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Dritter Abschnitt.
Wetzlar

Goethe's Bericht über Wetzlar in »Wahrheit und Dichtung« ist sehr dürftig. Das Reichskammergericht. Das Teutsche Haus. Die Tafelrunde und ihre Ritter. Wie Kestner Goethe schildert. Seine Bekanntschaft mit den Göttingern. Zwiespalt zwischen den Individuen und der Regierungsgewalt. Revolution in Literatur und Philosophie. Goethe verliebt sich in Charlotte Buff. Kestner mit Lotte verlobt. Jerusalem's unglückliche Leidenschaft. Goethe's Besuch bei Hoepfner. Trauriger Abschied von Wetzlar.

Im Frühjahr 1772 kam Goethe in Wetzlar an, den Götz fertig in der Tasche und den Kopf voll wildstürmender Gedanken. Eine Stelle in seiner Lebensbeschreibung giebt uns einen ergötzlichen Begriff, was er sich dabei dachte, als er der Welt die Geschichte seiner Jugend zu erzählen unternahm. Man erinnere sich, daß in diese Wetzlar'sche Zeit die Leidenschaft für Lotte fällt und daß er dort den Werther durchlebte, und man wird lächeln müssen, wenn man ihn sagen hört: »Was mir in Wetzlar begegnete, ist von keiner großen Bedeutung, aber es kann ein höheres Interesse einflößen, wenn man eine flüchtige Geschichte des Kammergerichts nicht verschmähen will, um sich den ungünstigen Augenblick zu vergegenwärtigen, in welchem ich daselbst anlangte.« Das heißt sein Leben beschreiben, wenn man die Erinnerungen der Jugend beinahe überlebt und die Sympathie für ihre Leidenschaften ganz verloren hat. In der Zeit seines Aufenthalts in Wetzlar würde er jeden, der ihm zu sagen gewagt hätte, die Geschichte des Reichskammergerichts sei ein Lächeln seiner Lotte werth, groß angesehen haben; aber zu der Zeit, wo er den dürftigen Bericht in Wahrheit und Dichtung schrieb, konnte er sich nur noch mühsam erinnern, wie Lotte gekachelt hatte. Glücklicherweise ist in den letzten Jahren der so oft angekündigte, so sehnlich erwartete Briefwechsel zwischen Goethe und Kestner erschienen, der sich als eine der ergiebigsten und schönsten Quellen für die Jugendgeschichte Goethe's erweist; der Bericht in der Lebensbeschreibung erhält daraus Klarheit und Zusammenhang, und jene herrliche Zeit steht nun wieder in ihrer ganzen Frische vor uns.

In Wetzlar interessiren uns vor allen Dingen zwei Häuser: das Reichskammergericht und das Deutsche Haus. Auf dem Reichskammergericht hatte sich in den Geschäften allmälig die schlimmste Verwirrung gehäuft; zu Goethe's Zeit harrten zwanzigtausend Prozesse ihrer Entscheidung, und nur siebzehn Rechtsgelehrte waren zu ihrer Erledigung da; jedes Jahr konnten sie höchstens sechzig bewältigen und doch kamen jährlich mehr als doppelt so viel neue hinzu. Einige Prozesse hatten sich durch anderthalb Jahrhunderte hingeschleppt und waren immer noch lange nicht zu Ende. Das war denn begreiflicher Weise nicht der Ort, um Goethen einen hohen Begriff von der Praxis des Rechts zu geben.

Das Teutsche Haus war eine alte Besitzung des deutschen Ordens, der im Lauf der Zeit heruntergekommen, wie der Malteser Orden, hier und da noch einige Besitzungen hatte, deren Ertrag von besondern Amtmännern erhoben wurde; das Amthaus hieß dann das deutsche Haus. Der Amtmann in Wetzlar war Herr Buff; ihn möge der Leser im Auge behalten, nicht etwa weil er selbst so besonders anziehend wäre, sondern wegen seiner ältesten Tochter Charlotte, welche die Heldin der Wertherzeit ist.

Auch außer diesem Hause gab es in Wetzlar noch Reste des alten Ritterthums; Goethe fand einen lustigen Kreis vor, der sich die Tafelrunde nannte und dessen Genossen sich Ritternamen beigelegt hatten, wie St. Amand der Eigensinnige, Lubomirsky der Streitbare, Eustach der Vorsichtige. Gegründet war dieser Orden von dem braunschweigischen Gesandtschaftssekretair August Friedrich von Goué, einem wilden Gesellen voll närrischer Einfälle und nicht ohne einen Anflug von Genie, der sich später zu Tode trank. Er führte den Namen Ritter Coucy und taufte Goethe als Götz von Berlichingen der Redliche. In einer Parodie auf den Werther, welche Goué schrieb, Masuren oder der junge Werther; ein Trauerspiel aus dem Illyrischen. 1775. führt er diesen Ritterorden von der Tafelrunde schmausend und zechend vor. Einer der Ritter singt ein französisches Lied; Götz sagt zu ihm: »Bist ein deutscher Ritter und singst fremde Lieder?« Ein anderer Ritter fragt Götz: »wie weit seid ihr mit dem Denkmal, das ihr eurem Ahnherrn stiften wollt?« Dieser erwiedert: »man rückt so allgemach fort; denk', es soll ein Stück werden, das Meister und Gesellen auf's Maul schlägt.«

Von dieser Tafelrunde und ihren lustigen Streichen hat uns Goethe nur erzählt, daß er zuerst von Herzen in den Scherz einging, aber bald der Sache müde wurde und wieder ganz in seinen Trübsinn versank. »Ich habe allerlei Bekanntschaft gemacht,« heißt es im Werther; »Gesellschaft habe ich noch keine gefunden. Ich weiß nicht, was ich anzügliches für die Menschen haben muß; es mögen mich ihrer so viele und hängen sich an mich, und da thut mir's weh, wenn unser Weg nur eine kleine Strecke mit einander geht.«

Aus dieser Zeit ist uns von Kestner's Hand eine sehr interessante Schilderung Goethe's erhalten, welche den Eindruck getreu wieder giebt, den er auf seine Bekannten machte, ehe noch der Ruhm seine Strahlenkrone ihm auf's Haupt gesetzt hatte und Bewunderung die Leute blendete.

