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Drittes Buch.
Sturm und Drang.

1771 bis 1775.

Es bildet ein Talent sich in der Stille,
Sich ein Charakter in dem Strom der Welt.

 

Trunken müssen wir alle sein,
Jugend ist Trunkenheit ohne Wein.

Erster Abschnitt.
Doktor Goethe's Rückkehr

Wie sein Vater ihn aufnahm. Anfang der Sturm- und Drang-Periode. Goethe's Abneigung, seine Schriften gedruckt zu sehen. Schmerz über die Trennung von Friederike. Gründe, warum er sie nicht heirathete. Goethe wird fleißig. Johann Heinrich Merck. Die Frankfurter Gelehrten Anzeigen. Goethe's Liebhaberei für das Schlittschuhlaufen.

Gegen Ende August 1771 verließ Goethe Straßburg. Sein Weg führte ihn durch Mannheim, und dort ergriff ihn zum ersten Male die Schönheit antiker Kunstwerke, von denen er einige im Gipsabgusse sah. Wie groß auch seine Vorliebe für gothische Kunst sein mochte, diese Abgüsse konnte er nicht ohne das Gefühl sehen, daß er hier eine in ihrer Art auch göttliche Kunst vor sich habe, und sein früheres Studium Lessing's gab der Laokoongruppe ein besonderes Interesse.

Auf der Weiterreise nach Mainz kam ihm ein harfespielender Knabe in den Weg, und er ließ sich einfallen, den zerlumpten Musikanten nach Frankfurt einzuladen, wo er ihm Wohnung zu geben und ihn zu befördern versprach. Glücklicher Weise unterrichtete er die Mutter von dieser Einladung; sie war klug genug, einer Szene mit dem Vater vorzubeugen und außer dem Hause für Wohnung und Pflege des Knaben zu sorgen.

Der alte Rath Goethe war nicht wenig stolz auf den jungen Doktor, aber er nahm auch nicht wenig Anstoß an dem Benehmen des jungen Doktors und schüttelte oft sein altes würdiges Haupt zu den Meinungen, die dieser mitten im Gespräch wie Bomben platzen ließ. Dem jungen Helden der Sturm- und Drangperiode »stack der Doktor gar wenig im Leib«. Diese Periode fing eben an, in Deutschland Aufsehen zu machen und durch neue Schriften, wie Gerstenberg's Ugolino, Goethe's Götz von Berlichingen, und Klinger's Sturm und Drang (welches ihr den Namen gab) alle Regeln über den Haufen zu werfen. Weisheit und Thorheit des Zeitalters gingen mit demselben Strome. Die meisterhaften Kritiken Lessing's, die Begeisterung für Shakespeare, die Manie für Ossian und die nordische Mythologie, die Wiederbelebung der alten Balladen-Literatur und die Verspottung der Franzosen – all das arbeitete vereint in einem Sturme der Empörung gegen Herkommen und Regel. Natur war die allgemeine Losung. Für das junge Deutschland von damals war die Natur, scheint es, eine Mischung von Vulkan und Mondschein; ihre Kraft war stürmischer Ausbruch, ihre Schönheit Empfindung. Stürmisch zu sein und sentimental, wüthig zugleich und thränenreich, das waren die ächten Zeichen des Genie's. Alles Herkömmliche war langweilig. Das Genie haßte das Langweilige und wollte weder regelrecht buchstabiren noch schreiben, noch sich regelrecht aufführen. Deutsch wollte es sein, – regellos, roh, natürlich. Regellos war es und roh auch, aber ob auch natürlich, sofern nämlich die Natur reputirlich ist, das steht dahin.

In der Schilderung der eigenen Lebensbeschreibung erscheint Goethe kaum als ein Führer der Sturm- und Drangperiode, aber manche andere Beweise sprechen laut genug dafür. Aus einem Briefe von einem seiner Straßburger Genossen, Mayer von Lindau, an Salzmann, mögen hier einige Sätze stehen, die in dieser Beziehung ganze Kapitel von Wahrheit und Dichtung aufwiegen. » O Corydon, Corydon quae te dementia cepit? Nach der Kette, nach welcher unsere Ideen zusammenhangen sollen, fällt mir bei Corydon und dementia der närrische Goethe ein. Er ist doch wohl wieder in Frankfurt?«

