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Viertes Buch.
Die Genieperiode in Weimar.

1775 bis 1779.

Welch' ein erhabener Fremdling erscheint auf unseren Fluren?
Welch' ein Gesicht! wie gewaltig die Brust! wie mächtig die Schultern!
Wahrlich ich täusche mich nicht, er gehört zum Stamme der Götter.

Virgil.

 

»Tolle Zeiten hab' ich erlebt und hab' nicht ermangelt,
Selbst auch thöricht zu sein, wie es die Zeit mir gebot.«

Erster Abschnitt.
Weimar im achtzehnten Jahrhundert

Beschreibung Weimar's. Die Wartburg. Festhalle der Minnesänger. Der Park von Weimar. Die Sage von der Weimarschen Schlange. Reizende Umgebungen. Stand der Wissenschaft. Mangel an Comfort und Luxus. Einfachheit der Sitten. Preise und Werthe. Lage des Volkes. Exklusivität des Hofes. Goethe gegen seinen Wunsch geadelt. Ein wirkliches Publikum für die Kunst gab es in Weimar nicht. In der Kunst muß die Nation mit dem Genie des Einzelnen zusammenwirken.

Es war am siebenten November 1775, als Goethe, sechsundzwanzig Jahre alt, in der Hauptstadt des kleinen Fürstenthums eintraf, das sein langjähriger Aufenthalt mir unsterblichem Ruhm verherrlichen sollte. Man darf den äußern Umfang dieses Fürstenthums nicht zum Maßstabe seines Ranges machen. War doch auch jenes Athen, mit dem sich Weimar so gern vergleichen läßt, nur ein Punkt auf der Oberfläche Europas, ein Fleckchen Erde, um einige zwanzigtausend freie Männer zu ernähren, die nicht nur die Herrschaft ihrer Waffen von Euboea zum thracischen Bosporus ausbreiteten, sondern auch ihre Schöpfungen in Literatur, Kunst und Philosophie als ewige Muster für die gebildete Welt hinterließen. Die Einkünfte des Ländchens sind so lächerlich gering, daß, wie ich aus guter Quelle weiß, der Großherzog öfters einen Diamantring oder eine Dose verkauft hat, um einen armen Dichter oder Künstler zu unterstützen; aber um so staunenswerther ist es, welchen Einfluß sich ein Staat von so beschränkten Mitteln zu erwerben wußte. Nächst dem Hofe von Berlin giebt es keinen, auf den die deutsche Nation so stolz ist, wie auf den von Sachsen-Weimar.

Es ist vor allen Dingen notwendig, sich von der neuen Heimath des Dichters einen bestimmten Begriff zu bilden, wenn man sein Leben völlig verstehen will.

Weimar ist eine alte Stadt an der Ilm, einem kleinen Flüßchen, das im thüringer Walde entspringt und sich einige Stunden unterhalb Jena in die Saale ergießt; einem Flüßchen, das keine Schifffahrt zu haben scheint, außer der der Enten, und das sich friedlich durch liebliche Thalgründe hinwindet, außer in der Regenzeit, wo es von Gebirgswassern anschwillt und seine Ufer überfluthet. Die Stadt liegt im Ilmthal höchst anmuthig, etwa achthundert Fuß über dem Meeresspiegel.

Beim ersten Anblick erscheint Weimar mehr wie ein Dorf, das an einen Park stößt, als wie eine Hauptstadt mit einem Hofe und Zubehör. Es ist so still, so bescheiden und hat, obgleich von alterthümlicher Bauart, doch nichts von dem Malerischen, woran sich das Auge in den meisten alten deutschen Städten entzückt. Die steinfarbigen, hellbraunen oder apfelgrünen Häuser haben spitzzulaufende Dächer, allein man sieht keine wundersamen Giebel, keine Spiele der architektonischen Phantasie, kein Gemisch verschiedener Stilarten, wie sie anderswo den Reisenden fesseln. Man lernt seine stillen, einfachen Straßen und freundlichen Fußwege lieben; sie sind ein passender Schauplatz für die einfachen Menschen, welche sich über die Scene bewegen; aber man muß erst einige Zeit dort gelebt haben, um den Reiz zu entdecken.