»Im Frühjahr kam hier ein gewisser Goethe aus Franckfurt, seiner Handthierung nach Dr. Juris, 23 Jahr alt, einziger Sohn eines sehr reichen Vaters, um sich hier – dieß war seines Vaters Absicht – in Praxi umzusehen, der seinigen nach aber den Homer, Pindar etc. zu studiren, und was sein Genie, seine Denkungsart und sein Herz ihm weiter für Beschäftigungen eingeben würden.

»Gleich Anfangs kündigten ihn die hiesigen schönen Geister als einen ihrer Mitbrüder und als Mitarbeiter an der neuen Franckfurter Gelehrten Zeitung, beyläufig auch als Philosophen im Publico an, und gaben sich Mühe mit ihm in Verbindung zu stehen. Da ich unter diese Classe von Leuten nicht gehöre, oder vielmehr im Publico nicht so gänge bin, so lernte ich Goethen erst später und ganz von ohngefähr kennen. Einer der vornehmsten unserer schönen Geister, Legationssecretär Gotter, beredete mich einst nach Garbenheim, einem Dorf, unserem gewöhnlichen Spaziergang, mit ihm zu gehen. Daselbst fand ich ihn im Grase unter einem Baume auf dem Rücken liegen, indem er sich mit einigen Umstehenden, einem Epicuräischen Philosophen (v. Goué, großes Genie), einem stoischen Philosophen (v. Kielmannsegge) und einem Mitteldinge von beyden (Dr. König) unterhielt und ihm recht wohl war. Er hat sich nachher darüber gefreuet, daß ich ihn in einer solchen Stellung kennen gelernt. Es ward von mancherley, zum Theil interessanten Dingen gesprochen. Für dieses Mal urtheile ich aber nichts weiter von ihm, als: er ist kein unbeträchtlicher Mensch. Sie wissen, daß ich nicht eilig urtheile. Ich fand schon, daß er Genie hatte und eine lebhafte Einbildungskraft; aber dieses war mir doch nicht genug, ihn hochzuschätzen.

»Ehe ich weiter gehe, muß ich eine Schilderung von ihm versuchen, da ich ihn nachher genau kennen gelernt habe.

»Er hat sehr viel Talente, ist ein wahres Genie, und ein Mensch von Charakter; besitzt eine außerordentlich lebhafte Einbildungskraft, daher er sich meistens in Bildern und Gleichnissen ausdrückt. Er pflegt auch selbst zu sagen, daß er sich immer uneigentlich ausdrücke, niemals eigentlich ausdrücken könne: wenn er aber älter werde, hoffe er die Gedanken selbst wie sie wären, zu denken und zu sagen.

»Er ist in allen seinen Affekten heftig, hat jedoch viel Gewalt über sich. Seine Denkungsart ist edel; von Vorurtheilen so viel frey, handelt er, wie es ihm einfällt, ohne sich darum zu bekümmern, ob es Andern gefällt, ob es Mode ist, ob es die Lebensart erlaubt. Aller Zwang ist ihm verhaßt.

»Er liebt die Kinder und kann sich mit ihnen sehr beschäftigen. Er ist bizarre und hat in seinem Betragen, seinem Aeußerlichen verschiedenes, das ihn unangenehm machen könnte. Aber bey Kindern, bey Frauenzimmern und vielen andern ist er doch wohl angeschrieben.

»Für das weibliche Geschlecht hat er sehr viele Hochachtung.

» In principiis ist er noch nicht fest, und strebt noch erst nach einem gewissen System. Um etwas davon zu sagen, so hält er viel von Rousseau, ist jedoch nicht ein blinder Anbeter von demselben. Er ist nicht, was man orthodox nennt. Jedoch nicht aus Stolz oder Caprice oder um etwas vorstellen zu wollen. Er äussert sich auch über gewisse Hauptmaterien gegen Wenige; stört Andere nicht gern in ihren Vorstellungen. Er haßt zwar den Scepticismum, strebt nach Wahrheit und nach Determinirung über gewisse Hauptmaterien, glaubt auch schon über die wichtigsten determinirt zu sehn, so viel ich aber gemerkt, ist er es noch nicht. Er geht nicht in die Kirche, auch nicht zum Abendmahl, betet auch selten. Denn, sagt er, ich bin dazu nicht genug Lügner. Zuweilen ist er über gewisse Materien ruhig, zuweilen aber nichts weniger wie das. Vor der Christlichen Religion hat er Hochachtung, nicht aber in der Gestalt, wie sie unsere Theologen vorstellen. Er glaubt ein künftiges Leben, einen bessern Zustand. Er strebt nach Wahrheit, hält jedoch mehr vom Gefühl derselben, als von ihrer Demonstration.

