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Zweiter Abschnitt.
Das frühreife Kind

Goethe's Geburt. Das Zeitalter. Zwiefache Eigenthümlichkeit Frankfurts. Sehnsucht nach Italien. Goethe's gesellschaftliche Stellung eine mittlere. Erziehung der Mutter. Seine Liebe zu Schwester Cornelia. Die »Lust zu fabuliren«. Großmutter und Großvater Textor. Erste lateinische und deutsche Aufsätze. Von welcher Art Goethe's Frühreife war. Seine Schuljahre

Johann Wolfgang Goethe wurde am 28. August 1749, als die Glocke gerade Mittag schlug, in der lebhaften Stadt Frankfurt am Main geboren. Die Stadt, wie man sich leicht denken kann, hatte keine Ahnung davon, was um jene Stunde in der Ecke des niedrigen, schwer getäfelten Zimmers im Großen Hirschgraben vorging, wo man eines Kindes, das nach dreitägigen Wehen »ganz schwarz« und fast ohne Leben zur Welt gekommen, mit krampfhafter Angst pflegte – eine Angst, die sich in Thränen der Freude auflöste, als die alte Großmutter der bleichen Mutter zurief: »Räthin, er lebt!« Aber war die Stadt auch ohne Ahnung, die Sterne waren's nicht, wie Sterndeuter bestätigen werden; die Sterne wußten, was für ein Knabe da neben seiner bebenden Mutter nach Leben rang, und in feierlicher Rathsversammlung deuteten sie in himmlischem Bilde seine zukünftige Größe vor. Mit ernstem Lächeln verzeichnet Goethe diese Constellation.

Was auch die Sterne verkündet haben mögen, dieser August des Jahres 1749 war ein bedeutsamer Monat für Deutschland, wäre es auch nur, weil in ihm der Mann geboren wurde, dessen Einfluß größer geworden ist, als der eines andern Deutschen seit Luther. Ein bedeutsamer Monat in sehr bedeutsamer Zeit. Es war die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts; die von Luther gegebene Bewegung ging vom religiösen auf das politische Gebiet über, und die Freiheit des Gedankens setzte sich um zu freier That. Von der Theologie aus hatte sich der Anstoß der Philosophie, der Moral, der Politik mitgetheilt. Noch war die Bewegung vorzugsweise in den höheren Klassen, aber allmälig stieg sie in die unteren hinab. Eine Zeit war's tiefster Unruhe, die Ereignisse in ihrem Schooße trug, welche die Begriffe aller Menschen erweitern und manches weise Haupt verrücken sollten. Wenige rasche Blicke auf die Berühmtheiten jenes Zeitalters mögen dazu dienen, ein ungefähres Bild desselben zu vergegenwärtigen.

In jenem Monat August starb Madame du Chatelet, die gelehrte und pedantische Uranie Voltaire's, und ließ ihn ohne einen Freund, der ihn gewarnt hätte, an den Hof Friedrich's des Großen gehen. In jenem Jahre erschien Rousseau in dem glänzenden Cirkel der Madame d'Epinay, verhandelte da mit den Encyclopädisten, hielt beredte Vorträge über die Heiligkeit der Mutterpflichten und ging heim, um sein neugebornes Kind in den Korb am Findelhause zu legen. In jenem Jahre arbeitete Samuel Johnson tüchtig an seinem englischen Wörterbuche; Gibbon war aus der Westminster-Schule und suchte vergeblich die Elemente des Griechischen und Lateinischen zu bewältigen; Goldsmith entzückte noch mit seinem Witze die Bummler seines ländlichen Kreises und die »herumziehenden Bärenführer von der feineren Sorte« und erfreute sich noch des »sorglosen Nichtsthun am Kamin und im Lehnstuhl« und der »Aufregung am Kartenspiel in der Kneipe, wonach er in den ersten harten Kämpfen seines späteren Londoner Lebens so sehnsüchtig zurückblickte.« In jenem Jahre gab Buffon, dessen wissenschaftliche Größe einzusehen Goethe einer der ersten war und dessen Einfluß so tiefgehend wurde, den ersten Band seiner Naturgeschichte heraus. In jenem Jahre waren Mirabeau und Alfieri die Tyrannen ihrer Kinderstuben, und Marat war ein unschuldig Kind von fünf Jahren, das sich im Val de Travers herumtrieb und noch nicht von dem Gespenst » les Aristocrates« gequält wurde.