Der Anblick, den es darbot, als Goethe hinkam, war natürlich von dem jetzigen sehr verschieden; die Hauptzüge des Bildes lassen sich noch wiedergeben. Zunächst standen die Stadtmauern noch; Thore und Fallgatter erinnerten an die Zeiten der Fehden. Innerhalb dieser Mauern gab es sechs- bis siebenhundert Häuser, nicht mehr; die meisten davon sehr alt; darin lebten etwa siebentausend Einwohner, – die Mehrzahl davon nicht hübsch. Die Stadtthore wurden streng bewacht. Niemand durfte mit Karren oder Wagen hindurch, ohne seinen Namen in das Wachtbuch einzutragen; selbst Goethe, der Minister und Günstling, konnte sich dieser lästigen Förmlichkeit nicht entziehen; in einem seiner Briefe ersucht er Frau von Stein, allein auszugehen und ihn vor dem Thore zu treffen, damit ihr gemeinsames Ausgehen nicht bekannt werde. Sonntags während der Predigt ward eine Kette über sämmtliche zur Kirche führende Straßen gezogen, um den Durchgang abzusperren. Nachts war es in diesen schweigenden Straßen sehr unsicher, denn war auch die Gefahr von Straßenräubern nicht groß, so mußte man dafür in steter Besorgniß sein, in einem der vielen Löcher ein Bein zu brechen, da die Idee, die Straßen zu beleuchten, den Thüringern noch nicht in den Sinn gekommen war. Im Jahre 1685 wurden die Straßen von London zuerst mit Lampen versehen, und in Deutschland, zumal in dem kleinen Weimar, kannte man damals (1775) noch keine Straßenbeleuchtung.

Das Schloß, welches jetzt drei Seiten eines Rechtecks einnimmt und einen wahrhaft königlichen Anblick gewährt, lag bei Goethe's Ankunft in Asche. Das herzogliche Paar bewohnte das gegenüberstehende Fürstenhaus. Der Park war noch nicht da. An seiner Stelle befand sich der »welsche Garten«, ein Garten im Geschmack von Versailles, mit Bäumen, die in verschiedene Gestalten ausgeschnitten waren, mit viereckigen Beeten, Canälen, Brücken und einem babylonischen Wendelthurm, die Schnecke genannt, wo man zusammenkam, um Musik zu hören, Punsch zu trinken und Kuchen zu essen. Links an diesen Garten stieß der Grundstamm des gegenwärtigen Parks und ein waldiges Gebiet, das sich bis nach Oberweimar erstreckte.

Das Weimarsche Land hat keinen Handel, keine Fabriken, kein politisches, selbst kein theologisches Leben. Man wird sich erinnern, daß dieser Theil von Sachsen die Heimath und der Zufluchtsort des beginnenden Protestantismus war. Nur wenige Meilen von Weimar entfernt steht die Wartburg, wo Luther, als Junker Georg verkleidet, in aller Ruhe seine Bibel übersetzte und, ein rüstiger Kämpe wie er war, dem Teufel das Dintenfaß an den Kopf warf. Auf dem Markte in Weimar stehen noch heutzutage zwei Häuser, aus deren Fenstern Tetzel seinen Ablaß verkündigte und Luther in feurigem Zorn dagegen donnerte. Die Wahrzeichen des religiösen Kampfes sind noch da, aber sie rufen nicht mehr zur Fortsetzung des Krieges auf; das Feuer ist ausgebrannt und vielleicht in keiner Stadt Europa's ist die Theologie so friedfertig, die Polemik so vollständig verstummt. Die Wartburg erhebt noch immer ihre malerischen Zinnen, und Luther's Zimmer wird noch von Tausenden besucht, allein man kann es als ein Symbol des gegenwärtigen Zeitgeistes betrachten, daß die Halle der Minnesänger in höherem Glanze, als sie je besessen, wiederhergestellt wird, während Luthers Reliquien einfach erhalten werden. Die lutherische Theologie zerbröckelt, sowie der berühmte Tintenfleck unter den Messern der Besucher allmälig verschwunden ist, aber das Sängerthum, auf welches Deutschland so stolz, empfängt täglich neue Ehren und Huldigungen.

Die Poesie ist Weimars Ruhm. Dem entsprechend liegt seine Schönheit nicht in großartigen Kirchen, in malerischen alten Gebäuden, sprechenden Darstellungen des Mittelalters, sondern in der stillen Lieblichkeit seines reizenden Parks. Der Park steht im Vordergrunde des Gemäldes und steigt in jeder Erinnerung zuerst empor. Wer je das Glück genossen hat, seine sonnigen Wege und labyrinthischen Schatten zu durchwandern, seine tausendfachen Schönheiten in der Fülle des Sommers, die ergreifenden Gegensätze der Farben im Spätherbste zu beobachten, der wird es nicht mehr räthselhaft finden, wie Goethe zufrieden sein konnte, sein Dasein in diesem Städtchen hinzubringen. Der Park ist fast ganz seine Schöpfung und da er in seinem Leben eine wichtige Stellung einnimmt, so verdient er hier mehr als eine flüchtige Erwähnung.