»Er hat schon viel gethan und viele Kenntnisse, viel Lectüre; aber doch noch mehr gedacht und raisonnirt. Aus den schönen Wissenschaften und Künsten hat er sein Hauptwerk gemacht, oder vielmehr aus allen Wissenschaften, nur nicht den sogenannten Brodwissenschaften.«

Am Rande dieses flüchtig hingeworfenen Brouillons fügt Kestner noch hinzu: »Ich wollte ihn schildern, aber es würde zu weitläuftig werden, denn es läßt sich gar viel von ihm sagen. Er ist mit einem Worte ein sehr merkwürdiger Mensch

Weiter unten ferner: »Ich würde nicht fertig werden, wenn ich ihn ganz schildern wollte.«

Gotter, der zu Anfang dieses Briefes erwähnt wird, war ein junger Mann von bedeutender Bildung, mit dem Goethe durch wiederholte Gespräche über Kunst und Kunstkritik vertraut wurde. »Was die Alten über diese wichtigen Gegenstände gesagt, hatte ich (so schreibt er in Wahrheit und Dichtung) seit einigen Jahren fleißig, wo nicht in einer Folge studirt, doch sprungweise gelesen. Aristoteles, Cicero, Quinctilian, Longin, keiner blieb unbeachtet, aber das half mir nichts: denn alle diese Männer setzen eine Erfahrung voraus, die mir abging. Sie führten mich in eine an Kunstwerken unendlich reiche Welt, sie entwickelten die Verdienste vortrefflicher Dichter und Redner, von deren meistens uns nur die Namen übrig geblieben sind, und überzeugten mich nur allzu lebhaft, daß erst eine große Fülle von Gegenständen vor uns liegen müsse, ehe man darüber denken könne, daß man erst selbst etwas leisten, ja daß man fehlen müsse, um seine eignen Fähigkeiten und die der andern kennen zu lernen. Meine Bekanntschaft mit so vielen Guten jener alten Zeit war doch immer nur schul- und buchmäßig und keineswegs lebendig, da es doch, besonders bei den gerühmtesten Rednern, auffiel, daß sie sich durchaus im Leben gebildet hatten und daß man von den Eigenschaften ihres Kunstcharakters niemals sprechen konnte, ohne ihren persönlichen Gemüthscharakter zugleich mitzuerwähnen. Bei den Dichtern schien dies weniger der Fall; überall aber trat Natur und Kunst nur durch das Leben in Berührung, und so blieb das Resultat von allem meinem Sinnen und Trachten jener alte Vorsatz, die innere und äußere Natur zu erforschen und in liebevoller Nachahmung sie eben selbst walten zu lassen.«

Um diese Stelle genau zu verstehen, müssen wir uns erinnern, wie allgemein in Deutschland die Richtung ist, Werke der Poesie bestimmten Regeln anzupassen, so daß der Dichter nur ein entwickelter Kritiker ist. Lessing gestand mit edler Offenheit, daß er alle seine Erfolge »einzig und allein der Kritik zu verdanken habe«; Schiller hemmte bekanntlich den Flug seines Genius, indem er seinem Pegasus die bleiernen Schwingen der Kantischen Philosophie ansetzte, und Klopstock selbst verlor sich zu tief in die Kritik. Goethe war gewiß der letzte, die reichen Erfahrungen eines Jahrhunderts zu verschmähen, der letzte, Unwissenheit für die rechte Grundlage dichterischer Thätigkeit zu halten, aber er war zu sehr Künstler, um nicht die Machtlosigkeit allgemeiner Theorien bei der Schöpfung von Kunstwerken, welche der Ausdruck wahrhafter Erlebnisse sein sollten, zu erkennen. Die Kunst ist nicht unpersönlich, wie die Wissenschaft, und kann darum nicht gelehrt werden; nicht von der Theorie nährt sie sich, sondern vom Leben.

