindung, die wir weder haben können noch mögen, die bei gewissen Völkern, nur zu gewissen Zeitpunkten, das Resultat vieler glücklich zusammentreffenden Umstände war und ist? Römerpatriotismus! davor bewahre uns Gott, wie vor einer Riesengestalt! Wir würden keinen Stuhl finden, darauf zu sitzen; kein Bett, d'rin zu liegen!« Sein Leben lang, scheint es, führte ihn diese Sophisterei irre; hier erwähnen wir sie als einen Charakterzug für die Zeit seiner jugendlichen Entwicklung, eine Zeit, vergesse man nicht, in der sein Patriotismus, wenn je, glühend gewesen sein muß; denn damals arbeitete er ja den Götz von Berlichingen um. Bei sorgfältiger Durchsicht des Manuskripts fand er, daß er nicht nur gegen die Einheit der Zeit und des Orts, sondern auch gegen die höhere Einheit der Composition gefehlt hatte Lassen wir ihn selbst sprechen:

»Da ich mich ohne Plan und Entwurf, bloß der Einbildungskraft und einem innern Triebe überließ, so war ich von vorn herein ziemlich bei der Klinge geblieben, und die ersten Akte konnten für das was sie sein sollten, gar füglich gelten; in den folgenden aber, und besonders gegen das Ende, riß mich eine wundersame Leidenschaft unbewußt hin. Ich hatte mich, indem ich Adelheid liebenswürdig zu schildern trachtete, selbst in sie verliebt, unwillkürlich war meine Feder nur ihr gewidmet, das Interesse an ihrem Schicksal nahm überhand, und wie ohnehin gegen das Ende Götz außer Thätigkeit gesetzt ist, und dann nur zu einer unglücklichen Theilnahme am Bauernkriege zurückkehrt, so war nichts natürlicher, als daß eine reizende Frau ihn bei dem Autor ausstach, der, die Kunstfesseln abschüttelnd, in einem neuen Felde sich zu versuchen dachte. Diesen Mangel, oder vielmehr diesen tadelhaften Ueberfluß, erkannte ich gar bald, da die Natur meiner Poesie mich immer zur Einheit hindrängte. Ich hegte nun, anstatt der Lebensbeschreibung Götzens und der deutschen Alterthümer, mein eignes Werk im Sinne, und suchte ihm immer mehr historischen und nationalen Gehalt zu geben und das, was daran fabelhaft oder blos leidenschaftlich war, auszulöschen; wobei ich freilich manches aufopferte, indem die menschliche Neigung der künstlerischen Ueberzeugung weichen mußte. So hatte ich mir z. B. etwas Rechtes zu gute gethan, indem ich in einer grauserlich nächtlichen Zigeunerscene Adelheid auftreten und ihre schöne Gegenwart Wunder thun ließ. Eine nähere Prüfung verbannte sie, so wie auch der im vierten und fünften Akte umständlich ausgeführte Liebeshandel zwischen Franzen und seiner gnädigen Frau sich ins Enge zog und nur in seinen Hauptmomenten hervorleuchten durfte.

»Ohne also an dem ersten Manuskript irgend etwas zu verändern, welches ich wirklich noch in seiner Urgestalt besitze, nahm ich mir vor, das Ganze umzuschreiben, und leistete dies auch mit solcher Thätigkeit, daß in wenigen Wochen ein ganz erneutes Stück vor mir lag. Ich ging damit um so rascher zu Werke, je weniger ich die Absicht hatte, diese zweite Bearbeitung jemals drucken zu lassen, sondern sie gleichfalls nur als Vorübung ansah, die ich künftig, bei einer mit mehrerem Fleiß und Ueberlegung anzustellenden neuen Behandlung, abermals zu Grunde legen wollte.

»Als ich nun mancherlei Vorschläge, wie ich dies anzufangen gedächte, Mercken vorzutragen anfing, spottete er mein und fragte, was denn das ewige Arbeiten und Umarbeiten heißen solle? Die Sache werde dadurch nur anders und selten besser; man müsse sehn, was das eine für Wirkung thue, und dann immer wieder was Neues unternehmen. – »Bei Zeit auf die Zäun', so trocknen die Windeln!« rief er sprüchwörtlich aus; das Säumen und Zaudern mache nur unsichere Menschen. Ich erwiederte ihm dagegen, daß es mir unangenehm sein würde, eine Arbeit, an die ich so viele Neigung verwendet, einem Buchhändler anzubieten und mir vielleicht gar eine abschlägliche Antwort zu holen: denn wie sollten sie einen jungen, namenlosen und noch dazu verwegenen Schriftsteller beurtheilen? Schon meine Mitschuldigen, auf die ich etwas hielt, hätte ich, als meine Scheu vor der Presse nach und nach verschwand, gern gedruckt gesehn; allein ich fand keinen geneigten Verleger.

»Hier ward nun meines Freundes technisch merkantilische Lust auf einmal rege. Durch die Frankfurter Zeitung hatte er sich schon mit Gelehrten und Buchhändlern in Verbindung gesetzt, wir sollten daher, wie er meinte, dieses seltsame und gewiß auffallende Werk auf eigene Kosten herausgeben, und es werde davon ein guter Vortheil zu ziehen sein; wie er denn, mit so vielen andern, öfters den Buchhändlern ihren Gewinn nachzurechnen pflegte, der bei manchen Werken freilich groß war, besonders wenn man außer Acht ließ, wie viel wieder an anderen Schriften und durch sonstige Handelsverhältnisse verloren geht. Genug, es ward ausgemacht, daß ich das Papier anschaffen, er aber für den Druck sorgen solle; und somit ging es frisch ans Werk, und mir gefiel es gar nicht übel, meine wilde dramatische Skizze nach und nach in saubern Aushängebogen zu sehen: sie nahm sich wirklich reinlicher aus, als ich selbst gedacht. Wir vollendeten das Werk, und es ward in vielen Paketen versendet. Nun dauerte es nicht lange, so entstand überall eine große Bewegung; das Aufsehen, das es machte, ward allgemein. Weil wir aber, bei unsern beschränkten Verhältnissen, die Exemplare nicht schnell genug nach allen Orten zu vertheilen vermochten, so erschien plötzlich ein Nachdruck; und da überdies gegen unsere Aussendungen freilich sobald keine Erstattung, am allerwenigsten eine baare, zurückerfolgen konnte: so war ich, als Haussohn, dessen Kasse nicht in reichlichen Umständen sein konnte, zu einer Zeit wo man mir von allen Seiten her viel Aufmerksamkeit, ja sogar vielen Beifall erwies, höchst verlegen, wie ich nur das Papier bezahlen sollte, auf welchem ich die Welt mit meinem Talent bekannt gemacht hatte. Merck, der sich schon eher zu helfen wußte, hegte dagegen die besten Hoffnungen, daß sich nächstens alles wieder in's Gleiche stellen würde; ich bin aber nichts davon gewahr worden.«