Südwärts vom Schlosse fängt er an; weder Mauer noch Eisengitter, weder Schildwache noch Thürsteher, die uns möglicherweise den Eintritt verwehren könnten; treten wir ein und sehen uns um. Wir können ungestört lustwandeln, im Thau des Morgens und im Schweigen des Mondlichts, als wären wir in unserm eigenen Garten. Das Land streckt sich stundenweit ohne Abgrenzung hin; Park und Kornfelder bilden ein einziges freundliches Ganzes. Kommen wir durch das Schloßthor herein, so führt uns ein gewundener Pfad rechts zur Belvedere-Allee, einer prachtvollen Doppelreihe von Kastanien, die sich über eine halbe Stunde lang von der neuen Straße bis zum Sommer-Palast Belvedere erstreckt. Sie bietet einen schattigen Spaziergang durch die ganze Länge des Parks, der im Sommer durch seine Kühle anzieht, im Herbst das schöne Ansehen eines Laubganges von Goldbäumen trägt. Sie endet in den Gärten von Belvedere, dessen Park gleichfalls vortrefflich angelegt ist und von den Weimaranern als Vergnügungsort benutzt wird.

Bleiben wir, statt in die Belvedere-Allee zu treten, innerhalb des Parks, so liegen so viele Wege vor uns, daß die Wahl schwer wird. Gehen wir über die Sternbrücke, die vom Schlosse hinüber führt. Wir wenden uns zur Rechten und schreiten unter mächtigen Bäumen hin, zwischen denen

Ein sanfter Bach die ganze Nacht
Im süßen Monat Mai
Den träumerischen Wipfeln singt
Die leise Melodei.

Wir erreichen die breite Straße, die nach Ober-Weimar führt. Auf dieser Straße, die eine von der Ilm bewässerte Wiese begrenzt, kommen wir an Goethe's (später zu beschreibendem) Gartenhause vorbei, überschreiten, rund um die Wiese biegend, eine zweite Brücke und betreten einen Pfad, den malerisch gruppirte Bäume überschatten – die ernste Fichte, die Buche, deren silberweißer Stamm durch sein dunkles Moos noch glänzender erscheint, die Trauerbirke mit ihren zarten luftigen Formen, die Platane, die Ulme, die Kastanie, die Eberesche, deren schimmernde Beeren wie Korallengehänge gegen den tiefblauen Himmel abstechen. Die eine Seite dieses Weges ist steil und wird durch moosbedeckte Felsmassen gebildet; auf der andern fließt die Ilm. Wenige Schritte von der Brücke, die uns hergeführt, steht das Borkenhaus, eine Einsiedlerhütte, die Goethe zu einem Geburtstage der Herzogin aufgebaut hatte, und die später der Lieblingswohnsitz des Herzogs wurde. Sie ist nur zwanzig Fuß lang und vierzehn Fuß breit, völlig aus Holz gebaut und mit Baumrinde belegt; mitten unter Bäumen lehnt sie sich an einen Felsen; eine hölzerne Gallerie, zu der man auf rohen Holzstufen hinaufsteigt, läuft rings um sie her. Wo ist der Fürst, der heutzutage in einer solchen Hütte leben möchte? Wo sind die Minister, die darin Staatsrath halten würden? Und doch, Karl August lebte hier allein, glücklich, dem Zwang der Etikette und den ermüdenden Festen eines kleinen Hofes zu entrinnen. Hier verhandelte er Staatsgeschäfte, die wenn sie für die europäische Politik keine Bedeutung hatten, für ihn nicht weniger wichtig waren; hier badete er in der Ilm, die unter dem Hause hinfließt; hier konnte er das Haus seines Dichters sehen und ihm über den Park hin telegraphiren. In diesem einzigen Zimmer, das zugleich Speisesaal, Conferenz-, Studir- und Schlafzimmer war, lebte der mannhafte Herzog ganze Monate lang allein.

Vom Borkenhause führt uns eine kleine steinerne Treppe zu einer künstlichen Ruine, und von da ein schmaler gewundener Fußsteig zu einem Steindenkmal, das als Veranlassung einer Sage von Interesse ist. Es ist eine antike Säule, vier Fuß hoch, um die sich eine Schlange windet, welche im Begriff steht, die oben hingestellten Opferkuchen zu verzehren; es trägt die Inschrift: »dem Genius des Ortes.«

Ich will den Leser nicht damit ermüden, daß ich ihn ganz durch den lieben Park schleppe, dessen Anschauung durch die Beschreibung doch nicht zu ersetzen ist; für den gegenwärtigen Zweck genügt es, hinzuzufügen, daß, wie der Sommerpalast Belvedere mit Weimar durch die Kastanienallee verbunden ist, so auch der Park des Sommerschlosses Tiefurt mit Weimar durch ein dichtbelaubtes Gehölz, das Webicht, zusammenhängt. Dies Tiefurt ist ein lilliputisch kleiner Ort, ein wahres Wunder von Kleinheit. Der Park, den ein Arm der Ilm durchfließt, ist klein, aber malerisch; der obere Stock des Schlosses ist ein Labyrinth von winzigen Zimmern, manche so eng, daß man, mit dem Rücken an die eine Wand gelehnt, die gegenüberstehende mit der Hand erreichen kann. Hier lebte die Herzogin Amalie.