In Verbindung mit Gotter übersetzte Goethe das deserted village von Goldsmith; durch ihn ließ er sich auch bewegen, einige kleine Gedichte in Boie's Almanach zu veröffentlichen. »Dadurch (sagt er) kam ich mit jenen in einige Berührung, die sich, jung und talentvoll, zusammenhielten, und nachher so viel und mannichfaltig wirkten. Die beiden Grafen Stolberg, Bürger, Voß, Hölty und andere waren im Glauben und Geiste um Klopstock versammelt, dessen Wirkung sich nach allen Seiten hin erstreckte. In einem solchen, sich immermehr erweiternden Deutschen Dichterkreise entwickelte sich zugleich, mit so mannichfaltigen poetischen Verdiensten, auch noch ein anderer Sinn, dem ich keinen ganz eigentlichen Namen zu geben wüßte. Man könnte ihn das Bedürfniß der Unabhängigkeit nennen, welches immer im Frieden entspringt, und gerade da, wo man eigentlich nicht abhängig ist. Im Kriege erträgt man die rohe Gewalt so gut man kann, man fühlt sich wohl physisch und ökonomisch verletzt, aber nicht moralisch; der Zwang beschämt niemanden, und es ist kein schimpflicher Dienst, der Zeit zu dienen; man gewöhnt sich, von Feind und Freund zu leiden, man hat Wünsche und keine Gesinnungen. Im Frieden hingegen thut sich der Freiheitssinn der Menschen immer mehr hervor, und je freier man ist, desto freier will man sein. Man will nichts über sich dulden: wir wollen nicht beengt sein, niemand soll beengt sein, und dies zarte, ja kranke Gefühl erscheint in schönen Seelen unter der Form der Gerechtigkeit. Dieser Geist und Sinn zeigte sich damals überall, und gerade da nur wenige bedrückt waren, wollte man auch diese von zufälligem Druck befreien, und so entstand eine gewisse sittliche Befehdung, Einmischung der Einzelnen in's Regiment, die mit löblichen Anfängen zu unabsehbar unglücklichen Folgen hinführte. Voltaire hatte durch den Schutz, den er der Familie Calas angedeihen ließ, großes Aufsehen erregt und sich ehrwürdig gemacht. Für Deutschland fast noch auffallender und wichtiger war das Unternehmen Lavater's gegen den Landvogt gewesen. Der ästhetische Sinn, mit dem jugendlichen Muth verbunden, strebte vorwärts, und da man noch vor kurzem studirte, um zu Aemtern zu gelangen, so fing man nun an, den Aufseher der Beamten zu machen, und die Zeit war nah, wo der Theater- und Romandichter seine Bösewichter am liebsten unter Ministern und Amtleuten aufsuchte. Hieraus entstand eine halb eingebildete, halb wirkliche Welt von Wirkung und Gegenwirkung, in der wir späterhin die heftigsten Angebereien und Verhetzungen erlebt haben, welche sich die Verfasser von Zeitschriften und Tageblättern, mit einer Art von Wuth, unter dem Schein der Gerechtigkeit erlaubten, und um so unwiderstehlicher dabei zu Werke gingen, als sie das Publikum glauben machten, vor ihm sei der wahre Gerichtshof: thöricht, da kein Publikum eine exekutive Gewalt hat, und in dem zerstückten Deutschland die öffentliche Meinung niemanden nutzte oder schadete.«

Es war eine Zeit tiefer Unruhe in Europa; die Wehen der französischen Revolution begannen. In Deutschland ging der Geist der Revolution von den Studirzimmern und den Hörsälen aus; es war eine literarische und philosophische Empörung unter der Führung von Lessing, Klopstock, Kant, Herder und Goethe. Die Autorität wurde von allen Seiten angegriffen, weil sie sich überall schwach oder tyrannisch gezeigt hatte. Eine verwegene Hand lüftete die majestätische Perrücke Ludwigs XIV. und zeigte so den lange verdeckten Kahlkopf. Nun glaubte niemand mehr an den grand monarque, am wenigsten Goethe, der schon den Götz geschrieben hatte und Homer und Shakespeare anbetete. »Laß mir die Bücher vom Halse, schreibt Goethe-Werther; ich will nicht mehr geleitet, ermuntert, angefeuert sein, braus't dieses Herz doch genug aus sich selbst; ich brauche Wiegengesang und den habe ich in seiner Fülle gefunden in meinem Homer. Wie oft lull' ich (mit ihm) mein empörtes Blut zur Ruhe!« Daß Werther viele biographische Einzelheiten aus Goethe's eigenem Leben enthält, wußte man schon früher; jetzt beweist der Briefwechsel mit Kestner ausdrücklich, daß Goethe damals von Anfällen schrecklichen Mißmuths geplagt war, die mit wildester Ausgelassenheit wechselten. Er liebte die Einsamkeit, las viel oder zeichnete in seiner unvollkommenen Art landschaftliche Skizzen. »Eine wunderbare Heiterkeit (heißt es im Werther) hat meine ganze Seele eingenommen, gleich den süßen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße. Ich bin allein, und freue mich meines Lebens in dieser Gegend, die für solche Seelen geschaffen ist wie die meine. Ich bin so glücklich, so ganz in dem Gefühle von ruhigem Dasein versunken, daß meine Kunst darunter leidet. Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen, als in diesen Augenblicken. Wenn das liebe Thal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsterniß meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligthum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege, und näher an der Erde tausend mannichfaltige Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen näher an meinem Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Allliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält – mein Freund, wenn's dann um meine Augen dämmert und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn, wie die Gestalt einer Geliebten, dann sehne ich mich oft und denke: ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, daß es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes«!

Als er nach Wetzlar kam, stak ihm der Pfeil in der Brust. Friederikens Bild verfolgte ihn; nur die Nähe einer andern Geliebten konnte es vertreiben. »Als Knab' (sagt er sehr niedlich in einem Briefe an Salzmann) pflanzte ich ein Kirschbäumgen im Spielen; es wuchs und ich hatte die Freude mit der Blüthe und ich mußte ein Jahr warten, da wurden sie schön und reif; aber die Vögel hatten den größten Theil gefressen, ehe ich eine Kirsche versucht hatte; ein ander Jahr warens die Raupen, dann ein genäschiger Nachbar, dann das Mehlthau, und doch wenn ich Meister über einen Garten werde, pflanz ich doch wieder Kirschbäumgen«. Und darnach lebte er –