In dem Vorstehenden sind einige kleine Ungenauigkeiten, deren Berichtigung sich aus einem Vergleich der ersten und zweiten Bearbeitung ergiebt. Die Abänderungen, die er vornahm, sind sehr unbedeutend und bestehen hauptsächlich in der Weglassung der beiden Scenen, in denen Adelheid eine sehr hervorragende Rolle spielt. Merck's thätiger Theilnahme in dieser Sache stellt Goethe in seiner Lebensbeschreibung die Unfreundlichkeit und Härte gegenüber, mit der Herder den Götz aufgenommen habe. Das ist einer von den vielen Gedächtnißfehlern, die ihn bei Wahrheit und Dichtung überkommen sind: Herder hatte große Freude am Götz. In den Briefen an seine Braut nennt er das Stück »eine wirklich schöne Produktion,« bittet den Verfasser des »braven Berlichingen recht sehr zu grüßen« und verheißt ihr im Voraus »einige himmlische Freudenstunden,« da »ungemein viel deutsche Stärke, Tiefe und Wahrheit« darin sei. Gegen Goethe selbst mag er sich wohl etwas kritischer geäußert haben, doch muß es so gar arg nicht gewesen sein; wenigstens schreibt ihm dieser in seiner Erwiederung (Juli 1772): »Von Berlichingen ein Wort. Euer Brief war Trostschreiben; ich setze ihn weiter schon herunter als Ihr. Die Definitiv, daß mich Shakespeare ganz verdorben u. s. w. erkannt' ich gleich in ihrer ganzen Stärke; genug es muß eingeschmolzen, von Schlacken gereinigt, umgegossen werden. Dann soll's wieder vor Euch erscheinen.« Es scheint also daß die Ausstellungen, die Herder machte, tiefer in Goethe's Gedächtniß hafteten als das Lob. Auch sonst stellt er in der Lebensbeschreibung den Erfolg seines Götz beim ersten Erscheinen viel zu niedrig. Wie Stahr in seiner Schrift über Merck nachgewiesen hat, wurde das Stück mit fast allgemeinem Beifall aufgenommen und fand selbst die Zustimmung der Kritiker, deren Geschmack solche regellose Werke sonst am wenigsten zusagten. Beim Publikum war die Wirkung im Augenblick entschieden und höchst gewaltig. Der kühne Ausdruck des Geistes der Freiheit, die Opposition gegen das französische Wesen und die Originalität nicht weniger als die Kraft der Sprache bereiteten ihm einen Triumph durch ganz Deutschland. In allen Salons und allen Bierstuben galt es für ein Meisterstück; mit erstaunlicher Schnelligkeit folgte eine Nachahmung der andern, die Bücherschränke seufzten unter der Last mittelalterlicher Versuche und die Bühne erklang von Ritterthum.

Von dem Eindruck des Götz in der buchhändlerischen Geschäftswelt erzählt Goethe eine lustige Geschichte. Ein Buchhändler besuchte ihn und bat sich, augenscheinlich von dem Werthe seiner Idee tief durchdrungen, ein Dutzend solcher Stücke aus; er wolle sie auch gut honoriren. Sein Anerbieten war um so großmüthiger, als bei dem damaligen Stande des Buchhandels der Götz trotz alles Erfolges dem Dichter kein Geld einbrachte, indem überall Nachdrücke verbreitet wurden und ihm den Lohn seiner Arbeit entzogen. Auch entsprach der Vorschlag jenes Buchhändlers durchaus der Erwartung, die das Publikum hegte. Thörichtes Publikum! Hat ein Schriftsteller einmal in einer Richtung Erfolg erlangt, so muß er in der Richtung bleiben oder er setzt seinen Ruhm auf's Spiel; die Meinung über ihn steht einmal fest, er ist klassificirt, und das Publikum will sich seine Linien nicht stören lassen. Und wiederum, wenn der Schriftsteller sich wiederholt, dann ereifert sich dieses unvernünftige Publikum über die Dürftigkeit seiner Erfindung. Niemand hat sich je weniger wiederholt als Goethe; seine Art war es nicht, eine Statue zu schaffen und dann in verschiedenen Stoffen Abgüsse davon zu nehmen. Er lebte, dachte, litt, und weil er gelebt, gedacht und gelitten, darum schrieb er. Hatte er einmal ein inneres Erlebniß im Lied verkörpert, so kam er nie wieder darauf zurück. Jedes seiner Gedichte kam frisch aus vollem Leben, blank aus der Prägestatt seiner Erfahrung.

Götz ist das bedeutendste Werk der Sturm- und Drang-Periode. Wie wir schon vorhin andeuteten, ist diese Periode nicht blos eine Zeit titanischer Entwürfe, sondern auch ungesunder Sentimentalität. Goethe, der große dichterische Repräsentant jener Tage, der Schriftführer seiner Zeit, hat uns beide Richtungen in Meisterwerken dargestellt. Neben dem stürmischen Götz steht der träumerische Werther. Und doch, so genau diese Werke zwei lebendige Richtungen jener Zeit darstellen, sie stehen beide hoch über den vorübergehenden Ausbrüchen des Tages, sie sind beide ideale Ausdrücke ihres Zeitalters und von der Krankheit desselben so frei, wie Goethe selbst von der Schwäche seiner Zeitgenossen frei war. Goethe war nie ein Werther. Um den Abstand zu ermessen, der ihn und seine Werke von seinen sentimentalen Zeitgenossen und deren Werken trennte, muß man den Charakter der Jacobi, Klinger, Wagner und Lenz studiren oder Schriften wie den Woldemar lesen, dann wird man es begreiflich finden, warum Goethe von solchen Werken, seine eigenen nicht ausgenommen, schon nach wenigen Jahren mit Widerwillen sich abwandte, nachdem seine Einsicht sich geläutert, seine Ziele sich gefestigt hatten, dann wird auch der Unterschied klar werden zwischen dem Genie, welches den Geist einer Zeit idealisirt, und dem Talent, welches ihm nur schmeichelt. Wie Karl Grün in epigrammatischer Kürze sagt: »Goethe war Kranker und Arzt zugleich, seine Zeitgenossen waren meist Patienten und weiter nichts.«