»Ich bin seit fünfzig Jahren hier,« sagte Goethe zu Eckermann, »und wo bin ich nicht überall gewesen? aber ich bin immer gern nach Weimar zurückgekehrt.« Der Fremde mag sich wundern, worin der Zauber lag; aber wenn man in Weimar lebt, so entdeckt man das Geheimnis. Ein wesentlicher Reiz liegt in den Umgebungen. Da ist zuerst Ettersburg, mit seinem Schlosse, seinem Park und seinen Wäldern, kaum eine Stunde von der Stadt. Da ist Berka mit seinem reizenden Thal, ein paar Stunden entfernt, ein Lieblingsplätzchen für jeden Fußgänger. Ein wenig weiter ab liegt Jena und sein entzückendes Thal, von dessen Höhen man auf den düsteren Ort herabsieht, der durch so manche hellklingende Namen berühmt geworden ist. Jena war für die Wissenschaft, was Weimar für die Poesie. Da waren im Laufe der Jahre Männer versammelt, wie Griesbach, Paulus, Baumgarten-Crusius, Danz für die Theologie; Schelling, Fichte, Hegel, Reinhold, Fries für die Philosophie; Loder, Hufeland, Oken, Döbereiner für die Naturwissenschaften; Luden, Schulz und andere für die Geschichte. Auch die Schlegels und die Humboldts haben dem Städtchen ihren Glanz geliehen. Nächst Jena sind dann Ilmenau, Eisenach, die Höhen des thüringer Waldes und sein Saalthal zu nennen: ein Kreis von Schönheiten, um auch den ruhelosesten Wanderer zu fesseln.

Nachdem wir so die Hauptzüge des Ortes aufgefaßt haben, wird es passend sein, auch dem Charakter der Zeit einige Aufmerksamkeit zu schenken, um die Welt, in der der Dichter lebte, ganz zu verstehen. Das ist nicht ohne Mühe. Die Bücher über Goethe sind zahllos; aber es ist kein einziges darunter, das über die äußeren Verhältnisse, in denen er sich bewegte, den gewünschten Aufschluß gäbe.

Wir müssen daran erinnern, daß wir uns mitten im achtzehnten Jahrhundert befinden. Die französische Revolution zieht erst ihre Kräfte zusammen; fast zwanzig Jahre müssen noch verfließen, ehe der Sturm zum Ausbruch kommt. Die Kluft zwischen dieser Zeit und der unsrigen ist weit und tief. Jede Einzelheit bestätigt das. Um mit der Wissenschaft – dem Leitsterne der allgemeinen Bildung – anzufangen, so genügt die Bemerkung, daß eine Chemie noch nicht vorhanden war. Hinreichender Stoff war allerdings da, aber das, was die Wissenschaft zur Wissenschaft macht, die Sicherheit der Berechnung, die sich auf genaue Messung gründet, fehlte, und die Alchymie behauptete noch ihren Platz unter den kämpfenden Theorien. Goethe beschäftigte sich in Frankfurt mit Forschungen nach der »jungfräulichen Erde.« Nach dem Stein der Weisen ward noch vielfach und eifrig gesucht. Im Jahre 1787 sandte Semler der Akademie in Berlin seine Entdeckung ein, daß das Gold sich in einem gewissen flüchtigen Salze erzeuge, wenn man es feucht und warm halte. Klaproth prüfte dies im Aufträge der Akademie und fand in der That ein Goldblättchen darin, – welches Semler's Bedienter hineingesteckt hatte, um seinen gläubigen Herrn anzuspornen. Es war die Zeit, wo es trotz aller Bemühungen der Encyclopädisten, trotz der philosophischen und religiösen »Aufklärung,« trotz Voltaire und la Mettrie einem Grafen St. Germain und Cagliostro möglich war, Tausende zu betrügen, wo Casanova einer Herzogin einreden konnte, er vermöge ihre Jugend herzustellen und ihr vom Monde Kinder zu verschaffen. 1774 war es, wo Mesmer ganz Wien mit seinen magnetischen Wundern in Staunen setzte. Die geheimen Gesellschaften der Freimaurer und Illuminaten, mystisch in ihren Ceremonien und chimärisch in ihren Hoffnungen, bald mit dem Stein der Weisen, bald mit der Vervollkommnung der Menschheit beschäftigt, blühten in allen Gegenden Deutschlands und hatten Anhänger in allen Kreisen.