Das war die Zeit, in der Goethe geboren ward. Von seiner Vaterstadt Frankfurt hat er uns mit Liebe ein Bild gezeichnet. Keine Stadt in Deutschland scheint zum Geburtsort dieses kosmopolitischen Dichters so passend wie Frankfurt. Es war reich an sprechenden Zeugen der Vergangenheit, Ueberbleibseln alten deutschen Wesens, langsam verhallenden Nachklängen der Stimmen aus dem Mittelalter, – an Denkmälern wie jene Stadt mitten in der Stadt, die Festung in der Festung, die Klöster mit ihren Mauern, die verschiedenen symbolischen Gebräuche, die noch von der Feudalzeit her erhalten waren, das Judenviertel, so malerisch, so schmutzig und so schlagend charakteristisch. Aber neben diesen mittelalterlichen Resten war in Frankfurt in gleichem Maße die Gegenwart vertreten. Die Reisenden, welche der Rhein und die großen Straßen aus dem Norden hinführten, machten es zu einer europäischen Stadt und zu einem Weltmarkte für den Handel. So war es ein Mittelpunkt für die specifisch moderne Macht des Industrialismus, welcher die Zertrümmerung des Lehnswesens begonnen hat und mit Notwendigkeit vollenden wird. Diese zwiefache Eigentümlichkeit hat Frankfurt bis auf den heutigen Tag beibehalten: auf den alten Giebeln aus vergangener Zeit nisten Störche und schauen herab auf das bunte Treiben der Messen, die der moderne Handel in mittelalterlichen Straßen hält.

Fand so das Gefühl für altertümliches und namentlich für altdeutsches Wesen durch seinen Geburtsort pittoreske Ausbildung, so erwuchs daneben ein Gefühl für Italien und seine Herrlichkeiten, welches im väterlichen Hause Nahrung fand. Goethe's Vater hatte in Italien gelebt und ein unvergängliches Entzücken an dessen Schönheiten sich bewahrt. Die Wände seiner Zimmer waren mit Architekturbildern und Ansichten aus Rom behangen, und so wurde der Dichter mit der Piazza del Popolo, der Peterskirche, dem Colosseum und andern Plätzen großer Erinnerungen von Kindheit auf vertraut.

So viel von Zeit und Ort, den beiden Hauptmomenten des äußeren Lebens. Ehe wir von diesen allgemeinen zu den individuellen Zügen der Lebensbeschreibung übergehen, ist es passend, einen bisher noch nicht berücksichtigten Umstand hervorzuheben, nämlich die mittlere Stellung Goethe's im bürgerlichen Leben. Von den beiden gefährlichen Extremen, Ueberfluß und Mangel, gleich weit entfernt, übte diese Stellung auf seine ganze Laufbahn einen mäßigenden Einfluß. Die Noth des Lebens kannte er nie. Diese mächtige Saite, die sonst das Leben genialer Männer durchzittert, klang bei ihm nicht an. In der Schule der Noth, dieser strengsten aller Schulen, hatte er nichts zu lernen. Der bleiche Mangel mit dem Geflüster seiner schrecklichen Eingebungen war nie sein Genosse. Nie war er gezwungen, um seine Existenz in der Welt zu ringen, und so blieben ihm alle die Empfindungen bitteren Trotzes fremd, welche den Kampf des Lebens begleiten und verwirren, und erweckten in ihm nichts von jener herausfordernden Thatkraft, die sie in ungestümen Naturen anregen. Wie viel von seiner Heiterkeit, wie viel von seiner Abneigung gegen Politik mag aus diesem Umstande entspringen?

Daß er das »reizendste Kind« war, »das es je gegeben,« daß er bewundert wurde, wohin Mutter oder Wärterin ihn mitnahmen, daß er, noch in Windeln, die »wunderbarste Klugheit« zeigte, das braucht uns kein Biograph zu sagen. Heißt's doch von jedem Kinde so. Aber daß er wirklich ein wunderbares Kind war, dafür haben wir unbestreitbare Gewißheit, die nicht blos auf den parteiischen Aussagen von Mutter und Verwandten beruht. Beispiele von seiner Frühreife werden gleich folgen; für jetzt einige Anekdoten, die uns seine Mutter erzählt.