»Von der einen zu der andern,
Nur im Unbestand beständig.«

Die Geliebte, deren Gegenwart Friederikens Bild ersetzen sollte, war keine andere als jene Charlotte Buff. Zwei Jahre vorher war ihre Mutter gestorben, und damit war die Sorge für das Haus und die Geschwister auf sie übergegangen. Sie war erst sechzehn Jahre alt, aber ein gesunder Verstand, praktisches Geschick und ausharrender Muth hatten ihr diese Aufgabe mit Erfolg lösen helfen. Seit zwei Jahren war sie mit dem hannoverschen Gesandschaftssekretair Kestner verlobt, einem vierundzwanzig Jahre alten ruhigen, ordentlichen, etwas förmlichen Manne, aber verständig, gebildet, brav bis zur Großmuth, und von einer Würde, wie sie der Albert im Werther durchaus nicht hat; auch sonst muß er von diesem seinem literarischen Doppelgänger sorgfältig unterschieden werden. Wie Goethe Kestner kennen lernte, haben wir schon gesehen; wie er Lotte kennen lernte, darüber möge man den Bericht im Werther mit der nachstehenden Erzählung vergleichen, die Kestner brieflich einem Freunde giebt: »… den 9. Juni 1772 fügte es sich, daß Goethe mit bey einem Ball auf dem Lande war, wo mein Mädchen und ich auch waren. Ich konnte erst nachkommen und ritt dahin. Mein Mädchen fuhr also in einer andern Gesellschaft hin; der Dr. Goethe war mit im Wagen und lernte Lottchen hier zuerst kennen. Er hat sehr viele Kenntnisse, und die Natur, im physikalischen und moralischen Verstande genommen, zu seinem Haupt-Studium gemacht, und von den beyden die wahre Schönheit studirt. Noch kein Frauenzimmer hatte ihm ein Genüge geleistet. Lottchen zog gleich seine ganze Aufmerksamkeit an sich. Sie ist noch jung, sie hat, wenn sie gleich keine ganz regelmäßige Schönheit ist, (ich rede hier nach dem gemeinen Sprachgebrauch und weiß wohl, daß die Schönheit eigentlich keine Regeln hat,) eine sehr vortheilhafte einnehmende Gesichtsbildung; ihr Blick ist wie ein heiterer Frühlings-Morgen, zumal den Tag, weil sie den Tanz liebt; sie war in ganz ungekünsteltem Putz. Er bemerkte bey ihr Gefühl für das Schöne der Natur und einen ungezwungenen Witz, mehr Laune als Witz. Er wußte nicht, daß sie nicht mehr frey war; ich kam ein paar Stunden später; und es ist nie unsere Gewohnheit, an öffentlichen Orten mehr als Freundschaft gegen einander zu äußern. Er war den Tag ausgelassen lustig, (dieses ist er manchmal, dagegen zur andern Zeit melancholisch,) Lottchen eroberte ihn ganz, um destomehr, da sie sich keine Mühe darum gab, sondern sich nur dem Vergnügen überließ. Andern Tags konnte es nicht fehlen, daß Goethe sich nach Lottchens Befinden auf dem Ball erkundigte. Vorhin hatte er in ihr ein fröhliches Mädchen kennen gelernt, das den Tanz und das ungetrübte Vergnügen liebt; nun lernte er sie auch erst von der Seite, wo sie ihre Stärke hat, von der häuslichen Seite, kennen.«

Nach ihrem Bilde zu schließen muß Lotte in ihrer Art ein reizendes Geschöpf gewesen sein; nicht geistig gebildet, nicht poetisch, vor allem nicht das sentimentale Mädchen im Werther, sondern ein ruhig heiteres, lustiges, offenherziges deutsches Mädchen, eine ausgezeichnete Hausfrau und eine Haushälterin ohne Gleichen. Goethe war sofort in sie verliebt. Hören wir, was ihr eigener Bräutigam darüber schreibt: »Sie ist nicht eigentlich eine sogenannte Beauté, nach dem gemeinen Sinne; mir ist sie's; so bleibt sie doch immer das bezaubernde Mädchen, das Schaaren von Anbetern haben könnte, alte und junge, ernsthafte und lustige, Kluge und Dumme etc. Sie weiß sie aber bald zu überzeugen, daß sie entweder in der Flucht oder in der Freundschaft ihr einziges Heil suchen müssen. Eines von diesen, als des merkwürdigsten, will ich doch erwähnen, weil er auf uns einen Einfluß behalten. Ein junger Mensch an Jahren (23), aber in Kenntnissen und Entwicklung seiner Seelenkräfte und seines Charakters schon ein Mann: ein außerordentliches Genie und ein Mensch von Charakter, war hier, wie seine Familie glaubte, der Reichs-Praxis wegen, in der That aber um der Natur und der Wahrheit nachzuschleichen, und den Homer und Pindar zu studiren. Er hat nicht nöthig des Unterhaltes wegen zu studiren. Ganz von ohngefähr, nach langer Zeit seines Hierseyns, lernte er Lottchen kennen, und in ihr sein Ideal von einem vortrefflichen Mädchen; er sah sie in ihrer fröhlichen Gestalt, ward aber bald gewahr, daß dieses nicht ihre vorzüglichste Seite war; er lernte sie auch in ihrer häuslichen Situation kennen, und ward, mit einem Wort, ihr Verehrer. Es konnte ihm nicht lange unbekannt bleiben, daß sie ihm nichts als Freundschaft geben konnte, und ihr Betragen gegen ihn gab wiederum ein Muster ab. Dieser gleiche Geschmack, und da wir uns näher kennen lernten, knüpfte zwischen ihm und mir das festeste Band der Freundschaft, so daß er bei mir gleich auf meinen lieben Hennings folgt. Indessen, ob er gleich in Ansehung Lottchens alle Hoffnung aufgeben mußte, und auch aufgab, so konnte er, mit aller seiner Philosophie und seinem natürlichen Stolze, so viel nicht über sich erhalten, daß er seine Neigung ganz bezwungen hätte. Und er hat solche Eigenschaften, die ihn einem Frauenzimmer, zumal einem empfindenden und das von Geschmack ist, gefährlich machen können. Allein Lottchen wußte ihn so zu behandeln, daß keine Hoffnung bey ihm aufkeimen konnte, und er sie, in ihrer Art zu verfahren, noch selbst bewundern mußte. Seine Ruhe litt sehr dabey; es gab mancherley merkwürdige Scenen, wobey Lottchen bey mir gewann, und er mir als Freund auch werther werden mußte, ich aber doch manchmal bey mir erstaunen mußte, wie die Liebe so gar wunderliche Geschöpfe selbst aus den stärcksten und sonst für sich selbstständigen Menschen machen kann. Meistens dauerte er mich und es entstanden bey mir innerliche Kämpfe, da ich auf der einen Seite dachte, ich möchte nicht im Stande seyn, Lottchen so glücklich zu machen, als er, auf der andern Seite aber den Gedanken nicht ausstehen konnte, sie zu verlieren. Letzteres gewann die Oberhand, und an Lottchen habe ich nicht einmal eine Ahndung von dergleichen Betrachtung bemerken können.«