Wo die Wissenschaft in solchem Zustande war, mußte es mit den Bequemlichkeiten und Genüssen des Lebens dürftig genug bestellt sein. Landstraßen zum Beispiel gab es nur in einigen Theilen von Deutschland; Preußen hatte vor 1787 keine Chaussee. Meilensteine waren unbekannt, wenn auch Wegweiser vorkamen. Statt daß man das Reisen zu erleichtern gesucht hätte, galt es für volkswirthschaftliche Weisheit, es möglichst zu erschweren, denn je länger jemand im Lande bleibe, desto mehr Geld verzehre er darin. In England kannte man Postkutschen schon ein Jahrhundert früher; in Deutschland waren die öffentlichen Fuhrwerke selten und erbärmlich: einfache offene Karren mit ungepolsterten Sitzen. Wagen mit Sprungfedern waren vor 1800 nicht bekannt, und was sie noch vor dreißig Jahren zu sein pflegten, wird manchem Leser in harter Erinnerung sein. Was die Schnelligkeit der Beförderung betrifft, so hob man bei Postfahrten mit Stolz hervor, daß man wenigstens auf besuchten Straßen selten länger als eine Stunde auf die Pferde zu warten brauche. Eine deutsche Meile wurde von der Schnellpost in fünf Viertelstunden zurückgelegt. Ein Brief brauchte von Frankfurt a. M. nach Berlin neun Tage. Die Neuigkeiten verbreiteten sich so langsam, daß, wie wir aus dem Briefwechsel G.'s mit der Stein ersehen, ein so gewichtiges Ereigniß, wie der Tod Friedrichs des Großen, eine Woche nachher in Karlsbad nur als Gerücht bekannt war; »das müßt ihr in Weimar nun schon gewiß wissen,« schreibt Goethe, »wenn es wahr sein sollte.« Unter solchen Verhältnissen reiste man natürlich wenig und meist zu Pferde. Die Beschaffenheit der Wirthshäuser bei der Seltenheit der Reisenden und der allgemeinen Unvollkommenheit der häuslichen Einrichtungen kann man sich denken.

Wie sehr es an allen Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten des Lebens fehlte, sieht man aus den Memoiren der Zeit und solchen Schriften, wie Bertuchs Modejournal. So nothwendige Dinge, wie gute Schlösser, schließende Thüren, leicht zu öffnende Schubladen, erträgliche Messer, Wagen auf Federn, Betten, worin ein Christenmensch, der nicht ein Deutscher ist, schlafen kann, sind in Thüringen immer noch Seltenheiten; aber damals, wo ein verdeckter Rinnstein noch ein unbekanntes Ding und ein Postbüreau eine Chimäre war, gehörte natürlich alles, was wir Comfort nennen, ins Gebiet der Fabel. Das Hausgeräth war selbst in Palästen höchst einfach. In den Häusern reicher Bürger waren Stühle und Tische von gewöhnlichem Tannenholz; erst mit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts kam Mahagoni in Aufnahme. Die Stühle waren mit grobem grünen Tuch überzogen, eben so die Tische, und Teppiche dämmern erst jetzt als ein möglicher Luxus im Nationalbewußtsein auf. Die Fenster waren mit wollenen Gardinen behängt, wenn man sich überhaupt auf solche Verschwendung einließ. Armstühle gab es nicht; der einzige Lehnstuhl, den man duldete, der sogenannte Großvaterstuhl, blieb der Würde oder Schwäche des grauen Alters vorbehalten.

Der Salon oder das Empfangszimmer für besonders geehrte Gäste hatte natürlich einen gewissen festlichen Anstrich. Da hingen Gardinen; die Wände waren mit Familienbildern oder sonstigen Schöpfungen provinzieller Talente geschmückt; die Tische erfreuten das Auge mit Porzellan in Form von Bechern, Vasen, unmöglichen Schäfern und höchst allegorischen Hunden. In dieses Zimmer ward der Ehrengast eingeführt und zu jeder Tageszeit mit Erfrischungen bewirthet; eine Sitte, die auf alterthümlicher Gastfreundschaft und schlechten Gasthöfen beruhte und auch in England vor kurzem noch nicht ausgestorben war, ja vielleicht in einigen Provinzialstädten noch fortlebt.

Man gab damals für Essen und Trinken aus, was man jetzt auf äußere Eleganz verwendet. Niemand, als etwa ein Edelmann vom höchsten Range, besaß eine goldene Tabacksdose; selbst ein Stock mit goldenem Knopf gehörte zu den Seltenheiten. Der Stutzer begnügte sich mit einer silbernen Uhr. Die vornehme Dame prunkte allenfalls mit einer goldenen, die an schweren Ketten hing; aber es war ein Erbstück. Ein funkelndes Tischgeräth unserer Tage von Silber, Glas und Porzellan neben dem Zinn, von dem damals selbst der Adel speiste, – der Gegensatz reicht hin, uns den Abstand der Zeiten lebendig fühlbar zu machen. Eine silberne Theekanne mit Präsentirbrett galt als ein fürstliches Prachtstück.