Ein solcher Jüngling, der im Freundeskreise wegen seiner Wildheit die Spitznamen Bär und Wolf führte, konnte natürlich einem gesetzten förmlichen Manne, wie der Vater war, nicht ganz gefallen. Doch war der würdige Herr nicht wenig stolz auf seine Fortschritte. Die Verse, Aufsätze, Notizen und Zeichnungen, die sich während des Straßburger Aufenthalts angesammelt hatten, machten ihm großes Vergnügen. Sie gewissenhaft und sauber zu ordnen unterhielt ihn, und er hoffte sie bald gedruckt zu sehen. Aber der Dichter hatte eine Tugend, bei jungen Schriftstellern vielleicht die seltenste von allen, die Abneigung nämlich, seine Sachen drucken zu lassen. Der gewöhnlichen Erscheinung gegenüber, daß Leute mit fieberhafter Eile dem äußerst bedenklichen »Bitten von Freunden« nachgeben und kühn in die Oeffentlichkeit sich stürzen, der Hartnäckigkeit gegenüber, mit der sie an allem und jedem festhalten, was sie geschrieben, und alles dieses auch gedruckt zu sehen verlangen, erheischt Goethe's Abneigung wohl eine Erklärung. Und wenn ich von mir selbst urtheilen darf, so ist die Erklärung die, daß seine Freude an schriftstellerischer Thätigkeit mehr der reine Genuß an geistigem Schaffen war als ein Genuß am Ergebniß. »Das Thun interessirt, das Gethane nicht«, sagt er selbst. Sobald er ein Gedicht vollendet hatte, nahm sein Interesse daran ab und er wandte sich zu einem andern. Darum sind so manche seiner Werke unvollendet; sein Interesse war erschöpft, ehe das Ganze beendet war.

Er hatte einen kleinen Kreis von literarischen Freunden, denen er seine Arbeiten mittheilte, und das war für ihn Oeffentlichkeit genug. Wir werden später sehen, wie er in Weimar lediglich für einen Kreis von Freunden schrieb und sich um das große Publikum kaum bekümmerte. Es war für ihn Bedürfniß, sich mit einer Arbeit zu beschäftigen, die ihn so ganz in Anspruch nahm wie damals der Götz. Denn nur bei der Arbeit konnte er die Angst und Gewissensqual vergessen, die an die Trennung von Friederike sich knüpfte. Wenn er in Straßburg gefühlt hatte, dieser süße Roman gehe zu Ende, so mußte er es in Frankfurt, mitten im Familienkreise und mit erweiterten Aussichten vor Augen, noch stärker empfinden. Er schrieb an sie; leider ist der Brief verloren gegangen; er würde manches aufgeklärt haben, was jetzt nur auf Vermuthungen ruht. In der Lebensbeschreibung sagt er Folgendes: »Die Antwort Friederiken's auf einen schriftlichen Abschied zerriß mir das Herz. Es war dieselbe Hand, derselbe Sinn, dasselbe Gefühl, die sich zu mir, die sich an mir herangebildet hatten. Ich fühlte nun erst den Verlust, den sie erlitt, und sah keine Möglichkeit, ihn zu ersetzen, ja nur ihn zu lindern. Sie war mir ganz gegenwärtig; stets empfand ich, daß sie mir fehlte, und was das Schlimmste war, ich konnte mir mein eigenes Unglück nicht verzeihen. Gretchen hatte man mir genommen, Annette mich verlassen, hier war ich zum erstenmal schuldig; ich hatte das schönste Herz in seinem Tiefsten verwundet, und so war die Epoche einer düsteren Reue, bei dem Mangel einer gewohnten erquicklichen Liebe, höchst peinlich, ja unerträglich. Aber der Mensch will leben, daher nahm ich aufrichtigen Theil an andern, ich suchte ihre Verlegenheiten zu entwirren, und was sich trennen wollte, zu verbinden, damit es ihnen nicht ergehen möchte wie mir. Man pflegte mich daher den Vertrauten zu nennen, auch, wegen meines Umschweifens in der Gegend, den Wanderer. Dieser Beruhigung für mein Gemüth, die mir nur unter freiem Himmel, in Thälern, auf Höhen, in Gefilden und Wäldern zu Theil ward, kam die Lage von Frankfurt zu statten, das zwischen Darmstadt und Homburg mitten inne lag, zwei angenehmen Orten, die durch Verwandtschaft beider Höfe in gutem Verhältniß standen. Ich gewöhnte mich auf der Straße zu leben, und wie ein Bote zwischen dem Gebirg und dem flachen Lande hin und her zu wandern. Oft ging ich allein oder in Gesellschaft durch meine Vaterstadt, als wenn sie mich nichts anginge, speiste in einem der großen Gasthöfe in der Fahrgasse und zog nach Tische meines Wegs weiter fort. Mehr als jemals war ich gegen offene Welt und freie Natur gerichtet. Unterwegs sang ich mir seltsame Hymnen und Dithyramben, wovon noch eine, unter dem Titel Wanderers Sturmlied, übrig ist. Ich sang diesen Halbunsinn leidenschaftlich vor mich hin, da mich ein schreckliches Wetter unterwegs traf, dem ich entgehen mußte.«