Als er drei Jahre alt war, spielte er nur ungern mit kleinen Kindern, und nur dann, wenn sie schön waren. Einmal, in einem Nachbarhause, fing er plötzlich an zu weinen und schrie: »Das schwarze Kind soll hinaus, das kann ich nicht leiden!« Und er heulte, bis man ihn nach Hause brachte, wo er sich allmälig beruhigte, da nichts als die Häßlichkeit des andern Kindes die Ursache seines Jammers war.

Ein munteres lustiges Mädchen wuchs an des Knaben Seite auf. Vier andere Geschwister wurden noch geboren, starben aber bald. Cornelia war die einzige Gespielin, die am Leben blieb, und »zu ihr (sagt seine Mutter) hatte er, da sie noch in der Wiege lag, schon die zärtlichste Zuneigung.« Er trug ihr seine Spielsachen zu, wollte sie allein nähren und pflegen, und war sehr eifersüchtig auf alle, die ihr nahe kamen. »Wenn man sie aus der Wiege nahm, war sein Zorn nicht zu bändigen; er war überhaupt viel mehr zum Zürnen als zum Weinen zu bringen.« Seine Liebe zu Cornelia blieb leidenschaftlich bis an's Ende.

Die Mutter verzog ihn etwas. An einem Sonntag Morgen, da alles in der Kirche ist, geräth der kleine Wolfgang in die Küche, die auf die Straße geht; alles Geschirr wirft er nach einander zum Fenster hinaus, »weil ihn das Rappeln freut und die ihm gegenüber wohnenden Brüder von Ochsenstein, die es ergötzt, ihn dazu aufmuntern.« Die Teller und Schüsseln fliegen hinaus, als gerade seine Mutter aus der Kirche kommt; sie sieht die Geschichte mit dem Schrecken einer Hausfrau, aber als sie den Kleinen so herzlich mit den Leuten auf der Straße lachen hört, löst sich der Schreck in kindliches Vergnügen und sie lacht gleichfalls.

Diese herzlich muntere, nachsichtige Mutter benutzte ihr Talent, Geschichten zu erzählen, zu seinem und ihrem eigenen Vergnügen. »Ich konnte nicht ermüden, zu erzählen (berichtete sie später selbst), so wie er nicht ermüdete, zuzuhören. Luft, Feuer, Wasser und Erde stellte ich ihm unter schönen Prinzessinnen vor, und alles, was in der Natur vorging, dem ergab sich eine Bedeutung, an die ich bald fester glaubte, als meine Zuhörer; und da wir uns erst zwischen den Gestirnen Straßen dachten, und daß wir einst Sterne bewohnen, und welchen großen Geistern wir da oben begegnen würden, da war kein Mensch so eifrig auf die Stunde des Erzählens mit den Kindern, wie ich; ja, ich war im höchsten Grade begierig, unsere kleinen eingebildeten Erzählungen weiter zu führen, und eine Einladung, die mich um einen solchen Abend brachte, war mir immer verdrießlich. Da saß ich, und da verschlang er mich bald mit seinen großen schwarzen Augen; und wenn das Schicksal irgend eines Lieblings nicht recht nach seinem Sinne ging, da sah ich, wie die Zornader an seiner Stirn schwoll, und wie er die Thränen verbiß. Manchmal griff er ein und sagte, noch ehe ich meine Wendung genommen hatte: Nicht wahr, Mutter, die Prinzessin heirathet nicht den verdammten Schneider, wenn er auch den Riesen todtschlägt. Wenn ich nun Halt machte und die Katastrophe auf den nächsten Abend verschob, so konnte ich sicher sein, daß er bis dahin alles zurecht gerückt hatte, und so ward mir denn meine Einbildungskraft, wo sie nicht mehr zureichte, häufig durch die seine ersetzt. Wenn ich dann am nächsten Abende die Schicksalsfäden nach seiner Angabe weiter lenkte und sagte: Du hast's gerathen! so ist's gekommen! da war er Feuer und Flamme, und man konnte sein Herzchen unter der Halskrause schlagen sehen. Der Großmutter, deren Liebling er war, vertraute er nun allemal seine Ansichten, wie es mit der Erzählung wohl noch werde, und von dieser erfuhr ich, wie ich seinen Wünschen gemäß weiter im Texte kommen solle, und so war ein geheimes diplomatisches Treiben zwischen uns, das keiner an den andern verrieth; so hatte ich die Satisfaktion, zum Genusse und Erstaunen der Zuhörenden meine Märchen vorzutragen, und der Wolfgang, ohne je sich als den Urheber aller merkwürdigen Ereignisse zu erkennen, sah mit glühenden Augen der Erfüllung seiner kühn angelegten Pläne entgegen, und begrüßte das Ausmalen derselben mit enthusiastischem Beifall.« Welch ein reizendes Bild von Mutter und Sohn!