Die Sitten waren rauh und einfach. Die Dienstboten aßen an demselben Tisch mit der Herrschaft und nahmen Theil an den plumpen Scherzen, die damals für Witz galten. Kindlicher Gehorsam ward mit aller Strenge eingeschärft, und Stock oder Ruthe mußten das väterliche Ansehen oft unterstützen. Die Brüder übten eine beinahe väterliche Gewalt über ihre Schwestern. Ueberhaupt war die Stellung der Frauen der Art, daß unsre Damen schwerlich ohne Entrüstung davon hören dürften; sie waren nicht nur dem Joche der Väter, Gatten und Brüder unterworfen, sondern die Vorurtheile der Gesellschaft beschränkten auch ihre Handlungen noch weit mehr als jetzt. Zum Beispiel konnte keine Frau der höhern Bürgerklasse allein ausgehen; das Dienstmädchen folgte ihr zur Kirche, in den Laden und selbst auf dem Spaziergange.

Die Derbheit der Sprache kann man aus unserer eigenen Literatur jener Zeit entnehmen. Die Rohheit der Sitten zeigt sich in Scenen, wie die im Wilhelm Meister, wo die »schöne Seele« in ihren Bekenntnissen (sie spricht von seinen, vornehmen Kreisen) erzählt, wie in einer Abendgesellschaft Pfänderspiele vorgenommen werden; eine der Auslösungen besteht darin, daß ein Herr jeder Dame etwas Verbindliches sagen soll; er flüstert der einen Dame etwas zu, und deren Mann giebt ihm dafür eine Ohrfeige mit solcher Gewalt, daß der Puder seines Haars der »schönen Seele« in die Augen fliegt; als sie wieder sehen kann, erblickt sie den Ehemann, der seinen Degen gezogen und den Beleidiger verwundet hat, und ein Duell in Gegenwart der Frauen wird nur dadurch verhindert, daß man den einen der beiden Gegner aus dem Zimmer bringt.

Es wird nicht überflüssig sein, ein Paar Bemerkungen über die Preise der Dinge hinzuzufügen. Wir werden bald hören, daß die Pension, die Schiller vom Herzoge erhielt, in jährlich 200 Thalern, daß Goethe's Gehalt als Legationsrath in 1200 Thalern bestand. Diese Summen erhalten indeß eine wesentlich andere Bedeutung, wenn man die niedrigen Preise der Lebensbedürfnisse in Anschlag bringt. So finden wir in Schiller's Correspondenz mit Körner, daß er ein Reitpferd auf den Tag für sechs Groschen miethet und die Abschrift eines Bogens Manuskript von sechzehn Seiten mit anderthalb Groschen bezahlt. Die Abschrift des ganzen Don Carlos kostete nur einen Thaler sechzehn Groschen. Für eine möblirte Wohnung von zwei Zimmern und einem Schlafkabinet giebt Schiller vierteljährlich 17½ Thaler. (Charlotte von Kalb schreibt 1796 an Jean Paul, seine Wohnung würde ihn das Vierteljahr nur zehn Thaler kosten). Sein Bedienter, der im Nothfall auch als Secretair dienen kann, erhält vierteljährlich 6 Thaler. Bei einer Gesammtberechnung sagt er: »Wäsche, Friseur, Bedienung und dergleichen wird alles vierteljährlich bezahlt, und kein Artikel kostet über zwei Thaler: so daß ich nach einem gar nicht strengen Anschlag über vierhundertfunfzig Thaler schwerlich brauchen werde.« Auch als er bereits verheirathet ist und seine Kinder heranwachsen, meint er: »mit achthundert Thalern kann ich hier in Jena recht artig leben.« Es ergiebt sich von selbst, daß es auch in Weimar keines großen Aufwandes bedurfte.

Das Leben einer kleinen Provinzialstadt, in der sich ein Hof befindet, ist natürlich der Ausdruck dieses Gegensatzes von Hof und Bürgerthum. Im Theater hatte bis 1825 nur der Adel Zutritt zu den Logen, und wenn die Jenenser Studenten ins Parterre kamen und das Weimarsche Publikum hinausdrängten, so mußte dies entweder nach Hause gehn oder sich Parterre- und Gallerieplätze von den Studenten erobern. Selbst als das Theater neu gebaut und die Logen den Bürgerlichen geöffnet wurden, blieben diese auf die linke Seite des Hauses beschränkt, und die rechte ward mit voller Energie für die Von's behauptet. Dies dauerte bis 1848; seitdem erhält jeder den Platz, für den er bezahlen will.