Obgleich wir die Umstände nicht genau kennen, nach deren Summe sein Benehmen zu beurtheilen ist, so müssen wir doch die Frage stellen, warum er Friederike nicht heirathete. Die Frage ist oft aufgeworfen und eben so oft sophistisch beantwortet. Von der einen Seite hat man ihn eifrig verdammt, von der andern auf das unehrlichste freigesprochen. Aber er selbst erkannte seinen Fehler an; er selbst brachte nie eine Entschuldigung vor; er spricht nicht von der Verschiedenheit der Lebensstellung, nicht von Einwendungen seiner Eltern. Er entschuldigt sich nicht, sondern gesteht sein Unrecht ein und tadelt sich offen und ehrlich. Aber die Entschuldigungen, die er verschmähte, haben andere eifrig hervorgesucht. Den schlimmsten Schmutz skandalöser Nachrede hat man durchwühlt, um Mittel der Verteidigung zu finden. Man hat eine Geschichte aufgebracht, Friederike sei von einem katholischen Geistlichen verführt worden, und daraus soll denn folgen, ein so leichtfertiges Geschöpf habe Goethe natürlich nicht heirathen können, während umgekehrt wieder der Schluß gezogen wird, Goethe's Treulosigkeit sei Schuld an ihrem Falle gewesen. Die thatsächliche Grundlage, auf der diese Lüge beruht, (selbst die ausschweifendste Lüge hat gewöhnlich eine Art von Anhalt) ist nichts weiter, als daß Friederike das verwaiste Kind ihrer Schwester Salome bei sich erzog.

Versuchen wir ohne Sophisterei die wahre Sachlage unparteiisch aufzufassen. Wie mir scheint, war es moralischer von ihm, sie zu verlassen, als wenn er diesen kleineren Fehler zu einem größeren erweitert und das Unrecht eines Treubruchs durch den schlimmeren Treubruch einer Ehe voll Abneigung ohne Liebe vermieden hätte. Die Unbesonnenheit der Jugend und der ungestüme Drang der Leidenschaft führen häufig in übereilte Verbindungen, und in solchen Fällen liebt die formelle Moralität der Welt, welche den Schein mehr berücksichtigt als die Wahrheit, es für edler zu erklären, daß solche unüberlegte Verpflichtungen, selbst wenn die Betreffenden ihre Thorheit einsehen, gehalten werden, als daß eines Mannes Ehre mit der Zurücknahme eines Wortes sich beflecke. So geht der Buchstabe dem Geiste vor; ein Vorurtheil zu befriedigen wird ein Menschenleben geopfert; eine unglückliche Ehe rettet die Ehre, und niemand denkt daran, für all das Elend jenes Vorurtheil verantwortlich zu machen. Ich vergesse dabei nicht, daß nachdrückliche Strenge nöthig ist gegen die gewöhnliche Unbesonnenheit, mit der die Jugend solche Verhältnisse eingeht; ich sage nur, daß, wenn ein solcher leichtsinniger Schritt einmal geschehen ist, man besser thut, den Schmerz der Trennung zu ertragen, als durch eine unsittliche Ehe, die nie zum Guten führt, sich ihn zu ersparen.

Friederike selbst muß das gefühlt haben, denn nie entfiel ihr ein Wort des Tadels, und als sie Goethe nach Jahren wiedersah, begrüßte sie ihn mit alter Zärtlichkeit. Doch spricht ihn das von dem Vorwurf, ihre Neigung unbesonnen gefesselt zu haben, natürlich nicht frei; der Vorwurf bleibt auf ihm haften. Wie schwer er trifft, mag der Leser selbst abmessen, je nachdem ihm persönliches Temperament und die allgemeine Schwäche des menschlichen Geschlechts als Entschuldigung erscheinen.