Es war eine seltsame Zeit damals; die Unruhe war eine krankhafte, ihre Ausbrüche Symptome von Krankheit. In den Briefen, Denkwürdigkeiten und Romanen, welche als Zeugen für die Thorheiten der Zeit aufbewahrt sind, spiegelt sich ein selbstquälerisches und sentimentales Vertiefen in die menschliche Natur, das in einem gesunden Geiste sogar gegen wahrhafte Empfindung und wahrhafte Selbstbeschauung Widerwillen erregen kann; selbst die ehrenwerthesten Gefühle nehmen da einen gekünstelten Ausdruck an, während viele nicht sehr ehrenwerthe in dem Rosenroth der Unschuld prunken; von der Natur ist selten anders als mit krampfhafter Begeisterung die Rede; in Thränen und Umarmungen herrschte die tollste Verschwendung, auch bei den unbedeutendsten Anlässen. In Koburg gründeten empfindsame Tröpfe einen Orden des Mitleids und der Versöhnung; Leuchsenring, den Goethe im Pater Brey verspottete, stiftete einen Geheimbund und nannte ihn den Orden der Empfindsamkeit, dem anzugehören zarte Seelen für ein Vorrecht hielten. Die Freundschaft wurde in übertriebenster Weise vergöttert, und brüderliche Liebe zog empfindsam bebende Seelen an einander, nicht durch die festen Bande der Zuneigung und werkthätigen Unterstützung, sondern durch irgend eine eingebildete geistige Gemeinschaft, und so entsprang, wie Jean Paul witzig sagt, »eine allgemeine Liebe für alle Menschen und Thiere, ausgenommen Recensenten.«

Das alles waren Symptome von Krankheit; der gesellschaftliche Organismus war nicht mehr in Ordnung, und offenbar kündigte sich durch Auswüchse auf dem literarischen so wie auf andern Gebieten eine drohende Krisis an. Die Ursache der Krankheit war Mangel an Glauben. In der Religion, der Philosophie, der Politik, der Moral prahlte dies achtzehnte Jahrhundert mit seiner Unruhe und seinem Unglauben. Der alte Glaube, der so lange das Leben Europa's zu einer organischen Einheit gemacht und, schon schwankend und altersschwach, durch Luther einen tödtlichen Streich erhalten hatte, war nicht mehr der allgemeine, nicht mehr lebendig, thätig, herrschend; die Stelle einer allgemein bestimmenden Macht, die er inne gehabt, war unbesetzt; ein neuer Glaube hatte sich noch nicht erhoben. Die französische Revolution war eine ähnliche Krisis, wie in andern Gedankenkreisen früher die Reformation gewesen war. Neben dieser überwältigenden, alles verschlingenden Krisis zeigen sich andere kleinere. Ueberall durchbricht derselbe protestantische Geist die Ueberlieferung auf dem Gebiete der Moral, der Literatur und der Erziehung. An die Klassiker glaubt man nicht mehr, man verficht die Lehre des Fortschritts, die Ueberlegenheit der modernen Literatur. Man erklärt die Kunst ihrer Natur nach für eine fortschreitende. Die Erziehung darf nicht länger die breite Heerstraße wandern wie bisher; die Methode, die für vergangene Zeiten vortrefflich war, genügt der Gegenwart nicht länger; überall kommen neue Methoden auf, die alten zu verbessern. In der Politik schwindet der Glaube an das göttliche Recht. Der Einzelne verlangt und verkündet seine Freiheit, beides des Gedankens und der That. Freiheit ist die Losung des achtzehnten Jahrhunderts.

Genug damit, um die Stimmung jener Zeit anzuzeigen und nachzuweisen, inwiefern der Werther der Ausdruck dieser Stimmung ist. Wenden wir uns zu dem Romane selbst, so finden wir ihn so verwachsen mit dem Leben des Verfassers, daß die Geschichte seines damaligen Lebens der Ausweis über den Stoff ist, aus welchem er sein Werk schuf. Wir müssen daher zu dem Punkte zurückkehren, wo Goethe Wetzlar verließ, und unter Anleitung seiner Briefe an Kestner der Entwicklung dieses wunderbaren Romans folgen.

Götz wurde im Frühjahr 1773 veröffentlicht. Im Herbst 1772 ging Goethe von Wetzlar nach Frankfurt. Seine Briese an Kestner und Lotte sind voll leidenschaftlicher Bekenntnisse und zärtlicher Erinnerungen. Die willkürliche Schreibweise, die darin auffällt, gehört einer Zeit an, wo es eines Genie's für unwürdig galt, sich um langweilige Kleinigkeiten wie Rechtschreibung und Grammatik zu bekümmern, aber der warme Hauch einer zärtlichen Natur in diesen Briefen, die überströmende Liebe, die sie aussprechen und erregen, die gehören dem an, der sie schrieb. Bedürfte es für Goethe's liebende Natur noch eines Zeugnisses, wir könnten auf diese Briefe, vorzüglich auf die an Lotte's Bruder Hans verweisen. Für den Leser dieser Lebensbeschreibung bedarf es solches Zeugnisses weiter nicht, und wir können uns deshalb lediglich an das Verhältniß Goethe's zu den beiden Kestner's halten. »Gott segne euch lieber Kestner,« heißt es gleich in einem der ersten Briefe, »und sagt Lotten, daß ich manchmal mir einbilde, ich könne sie vergessen, daß mir aber dann ein Recitiv über den Hals kommt und es schlimmer mit mir wird als jemals.« Er sehnt sich, noch einmal wieder zu ihren Füßen zu sitzen und die Kinder auf sich herumklettern zu lassen; er schreibt in einem Tone von Melancholie, der eben so Poesie wie Wehmuth ist; wenn der Gedanke an Selbstmord auftaucht, so ist es nur einer von den vielen Gedanken, die seinen Geist durchfliegen. Dafür giebt uns eine sehr bezeichnende Stelle in Wahrheit und Dichtung den Beweis, welche seine wirkliche Seelenstimmung deutlich vergegenwärtigt. »Unter einer ansehnlichen Waffensammlung,« sagt er, »besaß ich auch einen kostbaren wohlgeschliffenen Dolch. Diesen legte ich mir jederzeit neben das Bett, und ehe ich das Licht auslöschte, versuchte ich, ob es mir wohl gelingen möchte, die scharfe Spitze ein paar Zoll tief in die Brust zu senken. Da dieses aber niemals gelingen wollte, so lachte ich mich zuletzt selbst aus, warf alle hypochondrischen Fratzen hinweg und beschloß zu leben.« Er spielte mit diesen selbstmörderischen Gedanken, weil er geistig nicht in Ruhe war und weil der Selbstmord zur Mode des Tages gehörte, aber wer diese Selbstmordgedanken für ernsthaft nähme, der würde ihn sehr falsch verstehen. Selbst damals waren sie nicht ernsthaft und als er dann den Weither schrieb, hatte er auch die leise Versuchung poetischer Sehnsucht nach dem Tode längst abgeschüttelt. Im Oktober 1772 verbreitete sich das falsche Gerücht, sein Freund Goué habe sich erschossen; sofort bittet er Kestner: »Schreiben Sie mir doch gleich wie sich die Nachrichten von Goué konfirmiren. Ich ehre auch solche That, und bejammere die Menschheit und laß alle –kerle von Philistern Tabacksrauchs Betrachtungen darüber machen, und sagen: Da habt ihr's. Ich hoffe nie meinen Freunden mit einer solchen Nachricht beschwerlich zu werden.« Er hatte zu viel Lebensmuth, um mit Todesgedanken mehr als zu spielen. So bekennt er: »Ich bin nach Homburg gewesen und habe wieder das Leben lieb gewonnen, da das Erscheinen solch eines Elenden so trefflichen Geschöpfen Freude machen kann.« Am 7. November kam er plötzlich mit Schlosser nach Wetzlar, und mit fieberischem Entzücken verweilte er dort bis zum 10. Nach Hause zurückgekehrt, schreibt er an Kestner: »Gewiß Kestner es war Zeit dass ich ging. Gestern Abend hatte ich recht hängerliche und hängenswerthe Gedanken auf dem Canapee … Und wenn ich wieder denke, wie ich von Wetzlar zurückkomme, so ganz über meine Hoffnung Liebempfangen geworden zu sein; binn ich viel ruhig. Ich gesteh's Ihnen, es war mir halb angst, denn das Unglück ist mir schon oft widerfahren. Ich kam mit ganzem, vollem, warmem Herzen, lieber Kestner, da ist's ein Höllenschmerz wenn man nicht empfangen wird wie man kommt. Aber so – Gott geb euch ein langes Leben wie mir die paar Tage waren.«