Um die Herrschaft des Hofes über die Stadt in ihrer ganzen Bedeutsamkeit zu würdigen, müssen wir uns erinnern, daß selbst ein so entschiedener Demokrat wie Herder seinen mehr als zweifelhaften pfalzgräflichen Adel geltend zu machen suchte, um Zutritt bei Hofe zu erlangen. Er wurde abgewiesen, und das Mißlingen des Versuchs machte ihn nicht wenig lächerlich. Wir müssen uns erinnern, daß Goethe wider seinen eigenen Willen genöthigt ward, sich adeln zu lassen, und daß sich Schiller, um nicht von der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein, in der seine Frau zu erscheinen berechtigt war, nicht ohne Bitterkeit und ohne Klagen über die Kosten der gleichen zweideutigen Ehre unterwarf. So stolz Schiller war, so war doch, wie er selbst erklärt, die Annahme des Titels unabweislich. »In einer kleinen Stadt wie Weimar,« schreibt er an Körner, »ist es immer ein Vortheil, daß man von nichts ausgeschlossen ist. Denn das fühlt sich hier doch zuweilen unangenehm, während man in einer größeren Stadt gar nichts davon gewahr wird.« Noch lange Zeit, nachdem Goethe geadelt war, hieß es in Weimar, die Erhebung habe nur den Zweck gehabt, ihm die Heirath mit der Baronin von Stein zu ermöglichen. Das war ein Irrthum; die Heirath war ihm nie in den Sinn gekommen. Der Grund lag tiefer. Selbst Karl August, so entschlossen und herrisch er auch in der Vertheidigung seines Freundes auftrat, fühlte die Unmöglichkeit, den Kampf mit den Vorurtheilen seines Adels durchzuführen, und die Nothwendigkeit, den Dichter durch einen Titel zum Zutritt bei Hofe zu berechtigen. Die Herzogin Amalie übernahm es, ihn von dieser Nothwendigkeit zu überzeugen.

Man darf sich darüber nicht wundern. Kasten sind Kasten und wehren sich gegen Eindringlinge; und wir, die wir mit Ehrfurcht zu Geistern wie Goethe, Schiller und Herder emporblicken, für die sie die Edelsten unter den Edlen sind, legen einen wesentlich andern Maßstab an, als den die Von's naturgemäß anlegen mußten. Man darf sich dabei durch die Geringfügigkeit des Weimarschen Hofes nicht beirren lassen. Es ist ganz richtig, daß dieser Hof den Begriffen von Pracht, Größe und politischer oder historischer Bedeutung, die man mit der Vorstellung eines Hofes zu verbinden pflegt, durchaus nicht entsprach. Aber wie die Gefühle beim Spiel weit weniger durch die Größe des Einsatzes als durch die Wechselfälle des Glücks erregt werden, so entwickelt sich bei dem gesellschaftlichen Glücksspiel des Hoflebens dieselbe ehrgeizige Aufregung, mag der grüne Tisch ein Kaiserreich sein oder ein Herzogthum. Sachsen-Weimar besaß innerhalb seiner Grenzen die ganze Welt, die ein kaiserlicher Hof in größeren Verhältnissen erzeugt: es hatte seine Minister, seine Kammerherren, seine Pagen, seine Hofschranzen. Fürstliche Gnade und Ungnade erhob und stürzte, wie es das Lächeln oder das Stirnrunzeln eines Weltgebieters nicht anders hätte thun können. Ein stehendes Heer von sechshundert Mann mit einer Cavallerie von funfzig Husaren hatte sein vollständiges Kriegsministerium, mit Minister, Secretair und Schreiber. Damit man das nicht zu lächerlich findet, sei erwähnt, daß einer der kleinsten Fürsten, der Graf von Limburg-Styrum, ein Regiment Husaren unterhielt, welches aus einem Obersten, sechs Offizieren und zwei Gemeinen bestand.

Da die Adligen das herrschende Element in Weimar bildeten, so sieht man mit einem Blick, wie es hier trotz des Einflusses des Fürsten und der ausgezeichneten Männer, die er um sich versammelte, kein wirkliches Publikum für einen Künstler geben konnte. Es gab wohl einige Hofleute, die mehr oder weniger mit der Kunst kokettirten, einige, die wirkliches Gefühl dafür besaßen; allein die Mehrzahl stellte sich den »Schöngeistern« mit Entschiedenheit entgegen. Als die Herzogin Amalie 1778 mit Merck reiste, murrte die ganze Stadt im voraus, »sie werde nun wieder einen schönen Geist, den sie unterwegs aufgegabelt, mit nach Weimar bringen.« Und wenn man die Manieren dieser Schöngeister, ihre Art, ein »geniales Leben« zu führen (es wird später davon die Rede sein) in Betracht zieht, so wird man unparteiisch bekennen müssen, daß die geringe Herzlichkeit der Vons ihre guten Gründe hatte.