Eine andere Stelle aus demselben Briefe wird dieses Verhältniß in volles Licht setzen: »Ich bin mit Lottchen in keiner weitern Verbindung, als worin ein ehrlicher Mann steht, wenn er einem Frauenzimmer den Vorzug vor allen übrigen giebt, sich mercken lässet, daß er ein Gleiches von ihr wünscht, und wenn sie solches thut, dieses nicht nur, sondern auch eine völlige Resignation von ihr annimmt. Dieses halte ich schon genug, um einen ehrlichen Mann zu binden, zumal wenn solches einige Jahre durch dauert. Indessen tritt bey mir noch hinzu, daß Lottchen und ich uns einander ausdrücklich erklärt haben, und es noch immer mit Vergnügen thun, ohne jedoch Schwüre und Betheuerungen hinzuzufügen«. Diese ganze Art von Brautstand ohne förmlich anerkannte Verlobung machte Kestner's Stellung nur um so peinlicher. Seine Großmuth und Nachsicht sowohl wie der Zauber von Goethe's Persönlichkeit glänzen dabei um so heller: in solch einem Verhältniß wie edel mußten alle drei fühlen, daß nicht kleinliche Eifersüchteleien einen gewaltsamen Bruch herbeiführten. Es ist unzweifelhaft, daß die innigste Vertraulichkeit und die größte Zärtlichkeit ohne alle Störung fortdauerte. In sicherem Vertrauen auf die Ehre seines Freundes und die Treue seiner Braut verdarb Kestner das schöne Verhältniß niemals auch nur durch eine Andeutung von Eifersucht. Goethe war immer in Lotte's Hause, wo ihn die Kinder jubelnd empfingen, ihn für sich in Anspruch nahmen, wie das Kinderfreunden zu gehen pflegt, und sich von ihm Geschichten erzählen ließen. Es ist so hübsch, Goethe unter Kindern zu sehen; immerfort hat er herzliche Zärtlichkeit für sie und Lottens Geschwister waren ihm doppelt theuer, weil sie ihr angehörten.

In diesem Wetzlarer Kreise nimmt noch eine Gestalt unsere Aufmerksamkeit in Anspruch: die eines hübschen blonden Jünglings mit sanften blauen Augen und einer ruhigen Melancholie im Ausdruck; es ist Jerusalem, der Sohn des bekannten protestantischen Abts von Riddagshausen. Er war in Wetzlar Sekretair bei der braunschweigischen Gesandtschaft, ein College also von Goué. In der englischen Literatur war er sehr bewandert; Lessing hatte ihn mit seiner Freundschaft beehrt und gab dieser Freundschaft später, als er seine philosophischen Abhandlungen Es sind deren fünf: 1. Daß die Sprache dem ersten Menschen durch Wunder nicht mitgetheilt sein kann. 2. Ueber die Natur und den Ursprung der allgemeinen und abstrakten Begriffe. 3. Ueber die Freiheit. 4. Ueber die Mendelssohn'sche Theorie vom sinnlichen Vergnügen. 5. Ueber die vermischten Empfindungen. herausgab, in der Vorrede dazu folgenden Ausdruck: »Der junge Mann, als er hier in Wolfenbüttel sein bürgerliches Leben antrat, schenkte mir seine Freundschaft. Ich genoß sie nicht viel über Jahr und Tag, aber gleichwohl wüßte ich nicht, daß ich einen Menschen in Jahr und Tag lieber gewonnen hätte als ihn. Und dazu lernte ich ihn eigentlich nur von einer Seite kennen. Allerdings war das gleich diejenige Seite, von der sich, meines Bedünkens, so viel auf alle übrigen schließen läßt. Es war die Neigung zu deutlicher Erkenntniß, das Talent, die Wahrheit bis in ihre letzten Schlupfwinkel zu verfolgen. Es war der Geist der kalten Betrachtung. Aber ein warmer Geist, der sich nicht abschrecken ließ, wenn ihm die Wahrheit auf seinen Verfolgungen öfters entwischte. Wie empfindbar, wie warm, wie thätig sich dieser junge Grübler auch wirklich erhielt, wie ganz ein Mensch er unter den Menschen war, das wissen seine übrigen Freunde noch besser als ich.«