Das vorhin erwähnte Gerücht von Goué's Selbstmord erwies sich als unbegründet, aber nun kam das traurige Ereigniß von dem Selbstmord Jerusalem's. Goethe schreibt darüber an Kestner:

»Der unglückliche Jerusalem. Die Nachricht war mir schrecklich und unerwartet, es war gräßlich zum angenehmsten Geschenk der Liebe diese Nachricht zur Beylage. Der unglückliche. Aber die Teufel, welches sind die schändlichen Menschen die nichts geniessen denn Spreu der Eitelkeit, und Götzenlust in ihrem Herzen haben, und Götzendienst predigen, und hemmen gute Natur, und übertreiben und verderben die Kräffte, sind schuld an diesem Unglück, an unserm Unglück, hohle sie der Teufel ihr Bruder. Wenn der verfluchte Pfaff … nicht schuld ist, so verzeih mir's Gott, dass ich ihm wünsche er möge den Hals brechen wie Eli. Der arme Junge! wenn ich zurückkam vom Spaziergang und er mir begegnete hinaus im Mondschein, sagt ich er ist verliebt. Lotte muss sich noch erinnern daß ich drüber lächelte. Gott weis die Einsamkeit hat sein Herz untergraben, und – seit sieben Jahren kenn ich die Gestalt, ich habe wenig mit ihm geredt, bey meiner Abreise nahm ich ihm ein Buch mit das will ich behalten und sein gedenken so lang ich lebe.

Unter den vielen Ungenauigkeiten der Goethe'schen Lebensbeschreibung ist in Bezug auf den Werther eine von Wichtigkeit, die Versicherung nämlich, daß es die Nachricht von Jerusalem's Selbstmord gewesen, die ihm auf einmal den Plan zum Werther eingegeben. Jerusalem erschoß sich in der Nacht vom 29. zum 30. Oktober 1772 S. Sechster Anhang.; im November erhielt Goethe von Kestner den ausführlichen Bericht über Jerusalems letzte Tage und erst 1774 schrieb er den Werther fertig. Sein Seelenzustand in dieser Zeit ist durchaus nicht so, wie er ihn später selbst dargestellt hat. Man lese nur folgenden Brief an Kestner aus dem December 1772: »Das ist trefflich, ich wollte eben fragen ist Lenchen (eine Schwester Lottchen's) da, und ihr schreibt mir sie ist's. Wär ich nur drüben, ich wollt eure Discurse zu nichte machen, und Schneidern das Leben sauer, ich glaube ich würde sie lieber haben als Lotten. Nach dem Portrait ist sie ein liebenswürdiges Mädgen, viel besser als Lotte, wenn nicht eben just das – Und ich binn frey, und liebebedürftig. Ich muss sehen zu kommen, doch das wäre auch nichts. Da binn ich wieder in Frankfurt, gehe mit neuen Plans um und Grillen, das ich all nicht tuhn würde hätt ich ein Mädgen.« Gleich darauf scheint er eins gefunden zu haben; gegen Ende des Januar 1773 schreibt er: »Lotten sagt: ein gewisses Mädgen hier das ich von Herzen lieb habe und das ich wenn ich zu heurathen hätte gewiß vor allen andern griffe ist auch (wie Lotte) den 11. Januar gebohren. Wäre wohl hübsch so zwey Paare. Wer weis was Gottes Wille ist.« Wer diese neue Geliebte auch gewesen sein mag, ob Anna Sibylla Münch, die indeß nicht im Januar, sondern im Juli geboren war, oder Antoinette Gerock, eine Verwandte von Schlosser, die Goethe leidenschaftlich liebte und von der er einige Züge für Mignon entlehnte – es ist klar, daß er nicht gerade trübselig war. In seinem nächsten Briefe freut er sich einen Besuch von Merck in Aussicht zu haben »… und über das alles Schlittschuh Bahn herrlich, wo ich die Sonne gestern herauf und hinab mit Kreistänzen geehrt habe. Und noch andere Süjets der Freude die ich nicht sagen kann. Darüber lasst euch wohl sein, daß ich fast so glücklich binn als Leute die sich lieben wie ihr, dass eben so viel Hoffnung in mir ist als in liebenden, dass ich sogar Zeither einige Gedichte gefühlt und was mehr ist dergleichen. Es grüßt euch meine Schwester, es grüsen euch meine Mädgen es grüsen euch meine Götter.« So hängt denn freilich Lotte's Schattenriß über seinem Bett, ihr Bild umschwebt ihn unaufhörlich und das Teutsche Haus ist das Ziel manches sehnsüchtigen Gedankens, aber er schmachtet nicht hin aus Verzweiflung um Lotte. Er hat den Götz umgearbeitet und durch Merck zum Druck befördern lassen; er lebt in einem sehr lustigen Kreise, zu welchem auch Anna Sibylla Münch gehört, wie wir aus einem Briefe vom Februar 1773 erfahren. Die Stelle lautet: »Ehstertage schick ich euch wieder ein ganz abenteuerlich novum (den Götz). Das Mädgen grüsst Lotten, im Charakter hat sie viel von Lengen sieht ihr auch gleich sagt meine Schwester nach der Silhouette. Hätten wir einander so lieb wie ihr zwey – ich heisse sie indessen mein liebes Weibgen, denn neulich als sie in Gesellschaft um uns Junggesellen würfelten, fiel ich ihr zu«. Sie war damals erst funfzehn Jahre alt und sein Verhältnis zu ihr, welches überhaupt nie sehr leidenschaftlich gewesen zu sein scheint, war zunächst reine Spielerei.