Die eben erwähnte Großmutter wohnte in demselben Hause, und wenn die Schulstunden vorüber waren, eilten die Kinder nach ihrem Zimmer zum Spielen. Die gute alte Frau, mit dem ganzen Stolze einer Großmutter, verzog sie natürlich und gab ihnen allerlei gute Bissen, die sie nur bei ihr fanden. Von allen ihren Geschenken jedoch war keines mit dem Puppenspiel zu vergleichen, das sie ihnen am Weihnachtsabend 1753 gab, und das »in dem alten Hause eine neue Welt schuf.« Der Leser des Wilhelm Meister wird sich erinnern, mit welch feierlicher Wichtigkeit die Bedeutung eines solchen Puppenspiels dort behandelt ist, und kann daraus schließen, wie mächtig es die Phantasie des Knaben anregte.

Dann war da Großvater Textor, dessen Haus die Kinder gern besuchten und dessen ernste Persönlichkeit auf den Knaben einen um so tieferen Eindruck machte, als ein gewisses geheimnißvolles Grauen den einsilbigen alten Herrn umgab, der in dem Rufe stand, die Gabe der Weissagung zu besitzen. Sein Bild zeigt ihn in einer Perrücke mit acht Etagen, mit der schweren goldenen Kette und Medaille, welche ihm die Kaiserin Maria Theresia gegeben hatte; aber in des Dichters Erinnerung lebte er in anderer Gestalt: im talarartigen Schlafrock, auf dem Haupte ein schwarzes Sammetkäppchen, unter den Blumen seines Gartens wandelnd und mit behaglicher Geschäftigkeit der Blumenzucht obliegend, oder auch an der Familientafel Sonntags den Vorsitz führend.

Die vortreffliche Methode der Mutter, die produktive Selbstthätigkeit des Knaben auszubilden, hat ihr Gegenstück in der Art, wie der Vater seine receptive Fähigkeit entwickelte. Mit weniger Billigung, als sie verdiente, spricht der Dichter von der Erziehungsweise seines Vaters, wahrscheinlich weil er in späteren Jahren den Mangel einer systematischen Ausbildung scharf empfand. Aber der Grundsatz, nach welchem der Vater verfuhr, war ganz vortrefflich: er beschäftigte mehr den Verstand als das Gedächtniß. Er diktirte eine Anekdote meistens aus dem gewöhnlichen Leben oder von Friedrich dem Großen; bisweilen überließ er dem Sohne, sich selbst den Stoff zu wählen. Darüber schrieb dieser dann, lateinisch und deutsch, Gespräche und moralische Betrachtungen. Von diesen jugendlichen Arbeiten sind manche erhalten; eine davon findet der Leser im zweiten Anhange, als Beispiel, wie weit Goethe in seinem achten Jahre das Lateinische beherrschte. Zwar können wir nicht volle Gewißheit haben, daß die Hand des Lehrers dem Knaben nicht geholfen; aber einerseits läßt gerade der Grundsatz der Selbstthätigkeit, den der Lehrer durchweg befolgte, die Vermuthung nicht zu, als habe er die jugendlichen Uebungen verbessert, und andererseits ist das Latein zu voll von Germanismen, welche die Ungeübtheit des Verfassers beweisen, Dr. Weismann in Frankfurt, dem wir die Veröffentlichung dieser Uebungen und Aufsätze aus dem sechsten, siebenten und achten Lebensjahre Goethe's verdanken, erklärt es für unzweifelhaft, daß der Knabe sie ohne Beihülfe verfaßt hat. In einem dieser Gespräche findet sich ein Wortspiel, welches beweist, daß das Gespräch erst lateinisch geschrieben und dann ins Deutsche übersetzt ist. Der Knabe macht Wachsfiguren; sein Vater fragt ihn, warum er solche Spielereien nicht aufgebe; das Wort, welches er dabei gebraucht, ist nuces; im bildlichen Sinne bedeutet das Spielereien, der Knabe aber nimmt es scherzend in dem gewöhnlichen, deutschen Sinne als »Nüsse«, und antwortet: » cera nunc ludo, non nucibus – ich spiele ja nicht mit Nüssen, sondern mit Wachs.«