In seiner melancholischen Stimmung verfiel er oft darauf, über den Selbstmord nachzudenken, den er mit theoretischen Gründen zu vertheidigen wußte. Sein Trübsinn steigerte sich durch eine unglückliche Leidenschaft für die Frau eines Freundes. Wie diese endete, werden wir später zu erzählen haben; für jetzt genügt es, die Anwesenheit dieses jungen Mannes in dem Kreise von Goethe's Bekanntschaften anzuzeigen. Wie schon früher in Leipzig Auf dieser Bekanntschaft von Leipzig her beruht es, wenn Goethe in den Briefen an Kestner (Nr. 18) sagt, seit »sieben Jahren« kenne er Jerusalem; Kestner in seiner Anerkennung zu dieser Stelle und Düntzer bezweifeln die »sieben Jahre« daher mit Unrecht. Anm. des Uebers., wo sie zusammen studirt hatten, sahen sie einander auch jetzt wenig, weil der empfindsame Jerusalem sich scheu zurückzog; doch war ihre Bekanntschaft hinreichend genau, um Goethe für seinen späteren Roman den Stoff zu geben.

Jerusalem's unglückliche Leidenschaft und Goethe's unglückliche Leidenschaft hätte die beiden, sollte man meinen, eng vereinigen müssen, aber genau genommen kann Goethe's Leidenschaft kaum eine unglückliche genannt werden; es war mehr eine Leidenschaft voll köstlicher Unruhe; Liebe, tiefe verzehrende, stürmische Liebe war es nicht. Es war mehr eine Leidenschaft der Einbildungskraft, die den Dichter näher anging als den Menschen. Lotte erregte seine Phantasie; ihre Schönheit, ihre heitere Munterkeit, ihre liebevolle Natur bezauberten ihn; die Seltsamkeit seiner Stellung erhöhte den Reiz, indem sie ihm unbewußt ein Gefühl der Sicherheit lieh. Wäre Lotte frei gewesen, er würde, – davon bin ich überzeugt – von ihr geflohen sein, wie er von Friederiken floh. Damit will ich indeß nicht gesagt haben, daß die Unmöglichkeit sie zu besitzen ihm behaglich gewesen wäre. Er war unruhig, ungeduldig und, in einem gewissen Sinne unglücklich. Er glaubte sterblich in sie verliebt zu sein, während er doch in Wahrheit nur in das zärtliche Spiel der Gefühle verliebt war, die sie hervorrief, – ein scheinbarer Widerspruch, aber nicht räthselhaft für den, der mit dichterischen Stimmungen vertraut ist.

So verging der Sommer. Im August machte er einen kleinen Ausflug nach Gießen zu Professor Hoepfner, einem der thätigsten Mitarbeiter an den Frankfurter Gelehrten Anzeigen. Nach seiner Art erschien er abermals verkleidet und trat als ein schüchterner ungeschickter Student auf; da Hoepfner ihn nur aus Briefen kannte, so war das leicht zu machen; eine komische Scene erfolgte, die endlich damit schloß, daß er dem Professor mit den Worten: »Ich bin Goethe« in die Arme sprang. In Gießen traf er Merck; er überredete ihn mit nach Wetzlar zu kommen, damit er Lotte kennen lerne. Merck ging mit, er sah Lotte und wie es in Wahrheit und Dichtung heißt, gefiel sie ihm nicht sonderlich; nach einem eigenen Briefe von Merck steht aber die Sache anders. »Auch Goethe's Freundin, schreibt er, habe ich gesehen, von der er in allen seinen Briefen mit solcher Begeisterung spricht; sie verdient wirklich alles Gute, was er über sie sagen kann.« Gegen Goethe verhehlte er indes diese Bewunderung, ärgerte ihn, indem er die junonische Gestalt einer Freundin von Lotte vorzog und den jungen Freund bitter ausschalt, daß er sich nicht um diese prächtige Gestalt bemühe, die noch dazu völlig frei sei. Daß Goethe sich damals verletzt fühlte, war ganz in der Ordnung, aber bei dem späteren Rückblick hätte er Merck's freundschaftliche Absicht entdecken und ihn nicht wieder mit Mephistopheles vergleichen sollen. Auch hatte schon damals Merck's Zureden seine Wirkung und beschleunigte die Lösung eines Verhältnisses, in welchem Goethe's Stellung von Tag zu Tag unhaltbarer wurde. Endlich faßte er den Entschluß, sich loßzureißen und Merck auf einer Rheinreise zu begleiten. Es war Zeit; was auch die Phantasie an seiner Leidenschaft für Antheil haben mochte, er war in einer gefährlichen Lage; aus einem sorglosen Spiel mit zärtlichen Empfindungen hätte zuletzt eine wirkliche und verzweifelte Leidenschaft werden können; Sicherheit war nur in der Trennung. So verabredete er mit Merck, sie wollten sich in Koblenz treffen, und, wie er einst Leipzig verlassen, ohne Käthchen Lebewohl zu sagen, so riß er sich auch jetzt ohne Abschied los. Das Nähere sagt uns Kestner in seinem Tagebuche:

… September 10. 1772. »Mittags aß Dr. Goethe bey mir im Garten; ich wußte nicht, daß es das letzte Mal war … Abends kam Dr. Goethe nach dem deutschen Hause. Er, Lottchen und ich hatten ein merkwürdiges Gespräch von dem Zustande nach diesem Leben, vom Weggehen und Wiederkommen etc. etc., welches nicht er, sondern Lottchen anfing. Wir machten mit einander aus, wer zuerst von uns stürbe, sollte, wenn er könnte, den Lebenden Nachricht von dem Zustande jenes Lebens geben; Goethe wurde ganz niedergeschlagen, denn er wußte, daß er am andern Morgen weggehen wollte.«