Es ist nicht ohne tiefe Bedeutung, daß der Dichter in Weimar einen Kreis, aber kein Publikum vorfand. Es fehlte nicht an Freunden und Bewunderern, seine Schöpfungen zu begrüßen, aber es fehlte an einer Nation. Deutschland hatte kein Publikum. Um durch den Gegensatz zu begreifen, was das heißt, müssen wir auf Griechenland und Rom blicken. Da sagt uns die Geschichte der Kunst dasselbe, was bei den sonstigen Entwickelungen menschlicher Kräfte überall zu Tage tritt. Sie lehrt uns, daß, wo der Gipfel der Vollendung erreicht werden soll, die Nation und das Genie des Einzelnen zusammenwirken müssen. So ist es nothwendig für den Fortschritt der Wissenschaft, daß diese nicht die müßige Beschäftigung einiger Vereinzelter bleibt, sondern in den Dienst der Vielen tritt; dem steten Drucke des Bedürfnisses verdankt sie den lebendigen Reiz und die großartigen Belohnungen. Dasselbe Gesetz gilt für die Kunst. In Athen wirkte die ganze Nation mit den Künstlern zusammen, und dies ist ein Hauptgrund, weshalb die athenische Kunst zu unübertroffenem Glanze emporstieg. Die Kunst war nicht das Geschäft einiger Wenigen, sie diente nicht dem Luxus einiger Wenigen; sie war der Luxus für alle. Ihre Triumphe blieben nicht in Museen und Gallerien verschlossen; sie strahlten in vollem Sonnenlicht, wurden vom ganzen Volke bewundert und bekritelt, und jeder freie Bürger war, wie Aristoteles ausdrücklich bemerkt, von Jugend auf ein Kunstkritiker. Sophokles schrieb für das ganze Athen, und das ganze Athen klatschte ihm Beifall. Das Theater war sämmtlichen freien Bürgern geöffnet. Phidias und Praxiteles, Skopas und Myron schufen ihre Wunder in Erz und Marmor als Ausdruck eines nationalen Glaubens und als höchste Befriedigung eines nationalen Geistes. Tempel und Märkte, öffentliche Spaziergänge und Lusthaine waren die Gallerien, wo die Bildhauer ihre Werke aufstellten. Der Staatsschatz war freigebig in seinen Belohnungen, und die wetteifernde Verschwendung der Privatleute hatte nicht den Zweck, die Kunstwerke für Privat-Sammlungen zu erwerben, sondern den öffentlichen Besitz zu bereichern. Die Bürger von Gnidos bezahlten lieber fortwährend eine lästige Abgabe, als daß sie die Bildsäule der Venus von ihrer Insel entfernen ließen, und als sich in Athen ein Gemurre gegen die Ausgaben erhob, die Perikles bei der Erbauung des Parthenon gemacht hatte, brachte er es mit der Drohung zum Schweigen, er werde das Geld aus seinem eigenen Vermögen hergeben und dann seinen Namen auf das majestätische Werk setzen.

Das ist noch nicht alles. Die Wirkung der Kunst auf die Nationen zeigt sich in der auffallenden Thatsache, daß in Griechenland und Rom durchweg die wahrhaft großen Männer die Krone der Ehre empfingen und nicht zu Gunsten derer übergangen wurden, die mit dem Modegeschmack der Wenigen buhlten oder dem augenblicklichen Eindruck der Menge zu schmeicheln wußten. Die Namen, die in Griechenland und Italien bei den Zeitgenossen am gefeiertsten waren, sind dieselben, welche die Nachwelt für die höchsten erklärt hat. Natürlich. Der Ausspruch des Publikums in Kunstsachen, wenn dieses Publikum die ganze Intelligenz der Nation in sich vereinigt, muß immer der Ausspruch der richtigen Einsicht sein.

Daß Goethe die Nothwendigkeit des Zusammenwirkens der Nation mit dem Künstler empfunden hat, ergiebt sich aus verschiedenen Stellen seiner Werke; die eine aus Tasso möge hier genügen:

Ein edler Mensch kann einem engen Kreis
Nicht seine Bildung danken. Vaterland
Und Welt muß auf ihn wirken
. Ruhm und Tadel
Muß er ertragen lernen. Sich und andre
Wird er gezwungen recht zu kennen. Ihn
Wiegt nicht die Einsamkeit mehr schmeichelnd ein.
Es will der Feind – es darf der Freund nicht schonen;
Dann übt der Jüngling streitend seine Kräfte,
Fühlt was er ist und fühlt sich bald ein Mann.



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