Und nun kam der Tag heran, wo Lotte Hochzeit machen und Wetzlar verlassen sollte. An ihren jüngeren Bruder Hans schrieb er, ihm in Zukunft wenigstens einmal wöchentlich vom Teutschen Hause Nachricht zu geben, damit doch die Verbindung nicht ganz aufhöre, wenn auch der »Mittelstein aus dem Ringe« geraubt sei. Von Kestner erbat er sich die Erlaubniß, die Trauringe bestellen zu dürfen. »Ich binn der eurige, sind seine Worte, aber von nun an gar nicht neugierig euch zu sehen noch Lotten. Auch wird ihre Silhouette auf den ersten Ostertag, wird hoffentlich seyn euer Hochzeittag, oder wohl gar schon übermorgen aus meiner Stube geschafft und nicht eher wieder hereingehängt biss ich höre daß sie in den Wochen liegt dann geht eine neue Epoche an und ich habe sie nicht mehr lieb, sondern ihre Kinder zwar ein bissgen um ihrentwillen, doch das thut nichts und wenn ihr mich zum Gevatter bittet so soll mein Geist zwiefältig auf dem Knaben ruhen, und er soll gar zum Narren werden über Mädgen, die seiner Mutter gleichen«. Unter der Adresse »an Charlotte Buff, sonst genannt die liebe Lotte«, war folgender Brief eingeschlossen: »Möge mein Andenken immer so bey Ihnen seyn wie dieser Ring, in ihrer Glückseeligkeit. Liebe Lotte, nach viel Zeit wollen wir uns wiedersehn, Sie den Ring am Finger, und mich noch immer für Sie – Da weis ich keinen Nahmen, keinen Beynahmen. Sie kennen mich ja.« Auf die Anzeige von der Hochzeit schrieb er an Kestner: »Gott seegn euch denn ihr habt mich überrascht. Auf den Charfreitag wollt ich heilig Grab machen und Lottens Silhouette begraben. So hängt sie noch und soll denn auch hängen biss ich sterbe. Lebt wohl. Grüsst mir euren Engel und Lengen sie soll die zweyte Lotte werden, und es soll ihr eben so wohl gehn. Ich wandre in Wüsten da kein Wasser ist, meine Haare sind mir Schatten und mein Blut mein Brunnen.« Die Brautjungfer brachte ihm das Brautbouquet, und als er in trüber Stimmung nach Darmstadt wanderte, sein Leid zu vergessen, steckte er einen Strauß davon an den Hut; aber daß seine Leidenschaft für Lotte doch nur eine poetische war, geht aus einem Briefe hervor, den er sehr bald nach der Hochzeit an Kestner schrieb: »O Kestner, wenn hab ich euch Lotten missgönnt im menschlichen Sinn, denn um sie euch nicht zu missgönnen im heiligen Sinn, müsst ich ein Engel seyn ohne Lung und Leber. Doch muss ich euch ein Geheimniß entdecken. Dass ihr erkennet und schauet. Wie ich mich an Lotten attachirte und das war wie ihr wisst von Herzen, redete Born mit mir davon, wie man spricht. »Wenn ich K. wäre, mir gefiels nicht. Worauf kann das hinausgehen? Du spannst sie ihm wohl gar ab?« und dergleichen. Da sagt ich ihm, mit diesen Worten in seiner Stube, es war des Morgens: »Ich binn nun der Narr das Mädchen für was besonders zu halten, betrügt sie mich, und wäre so wie ordinair, und hätte den K. zum Fond ihrer Handlung um desto sicherer mit ihren Reizen zu wuchern, der erste Augenblick der mir das entdeckte, der erste der sie mir näher brächte, wäre der letzte unsrer Bekanntschafft«, und das beteuert ich und schwur. Und unter uns ohne Pralerey ich verstehe mich einigermassen auf die Mädgen, und ihr wisst wie ich geblieben binn, und bleibe für Sie und alles was sie gesehen angerührt und wo sie gewesen ist, biss an der Welt Ende. Und nun seht wie fern ich neidisch binn und es seyn muß. Denn entweder ich binn ein Narr, das schweer zu glauben fällt, oder sie ist die feinste Betrügerinn, oder denn – Lotte, eben die Lotte von der die Rede ist.« Und wenige Tage darauf schreibt er: »Meine arme Existenz starrt zum öden Fels. Diesen Sommer geht alles. Merck, meine Schwester, ihr, alles. Und ich binn allein. Wenn ich kein Weib nehme oder mich erhänge, so sagt ich habe das Leben recht lieb.«

Die Heirath seiner heißgeliebten Schwester Cornelia war ein schwerer Verlust für ihn, zumal damals, wo noch die andern Trennungs-Schmerzen ihn trafen. Von neuem suchte er in geistiger Thätigkeit Trost. Unter seinen damaligen Plänen war sehr wahrscheinlich der Mahomet, den er zwar selbst in eine spätere Zeit hinter die Reise mit Lavater und Basedow stellt, den aber Schäfer sehr richtig in das Jahr 1773 verweist, da Boie's Almanach für 1774 bereits »Mahomet's Gesang« enthält, das einzige Stück des Gedichts, welches Goethe außer dem Plane niederschrieb. Den Gedankengang dieses Drama's, der wahrhaft großartig ist, hat Goethe uns genau entwickelt. Wie er berichtet, drängte sich ihm die Betrachtung auf, daß jeder große Mann, der das Göttliche, was in ihm ist, auch außer sich verbreiten will, mit der gemeinen äußern Welt in Berührung kommt, sich ihr gleichstellen muß, um auf sie zu wirken, somit seinen höheren Zwecken viel vergiebt und am Ende sie ganz verwirkt. Diese tragische Erscheinung, daß »das Himmlische, Ewige in den Körper irdischer Absichten eingesenkt und zu vergänglichen Schicksalen mit fortgerissen wird«, wollte er dramatisch darstellen, und er wählte dazu, durch das Studium seines Lebens und des Korans wohl vorbereitet, den Mahomet, den er nie als einen Betrüger hatte ansehen können. Ueber die Entwickelung des Stücks lassen wir den Dichter selbst Auskunft geben.