September 11. 1772. »Morgens 7 Uhr ist Goethe weggereist ohne Abschied zu nehmen. Er schickte mir ein Billet nebst Büchern. Er hat es längst gesagt, daß er um diese Zeit nach Coblenz, wo der Kriegszahlmeister Merck ihn erwarte, eine Reise machen und keinen Abschied nehmen, sondern plötzlich abreisen würde. Ich hatte es also erwartet. Aber, daß ich dennoch nicht darauf vorbereitet war, das habe ich tief in meiner Seele gefühlt. Ich kam den Morgen von der Diktatur zu Hause. ›Herr Doktor Goethe hat dieses um 10 Uhr geschickt.‹ – Ich sah die Bücher und das Billet, und dachte, was dieses mir sagte: ›Er ist fort!‹ und war ganz niedergeschlagen. Bald nachher kam Hans (Lotte's Bruder) zu mir, mich zu fragen, ob er gewiß weg sei? Die Geheime Räthin Langen hatte bei Gelegenheit durch eine Magd sagen lassen: ›Es wäre doch sehr ungezogen, daß Doktor Goethe so ohne Abschied zu nehmen, weggereist sey.‹ Lottchen ließ wieder sagen: ›Warum sie ihren Neveu nicht besser erzogen hätte?‹ Lottchen schickte, um gewiß zu seyn, einen Kasten, den sie von Goethen hatte, nach seinem Hause. Er war nicht mehr da. Um Mittag hatte die Geheime Räthin Langen wieder sagen lassen: ›Aber sie wolle es des Doktor Goethe Mutter schreiben, wie er sich aufgeführt hätte.‹ – Unter den Kindern im Deutschen Hause, sagte jedes ›Doktor Goethe ist fort!‹ – Mittags sprach ich mit Herrn von Born, der ihn zu Pferde bis gegen Braunfels begleitet hatte. Goethe hatte von unserm gestrigen Abendgespräch ihm erzählt. Er war sehr niedergeschlagen weggereist. Nachmittags brachte ich die Billets von Goethe an Lottchen. Sie war betrübt über seine Abreise; es kamen ihr die Thränen beim Lesen in die Augen. Doch war es ihr lieb, daß er fort war, da sie ihm das nicht geben konnte, was er wünschte. Wir sprachen nur von ihm; ich konnte auch nicht anders als an ihn denken, vertheidigte die Art seiner Abreise, welche von einem Unverständigen getadelt wurde; ich that es mit vieler Heftigkeit. Nachher schrieb ich ihm, was seit seiner Abreise vorgegangen war.«

Wie deutlich vergegenwärtigen uns diese einfachen Züge die ganze Lage; den Schmerz der beiden Liebenden über den Abschied ihres Freundes und die Betrübniß der Kinder, als sie hören, daß Doktor Goethe fort ist! Solch eines Bildes bedarf es, um uns zu vergewissern, daß dieser kleine Roman mit all seinen Seltsamkeiten und Gefahren nicht wirklich ein bloßer Anfall krampfhafter Sentimentalität war. In Wahrheit, wäre Goethe der sentimentale Werther gewesen, er hätte nie die Willenskraft gehabt, sich aus einem solchen Verhältniß loszureißen; eine Kugel hätte er sich durch den Kopf geschossen wie Werther. Und auf der andern Seite, welch eine würdige Gestalt ist dieser Kestner neben dem kalten Albert im Roman! Eine weniger hochherzige Natur hätte sich gefreut, daß der Nebenbuhler sich entfernte, hätte in der Freude vergessen, daß in dem Nebenbuhler auch ein Freund geschieden sei; aber Kestner, der in seinem Freunde nicht bloß einen Nebenbuhler, sondern einen solchen Nebenbuhler erkannte, daß ihm Zweifel aufstiegen, ob nicht dieser herrliche Jüngling die Geliebte glücklicher machen werde, als er selbst – Kestner trauerte um den Weggang seines Freundes.

Goethe's Brief, auf den sich die eben mitgetheilte Stelle des Tagebuchs bezieht, ist wörtlich erhalten:

»Er ist fort Kestner wenn Sie diesen Zettel kriegen, er ist fort. Geben Sie Lottchen inneliegenden Zettel. Ich war sehr gefasst aber Euer Gespräch hat mich aus einander gerissen. Ich kann Ihnen in dem Augenblicke nichts sagen, als Leben Sie wohl. Wäre ich einen Augenblick länger bey euch geblieben, ich hätte nicht gehalten. Nun bin ich allein, und morgen geh ich. O mein armer Kopf.«

Eingeschlossen waren folgende Zeilen an Lotte:

»Wohl hoff ich wiederzukommen, aber Gott weis wann. Lotte wie war mirs bey deinem reden ums Herz, da ich wusste es ist das letztemal dass ich Sie sehe. Nicht das letztemal, und doch geh ich morgen fort. Fort ist er. Welcher Geist brachte euch auf den Diskurs. Da ich alles sagen durfte was ich fühlte, ach mir wars um Hienieden zu thun, um ihre Hand die ich zum letztenmal küsste. Das Zimmer in das ich nicht wiederkehren werde, und der liebe Vater der mich zum letzenmal begleitete. Ich binn nun allein, und darf weinen, ich lasse euch glücklich und gehe nicht aus eurem Herzen. Und sehe euch wieder, aber nicht morgen ist nimmer. Sagen Sie meinen Buben er ist fort. Ich mag nicht weiter.«



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