Ein anderes Gespräch – aus 1757 – ist außerordentlich launig und charakteristisch. Maximilian fragt seinen Spielkameraden Wolfgang, warum ihn seine Eltern wegschicken, da sie Gäste erwarten. »Woran mir nichts gelegen, da unterlasse ich alles Nachgrübeln«, erwidert Wolfgang; er schlägt vor, die Zeit bis der Lehrer kommt, mit Comenius oder einem ähnlichen Buche hinzubringen; aber Maximilian weist alle diese Vorschläge zurück.

Wolfg. Sage Du nun selbst etwas zu thun.

Max. Ich hasse das Ernsthafte, denn das überlass' ich den Sauertöpfen.

Wolfg. Du bist sehr lang. Sag's einmal heraus, in was es bestehen soll.

Max. Wisse, wir wollen uns einmal mit den Köpfen stutzen.

Wolfg. Das sei ferne; meiner schickt sich wenigstens dazu nicht.

Max. Was schadet es? Laß sehen, wer den härtesten habe.

Wolfg. Höre, wir wollen dieses Spiel den Böcken überlassen, welchen es natürlich ist.

Max. Verzagter! wir bekommen durch die Uebung harte Köpfe.

Wolfg. Das wäre eben keine Ehre. Ich will meinen lieber weich behalten.

Max. Wie verstehst Du das?

Wolfg. Ich mag nicht hartnäckig werden.

Max. Hierin hast Du recht, allein ich nehme es von der Festigkeit der Glieder.

Wolfg. Wenn Du weiter nichts willst, so stoße den Kopf nur brav wider die Wand; es wird die erwünschte Wirkung haben.

Daneben möge eine seiner moralischen Betrachtungen (genau in des Knaben Schreibart) ihre Stelle finden. »Horatius und Cicero sind zwar Heyden gewesen aber verständiger als viel Christen; denn derselbe sagt: Silber ist schlechter als Gold und Gold schlechter als die Tugend. Dieser aber sagt: nichts ist schöner als die Tugend. Aber viele Heyden haben die Christen an Tugenden übertroffen. Wer war in Haltung der Freundschaft getreuer als Damon, freygebiger als Alexander M., gerechter als Aristides, enthaltsamer als Diogenes, geduldiger als Socrates, leutseliger als Vespasianus und arbeitsamer als Apelles und Demosthenes.« Plattheiten das, ohne Zweifel, aber es sind Plattheiten, welche bei vielen die reifen Grundsätze des Alters vertreten. Sie deuten uns an, daß der Knabe wohl ein bischen altklug war, und sie zeigen große Fortschritte seiner Bildung. Im Griechischen, wie der dritte Anhang beweist, machte er bemerkenswerte Fortschritte. Italienisch lernte er »sehr behende,« indem er dem Vater, der in demselben Zimmer, wo er sein Pensum zu lernen hatte, der Schwester Unterricht gab, über sein Buch weg zuhorchte. Auch Französisch, wie die Uebungen bezeugen, lernte er, und so sehen wir ihn, noch nicht achtjährig, deutsch, französisch, italienisch, lateinisch und griechisch schreiben.

In der That, er war ein frühreifer Knabe. Das wird wahrscheinlich viele Leser befremden, zumal wenn sie die gewöhnliche Ansicht theilen, Frühreife sei etwas krankhaftes, und Wunderkinder seien nothwendig taube Früchte, die nie reifen, frühe Blüthen, die rasch welken. In die Verwirrung, welche über diesen Punkt herrscht, wird einige Klarheit kommen, wenn man sich erinnert, daß die Menschen durch receptive und durch produktive Fähigkeit sich hervorthun: sie lernen und sie schaffen. Bei Menschen ersten Ranges sind diese beiden Fähigkeiten vereinigt. Shakespeare und Goethe ragen nicht weniger durch die Mannigfaltigkeit ihres Wissens als durch ihre schöpferische Kraft hervor. Aber da »ein kluges Kind« sowohl das heißt, welches seine Aufgaben rasch lernt, als das, welches Verstand, Scharfsinn und schöpferische Kraft zeigt, so bringt der Doppelsinn dieser Bezeichnung es mit sich, daß man sich verwundert, wenn ein Kind, das doch in der Schule »so klug« war, nur ein gewöhnlicher Mann wird, oder wenn, umgekehrt, aus dem Kinde, das in der Schule ein Dummkopf war, ein künstlerisches Genie sich aufthut.