»Das Stück fing mit einer Hymne an, welche Mahomet allein unter dem heitern Nachthimmel anstimmt. Erst verehrt er die unendlichen Gestirne als eben so viele Götter; dann steigt der freundliche Stern Gab (unser Jupiter) hervor, und nun wird diesem, als dem König der Gestirne, ausschließliche Verehrung gewidmet. Nicht lange, so bewegt sich der Mond herauf und gewinnt Aug' und Herz des Anbetenden, der sodann, durch die hervortretende Sonne herrlich erquickt und gestärkt, zu neuem Preise aufgerufen wird. Aber dieser Wechsel, wie erfreulich er auch sein mag, ist dennoch beunruhigend, das Gemüth empfindet, daß es sich nochmals überbieten muß; es erhebt sich zu Gott, dem Einzigen, Ewigen, Unbegränzten, dem alle diese begränzten herrlichen Wesen ihr Dasein zu verdanken haben. Diese Hymne hatte ich mit viel Liebe gedichtet; sie ist verloren gegangen, würde sich aber zum Zweck einer Cantate wohl wieder herstellen lassen, und sich dem Musiker durch die Mannigfaltigkeit des Ausdrucks empfehlen. Man müßte sich aber, wie es auch damals schon die Absicht war, den Anführer einer Karavane mit seiner Familie und dem ganzen Stamme denken, und so würde für die Abwechselung der Stimmen und die Macht der Chöre wohl gesorgt sein.

»Nachdem sich also Mahomet selbst bekehrt, theilt er diese Gefühle und Gesinnung den Seinigen mit; seine Frau und Ali fallen ihm unbedingt zu. Im zweiten Akt versucht er selbst, heftiger aber Ali, diesen Glauben in dem Stamme weiter auszubreiten. Hier zeigt sich Beistimmung und Widersetzlichkeit, nach Verschiedenheit der Charaktere. Der Zwist beginnt, der Streit wird gewaltsam, und Mahomet muß entfliehen. Im dritten Akt bezwingt er seine Gegner, macht seine Religion zur öffentlichen, reinigt die Kaaba von den Götzenbildern; weil aber doch nicht alles durch Kraft zu thun ist, so muß er auch zur List seine Zuflucht nehmen. Das Irdische wächst und breitet sich aus, das Göttliche tritt zurück und wird getrübt. Im vierten Akte verfolgt Mahomet seine Eroberungen, die Lehre wird mehr Vorwand als Zweck, alle denkbaren Mittel müssen benutzt werden; es fehlt nicht an Grausamkeiten. Eine Frau, deren Mann er hat hinrichten lassen, vergiftet ihn. Im fünften fühlt er sich vergiftet. Seine große Fassung, die Wiederkehr zu sich selbst, zum höheren Sinne, machen ihn der Bewunderung würdig. Er reinigt seine Lehre, befestigt sein Reich und stirbt.

»So war der Entwurf einer Arbeit, die mich lange im Geist beschäftigte: denn gewöhnlich mußte ich erst etwas im Sinne beisammen haben, eh ich zur Ausführung schritt. Alles was das Genie durch Charakter und Geist über die Menschen vermag, sollte dargestellt werden, und wie es dabei gewinnt und verliert. Mehrere einzuschaltende Gesänge wurden vorläufig gedichtet; von denen ist allein noch übrig, was, überschrieben Mahomet's Gesang, unter meinen Gedichten steht. Im Stücke sollte Ali, zu Ehren seines Meisters, auf dem höchsten Punkte des Gelingens diesen Gesang vortragen, kurz vor der Umwendung, die durch das Gift geschieht.«

Unter allen seinen unvollendeten Entwürfen bedauere ich bei diesem am meisten, daß er nicht zur Ausführung gekommen. An Größe, an Tiefe, an mannigfacher Gelegenheit zu seiner psychologischer Darlegung der Geheimnisse unserer Natur war dieser Gegenstand für Goethe's Genius wie geschaffen. Wie viele Clavigos und Stellas würde man nicht für diesen Mahomet hingeben?

Zu seinen Frankfurter Bekanntschaften gehörte damals Maximiliane Laroche, die kurz vorher den Kaufmann Brentano geheirathet hatte, einen um viele Jahre älteren Mann und Wittwer mit fünf Kindern. Goethe wurde in ihrem Hause sehr vertraut, und wie Merck schreibt, spielte er mit den Kindern, begleitete die Frau vom Hause zum Klavier und wurde auch von dem Herrn des Hauses trotz aller Eifersucht gern gesehen und zu häufigem Besuch dringend aufgefordert. Der Mann bedurfte seiner oft als Schiedsrichter in ehelichen Zwistigkeiten, und die Frau ihrerseits wählte ihn ebenfalls zu diesem Amte; ja, wie Merck andeutet, mußte er »die kleine Brentano« über den Geruch von Oel und Käse und die Manieren ihres Herrn Gemahls trösten. So verging Herbst und Winter in einem zarten Verhältnis wie es damals gewiß für völlig unverfänglich galt, welches aber Schriftsteller unserer Tage sich nicht enthalten können mit bedenklichen Augen anzusehen. Ich meinerseits glaube nicht, an seiner eigenen Versicherung in dieser Beziehung zweifeln zu dürfen, wenn er erklärt: »Mein früheres Verhältniß zu der jungen Frau, eigentlich ein geschwisterliches, ward nach der Heirath fortgesetzt; meine Jahre sagten den ihrigen zu, ich war der einzige in dem ganzen Kreise, an dem sie noch einen Widerklang jener geistigen Töne vernahm, an die sie von Jugend auf gewöhnt war. Wir lebten in einem kindlichen Vertrauen zusammen fort, und ob sich gleich nichts Leidenschaftliches in unsern Umgang mischte, so war er doch peinigend genug, weil sie sich auch in ihre neue Umgebung nicht zu finden wußte.« Wenn auch nicht leidenschaftlich, so war doch das Verhältniß gewiß sentimental und gefährlich. Hören wir, was er selbst an Frau Jacobi schreibt: »Die letzten drei Wochen hat's nichts gegeben als Aufregung und nun sind wir so zufrieden und glücklich als möglich. Ich sage wir, denn seit dem fünfzehnten Jenner ist keine Branche meiner Existenz einsam. Und das Schicksal, mit dem ich mich herumgebissen habe so oft, wird jetzt höflich betitelt das schöne weise Schicksal; denn gewiß, das ist die erste Gabe, seit es mir meine Schwester nahm, die das Ansehn eines Aequivalents hat! Die Max ist noch immer der Engel, der mit den simpelsten und werthesten Eigenschaften alle Herzen an sich zieht, und das Gefühl, das ich für sie habe, worin ihr Mann keine Ursache zur Eifersucht finden wird, macht nun das Glück meines Lebens. Brentano ist ein wackerer Geselle, von offenem und tüchtigem Charakter, nicht ohne Verstand; die Kinder sind lebhaft und brav.« Eine Anekdote, die seine Mutter an Bettina erzählte, giebt uns ein hübsches Bild, wie er vor seiner Max zu glänzen verstand. »An einem hellen Wintermorgen, an dem die Mutter Gäste hatte, machte er ihr den Vorschlag, mit den Fremden an den Main zu fahren: Mutter, Sie hat mich ja doch nicht Schlittschuh laufen gesehen, und das Wetter ist heut so schön! Ich zog meinen karmoisinrothen Pelz an (so läßt Bettina die Mutter erzählen), der einen langen Schlepp hatte und vorn herunter mit goldenen Spangen zugemacht war, und so fahren wir denn hinaus. Da schleift mein Sohn herum, wie ein Pfeil zwischen den Andern durch; die Luft hatte ihm die Backen roth gemacht, und der Puder war aus seinen braunen Haaren geflogen. Wie er nun den karmoisinrothen Pelz sieht, kommt er herbei an die Kutsche und lacht mich ganz freundlich an. Nun, was willst Du? sag ich. – Ei Mutter, Sie hat ja doch nicht kalt im Wagen, geb' Sie mir Ihren Sammetrock. – Du wirst ihn doch nicht gar anziehen wollen? – Freilich will ich ihn anziehen. – Ich zieh' halt meinen prächtig warmen Rock aus, er zieht ihn an, schlägt die Schleppe über den Arm, und da fährt er hin wie ein Göttersohn auf dem Eise! Bettina, wenn Du ihn gesehen hättest! So was Schönes giebt's nicht mehr; ich klatschte in die Hände vor Lust. Mein Lebtag seh' ich noch, wie er den einen Brückenbogen hinaus und den andern wieder herein lief, und wie da der Wind ihm den Schlepp lang hinten nachtrug! Damals war Deine Mutter mit auf dem Eise, der wollte er gefallen!«