Trotz dieser entschuldigenden, oder, wenn man will, rechtfertigenden Auffassung bin ich durchaus nicht geneigt zuzugeben, daß die Ehe sein Genie gelähmt hätte. Das ist reine Uebertreibung. Hätte er Friederiken genug geliebt, um sein Leben mit ihr zu theilen, so wäre seine Kenntnis der Frauen wohl weniger ausgedehnt, aber in einer Beziehung doch vollständiger: tiefer wäre sie geworden. Die schöne Hingebung des Weibes an den Mann hat er kennen gelernt und konnte sie darstellen, besser als irgend ein anderer, aber kaum jemals hat er die eigenthümliche Zärtlichkeit des Mannes für das Weib empfunden, wenn diese Zärtlichkeit die Form liebender Sorge und wachsamen Schutzes annimmt. Nur wenig und erst in späteren Lebensjahren hat er erfahren, wie Neigung und Gewohnheit sich zart verweben, und so das Leben mit Liebe gesättigt und die Liebe selbst durch ernste Lebenszwecke verherrlicht wird. Daß er in späteren Jahren dieses Gefühl erlebte, zeigen die Schlußverse der, bekanntlich an seine Frau gerichteten »Metamorphose der Pflanzen«, die hier eine Stelle finden mögen:
»Oh, gedenke denn auch, wie aus dem Keim der Bekanntschaft
Nach und nach in uns holde Gewohnheit entsproß,
Freundschaft sich mit Macht in unserm Innern enthüllte,
Und wie Amor zuletzt Blüthen und Früchte gezeugt.
Denke, wie mannigfach bald die, bald jene Gestalten,
Still entfaltend, Natur unsern Gefühlen gelieh'n!
Freue Dich auch des heutigen Tags! Die heilige Liebe
Strebt zu der höchsten Frucht gleicher Gesinnungen auf,
Gleicher Ansicht der Dinge, damit im harmonischem Anschau'n
Sich verbinde das Paar, finde die höhere Welt.«
(Anm. d. Uebers.)
Nur wenig wußte er von jener auserlesenen Gemeinschaft zweier Seelen, die in liebendem Wetteifer besser, weiser zu werden streben und eine die andere zum Höheren sich aufzuschwingen lehren. Nur wenig wußte er davon, und der Kuß, den er auf Friederikens liebende Lippen zu drücken anstand, das Leben geistiger Gemeinschaft, das er mit ihr zu theilen ausschlug – die mangeln der Größe seiner Werke.

Bei einer solchen Stimmung, wie sie dem Bruch mit Friederike folgte, ist es nicht zu verwundern, daß das Frankfurter Leben und die Führung von Rechtsgeschäften ihm verhaßt waren; nur tüchtige Arbeit konnte ihm helfen, und tüchtig ging er an die Arbeit. Wie der Briefwechsel mit Herder beweist, las er damals die Griechen mit großem Eifer; seine Briefe sind reich an Anführungen aus Plato, Pindar und Homer; ja, »die Griechen (heißt es darin) sind mein eintzig Studium.« Daneben behauptete sich indeß der Götz. Die Beschäftigung damit war ihm zur Leidenschaft geworden. Die Gothische Kunst, ein verwandter Gegenstand, zog ihn zugleich an, und von da war der Uebergang zu der Bibel leicht, die er von Neuem studirte. Die Ergebnisse dieses Studiums liegen in zwei kleinen Abhandlungen vor, die er 1773 unter dem Titel: »Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***« und »Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen, zum erstenmal gründlich beantwortet von einem Landgeistlichen in Schwaben« drucken ließ. Darin ist der Einfluß von Fräulein von Klettenberg an dem religiösen Gefühl und der Verehrung für die Bibel ersichtlich, während seine eigene milde Natur aus der Toleranz spricht, die er predigt. In der ersten biblischen Frage soll der Beweis geführt werden, daß es nicht die zehn Gebote gewesen, die auf den Tafeln des Moses gestanden, sondern zehn Gesetze des israelitischen Jehovahbundes; in der zweiten findet die Frage: »Was heißt mit Zungen reden?« eine nicht eben klare Beantwortung. Er nennt es eine »Sprache des Geistes, mehr als Pantomime, doch unartikulirt.«

Aus dem Kreise der Freunde, denen er seine schriftstellerischen Gedanken und Entwürfe mittheilte, verdienen zwei besondere Erwähnung: Schlosser, den wir schon von Leipzig her kennen, und Merck, der bald einen sehr wohlthätigen Einfluß übte. Das Charakterbild, welches Goethe in Wahrheit und Dichtung von diesem merkwürdigen Manne entwirft, giebt eine sehr ungenaue Vorstellung von ihm und bedarf der Berichtigung aus anderen Zeugnissen; besonders kann der Beiname »Mephistopheles Merck« leicht irre führen; denn wie geneigt auch Merck zum Spott sein mochte, so ist doch unzweifelhaft, daß er auch warm und aufrichtig bewundern konnte und daß er seinen Einfluß auf Goethe durchweg zu freundschaftlicher Ermunterung und freundschaftlicher Warnung benutzte.