Keine Selbstmordgedanken in der Brust!

Ganz in dem Geiste dieser Anekdote ist die Farce »Götter, Helden und Wieland«, die schon einige Zeit vor dem Mai 1774 geschrieben sein muß, da Goethe in einem Briefe von damals an Kestner bereits auf sie anspielt: »Mein garstig Zeug gegen Wieland macht mehr Lärm als ich dachte; er führt sich gut dabei auf wie ich höre, und so bin ich im Tort.« Diese Posse war aus der im Goethe'schen Kreise allgemein verbreiteten Ansicht hervorgegangen, Wieland habe die griechischen Götter und Helden modernisirt und sich dadurch an den Alten versündigt. Eines Sonntags Nachmittags erfaßte Goethe die »gewöhnliche Wuth, alles zu dramatisiren,« und bei einer Flasche guten Burgunders schrieb er das ganze Stück, wie es dasteht, in einer Sitzung nieder. Seine Freunde nahmen es mit Jubel auf; Lenz, dem er es nach Straßburg schickte, wollte es sofort veröffentlichen; nach einigem Zögern willigte Goethe ein, und so kam es in Straßburg zum Druck. Das Publikum, unbekannt mit den näheren Umständen und der Stimmung, aus der es entsprungen, unbekannt auch mit der Thatsache, daß es nicht auf die Oeffentlichkeit berechnet gewesen, nahm an dem brennenden Ingrimm dieses Spottes Anstoß. Aber in Wahrheit war es nicht vom bösen Willen eingegeben. Von dem kecken Stolz seines Witzes gehoben, griff Goethe einen Dichter an, den er im allgemeinen sehr liebte, und Wieland nahm den Scherz nicht übel, sondern empfahl ihn im deutschen Merkur »allen Liebhabern der pasquinischen Manier als ein Musterstück von Persiflage und sophistischem Witz.« Die kleine Schrift ist auch wirklich amüsant, und unter aller Narrheit steckt gesundes und scharfsinniges Urtheil. Ihre Eigentümlichkeit indeß besteht darin, daß sie Wieland angriff, weil er die Helden nicht heldenmäßig darstellte, während zur selben Zeit aus vielen Theilen Deutschlands ein lautes Geschrei gegen Wieland sich erhob, als einen unsittlichen, unchristlichen, ja gottlosen Schriftsteller. Lavater forderte alle Christenmenschen auf, für diesen Sünder zu beten; Theologen verboten ihren Jüngern, seine Werke zu lesen; auf den Kanzeln eiferte man gegen ihn. Um 1773 erhob sich die ganze Klopstock'sche Schule wider ihn in moralischer Entrüstung und verbrannte an Klopstock's Geburtstag seine Werke. Goethe's Zorn bewegte sich in ganz anderer Richtung; von sittlicher Gefahr fand er nichts in Wieland's Werken, aber er sah seine Götter und Helden in Perrücken und seidenen Hosen erscheinen, sah ihre Backen geschminkt, ihre Sehnen und Muskeln zu stutzerhaftem Maße verkleinert, und gegen solche Auffassung der alten Götterwelt erhob er seine Stimme.

»Ich kann euch nicht tadeln, schrieb er im August 1773 an Kestner, dass ihr in der Welt lebt, und Bekanntschaft macht mit Leuten von Stand und Pläzzen. Der Umgang mit Grossen ist immer dem vortheilhafft der ihrer mit Maas zu brauchen weis. Wie ich das Schiespulver ehre dessen Gewalt mir einen Vogel aus der Luft herunterhohlt, und wenns weiter nichts wäre. Aber auch sie wissen Edelmuth und Brauchbarkeit zu schäzzen, und ein junger Mann wie ihr muss hoffen, muss auf den besten Platz aspiriren. Sakerment und wenn ihr's nur eures Weibes willen tähtet. Also treibts in Gottes Nahmen nach eurem Herzen und kümmert euch nicht um Urteile und verschliesst euer Herz dem Tadler wie dem Schmeichler. Hören mag ich sie beyde gern, biss sie mich ennüiren. Mad. La Roche war hier, sie hat uns acht glückliche Tage gemacht, es ist ein Ergötzen mit solchen Geschöpfen zu leben. O Kestner und wie wohl ist mirs, hab ich sie nicht bei mir so stehen sie doch vor mir immer die Lieben all. Der Kreis von edlen Menschen ist das wertheste alles dessen was ich errungen habe. Und nun meinen lieben Götz! Auf seine gute Natur verlaß ich mich, er wird fortkommen und dauern. Er ist ein Menschenkind mit viel Gebrechen und doch immer der besten einer. Viele werden sich am Kleid stosen und einigen rauhen Ecken, doch hab ich schon so viel Beyfall dass ich erstaune. Ich glaube nicht, dass ich so bald was machen werde das wieder das Publikum findet. Unterdessen arbeit ich so fort, ob etwa dem Strudel der Dinge belieben mögte was gescheuters mit mir anzufangen.«

Bis dahin also, sehen wir, hatte Goethe den Werther noch nicht in Arbeit genommen. Am Weihnachtstage 1773 erwiderte er auf eine Andeutung Kestner's, er möge nach Hannover kommen und dort eine hervorragende Stelle einnehmen, folgende bemerkenswerthe Worte: »Mein Vater hätte zwar nichts dagegen, wenn ich in fremde Dienste ginge, auch hält mich hier weder Liebe noch Hoffnung eines Amtes – aber Kestner, die Talente und Kräfte die ich habe, brauch ich für mich selbst gar zu sehr, ich bin von jeher gewohnt, nur nach meinem Instinkt zu handeln, und damit könnte keinem Fürsten gedient sein.« In weniger als zwei Jahren sollte er doch bei einem Fürsten Dienste nehmen, aber wie wir sehen werden, that er diesen Schritt mit voller Klarheit über das, was er leisten sollte und konnte.

Es war im December 1774, als Knebel, der Erzieher der beiden weimarschen Prinzen Karl August und Konstantin, zu Goethe in's Zimmer trat und ihn zu seinen Zöglingen einlud, die ihn zu sehen wünschten. Er folgte dieser Aufforderung und wurde namentlich von Karl August, der gerade den Götz gelesen hatte, mit schmeichelhafter Güte empfangen; er blieb bei den jungen Herren freundschaftlich zu Tisch, und man schied beiderseits mit dem angenehmsten Eindruck. Die Prinzen waren auf dem Wege nach Mainz; er versprach ihnen dahin zu folgen. Sein Vater, der störrische alte Bürgersmann, der fürstlichen Personen am liebsten fern blieb, schüttelte zu dieser Reise bedächtig das Haupt. Trotzdem that der Dichter, wie er beschlossen, und verlebte als Gast der jungen Prinzen einige vergnügte Tage. So kam er zum ersten Male mit hochgestellten Personen in Berührung.

Im Mai 1774 überraschte ihn die frohe Nachricht, daß Lotte Mutter sei und daß ihr Sohn nach ihm Wolfgang genannt werde; und am 16. Juni schrieb er an Lotte: »Ich schick euch ehstens einen Freund der viel ähnliches mit mir hat, und hoffe ihr sollt ihn gut aufnehmen, er heißt Weither, und ist und war – das mag er euch selbst erklären.«

Wer unserer auf dem sicheren Boden gleichzeitiger Zeugnisse sich bewegenden Erzählung so weit gefolgt ist, wird zugeben müssen, daß der Goethe'sche Bericht über Entstehung und Ausarbeitung des Werther sehr ungenau ist. Der Werther entstand nicht bei der Nachricht von Jerusalems Tode, nicht aus steigender Verzweiflung über den Verlust seiner Lotte, nicht aus quälenden Selbstmordgedanken, und nicht schrieb er diese Selbstmordgeschichte, um sich selbst davor zu retten. Wohl sind das alles Fäden, die in das Werther-Gewebe verflochten sind, aber die Gewalt der angeführten Thatsachen zwingt uns zu der Ueberzeugung, daß der Werther zwar aus dem Leben genommen, aber nicht geschrieben wurde, während er erlebt ward. In der That leitet uns auch eine wirklich rationelle Kunstbetrachtung schon von vornherein zu der Ueberzeugung, daß das Gewitter vorüber sein mußte, ehe er es malen konnte, daß er seine Leidenschaft bewältigt, die Empörung seiner Gedanken gestillt haben mußte, ehe er sie plastisch gestalten konnte. Der Dichter kann nicht klar sehen und schreiben, wenn seine Augen voll Thränen sind, kann nicht singen, wenn Seufzer seine Brust schwellen und Schluchzen seine Stimme erstickt. Er muß sich über seinen Schmerz erheben, ehe er ihn zum Lied verflüchtigen kann. Herr ist der Künstler, nicht Knecht; er regiert seine Leidenschaft, nicht sie schleppt ihn mit sich fort. Die Kunst verwahrt wohl in ihrem Heiligthum den großen Schmerz der Welt, aber sie ist nicht selbst traurig. Der Sturm der Leidenschaft rast sich aus, die schweren Wolken ballen sich in ruhige Massen zusammen, die Sonne bricht durch und haucht ihnen mit ihren Strahlen Schönheit an. Wenn der Schmerz noch neu ist, ist er nur Schmerz, nichts weiter; nicht Kunst, nur Gefühl. Goethe konnte den Werther nicht schreiben, ehe er die Wertherei überlebt hatte, und wenn er auch Recht haben mag, diesen Roman eine General-Beichte zu nennen, nach der er sich erleichtert fühlte, so muß doch gesagt werden, daß wir erst dann beichten, wenn wir bereuen, und erst dann bereuen, wenn wir über den Irrthum hinaus sind.

Goethe schrieb den Werther sehr rasch. Wie er selbst sagt, »isolirte er sich äußerlich völlig, ja verbat die Besuche seiner Freunde, und legte auch innerlich alles bei Seite, was nicht unmittelbar da hinein gehörte. Unter solchen Umständen, nach so langen und vielen geheimen Vorbereitungen schrieb er den Werther in vier Wochen, ohne daß ein Schema des Ganzen oder die Behandlung eines Theils irgend vorher wäre zu Papier gebracht gewesen.« Aehnlich schreibt auch Merck, der große Erfolg seines Götz habe ihm etwas den Kopf verdreht, er ziehe sich von allen Freunden zurück und gehe ganz in den Arbeiten auf, die er zum Druck vorbereite. Im Juli 1773 schreibt er die erste sichere Andeutung, daß er am Werther arbeitet; im September desselben Jahres meldet er, Lotte sei stets bei ihm, wenn er schreibe, aber »der Roman rücke langsam vor;« im Februar 1774 kündigt Merck das Erscheinen des Romans »zu Ostern« an.

Im September 1774 schickte er an Lotte ein Exemplar des Werther und begleitete es mit folgendem Briefe: »Lotte wie lieb mir das Büchelchen ist magst du im Lesen fühlen, und auch dieses Exemplar ist mir so werth als wär's das einzige in der Welt. Du sollsts haben Lotte, ich hab es hundertmal geküsst, habs weggeschlossen, daß es niemand berühre. O Lotte! – Und ich bitte dich lass es außer Meyers niemand iezzo sehen, es kommt erst die Leipziger Messe in's Publikum. Ich wünschte jedes läs' es allein vor sich, du allein, Kestner allein, und jedes schriebe mir ein Wörtgen. Lotte Adieu Lotte.«

Werfen wir nun einen Blick auf dieses Werk, welches Europa in Staunen setzte und für lange Zeit das einzige war, was Europa von Goethe kannte.



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