Johann Heinrich Merck war 1741 in Darmstadt geboren. Eines Apothekers Sohn, erhob er sich durch eigene Kraft zum Genossen von Fürsten. Zu der Zeit, von der wir reden, war er Kriegsrath in Darmstadt und stand mit den meisten Berühmtheiten des Tages in Verkehr; so mit Herder, der von seinen Fähigkeiten die höchste Meinung hatte und seine Freundschaft sich zu bewahren eifersüchtig bestrebt, namentlich aber besorgt war, daß die neue Bekanntschaft mit Goethe nicht zwischen sie trete, was freilich nachher doch geschah. Merck hat in der Geschichte der deutschen Literatur eine hohe Bedeutung; wie sein Briefwechsel beweist, übte er mit seiner Kritik auf Männer Einfluß, die an Produktivität ihm weit überlegen waren. Er war einer der eifrigsten Beförderer der Kenntniß englischer Literatur; Hutcheson's Schrift über die Schönheit, Addison's Cato und Shaw's Reisen in der Levante hatte er übersetzt, und das junge Geschlecht der Shakespeare-Verehrer fand ihn geneigt, auf ihre Begeisterung einzugehen. Im Jahre 1772 bewog er Schlosser, die Herausgabe der Frankfurter Gelehrten Anzeigen zu übernehmen, und seine Beiträge zu diesem amtlichen Organ der Sturm- und Drang-Partei waren zahlreich und werthvoll. Seine Amtsgeschäfte müssen ihm nicht schwer aufgelegen haben, denn er machte häufig Reisen und hielt sich, wie es scheint, zeitweise in Frankfurt auf. Zwischen Goethe und ihm bildete sich bald eine warme Freundschaft; er hatte in dessen wunderbares Genie eine tiefere Einsicht als Herder, und aus seinen kritischen Bemerkungen spricht immer ein klarer Blick und wahrhafte Achtung.

Die Frankfurter Gelehrten Anzeigen waren ein Vereinigungspunkt, der Goethe mit vielen fähigen Köpfen in Berührung brachte. Auch gaben sie ihm Gelegenheit, sich selbst im Recensiren zu üben. Von den Aufsätzen, die er für dieses Blatt schrieb, sind fünf und dreißig in seine Werke aufgenommen, und wer Neigung hat, mag sie dort nachsehen.

Unter solchen Beschäftigungen floh ihm die Zeit rasch dahin. Er hatte wieder angefangen, zu reiten und zu fechten, und als Klopstock das Schlittschuhlaufen einführte, wurde es bald das Lieblingsvergnügen unserer Freunde. Goethe ward nie müde es zu treiben. Einen herrlichen Sonnentag auf dem Eise zu verbringen, genügte ihm nicht; bis spät in die Nacht setzte er die Bewegung fort, und »wenn über den nächtlichen weiten Eisfeldern der Vollmond aus den Wolken hervortrat, in seinem Lauf die Nachtluft ihm entgegenwehte und der Donner des bei abnehmendem Wasser sich senkenden Eises geisterhaft rollend an sein Ohr schlug«, so fühlte er sich ganz in der ossianischen Welt. Zu Hause trieb er Musik, spielte Cello und wie er an Salzmann schrieb, fing er an, die Dinge »ernster zu nehmen«, – nicht allzu ernst.

Es ist schon vorhin angedeutet, daß das Sturm- und Drang-Wesen, wie es in Sinn und Benehmen des jungen Doktors sich kund gab, bei dem alten Rath Goethe nur sehr mäßigen Beifall fand, und wie gern unsere Neigung auch dem Dichter Recht geben mag – seien wir nicht ungerecht, geben wir zu, daß der alte Rath genügende Ursache hatte zu väterlicher Besorgniß, und so, ohne ein hartes Wort gegen den Vater, folgen wir dem Sohne nach Wetzlar.



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