Goethe's Frühreife hatte nichts unnatürliches; sie war die Thätigkeit eines Geistes, der beides zugleich, in hohem Maße receptiv und produktiv war. Sein ganzes Leben hindurch hatte er den gleichen eifrigen Wissensdrang, und nicht beirrte ihn der Wahn, der die Unwissenheit so mancher zweifelhafter Genies in Schrecken setzt – Wissen ertödte die Originalität. Er wußte, daß reichliche Nahrung ein winziges Feuer erstickt, ein großes aber aufflammen macht, oder wie er es in einem vortrefflichen Epigramme ausdrückt:

Ein Quidam sagt: »Ich bin von keiner Schule;
Kein Meister lebt, mit dem ich buhle;
Auch bin ich weit davon entfernt,
Daß ich von Todten was gelernt.«
Das heißt, wenn ich ihn recht verstand:
»Ich bin ein Narr auf eigne Hand!«

Im Sommer 1754 wurde das alte Wohnhaus ganz umgebaut. Bei der Feierlichkeit der Grundsteinlegung spielte Wolfgang als kleiner Maurer mit. Der gescheite, beobachtende Knabe fand bei diesem Umbau des väterlichen Hauses vieles, was ihn interessirte; er plauderte mit den Arbeitern, erfuhr von ihren häuslichen Verhältnissen und lernte etwas von der baulichen Technik, die ihn in späteren Jahren so lebhaft beschäftigte. Die Unruhe dieses Baues, der allmälig von Stockwerk zu Stockwerk, von unten nach oben fortschritt und während dessen die Familie fortwährend das Haus theilweise bewohnte, veranlaßte endlich, daß der Knabe einer befreundeten Familie übergeben und in eine öffentliche Schule geschickt wurde.

Viehoff meint, Deutschland würde »einen andern Goethe gehabt haben, wenn er in Elementarschule und Gymnasium sich zur Universität vorbereitet hätte,« und beruft sich dafür auf das Wort von Gervinus, »Goethe's Erziehung im Hause verschulde es, daß er Geschichte nicht zu schätzen und das Bestreben der Massen nicht zu achten gewußt.« Ich meinerseits kann den Satz, daß die Umstände den Charakter bilden, nicht anerkennen und daher kann ich auch die Ansicht nicht gelten lassen, daß die Erziehung zu Hause eine so bedeutende Wirkung auf den Dichter gehabt habe. Die bloße Thatsache, wie viele Menschen in öffentlichen Schulen erzogen werden, ohne daß sie geschichtlichen Sinn und Verständniß für die Massen erhalten, beweist hinreichend, daß Goethe's Eigentümlichkeiten einen andern Ursprung gehabt haben müssen als seine häusliche Erziehung. Aus seinem Charakter stammen sie.

Eins aber lernte er in der Schule, das war Widerwille gegen Schulen. Der Knabe, bisher zu Hause körperlich und geistig sorgfältig gehalten, kam nun in Verkehr mit einer Schuljugend, die das war, was eben die Schuljugend meistens ist – schmutzig, ungezogen, roh, in Neigungen und Sitten gewöhnlich. Der Gegensatz war ihm sehr peinlich, und er war froh, als mit der Vollendung des Umbaues wieder die Erziehung zu Hause eintrat.

Eine Schulgeschichte, die er erzählt, zeigt deutlich, wie groß die Macht seiner Selbstbeherrschung war. Der Lehrer blieb einst eine Stunde aus; die Kinder spielten, bis die Stunde fast vorüber war; zuletzt war Goethe mit drei übelwollenden Knaben allein; diese beschlossen, ihn zu peinigen. Sie zerschnitten einen Besen und kamen mit Ruthen zurück. »Ich merkte ihre Absicht, und weil ich das Ende der Stunde nahe glaubte, so setzte ich aus dem Stegreife bei mir fest, mich bis zum Glockenschlage nicht zu wehren. Sie fingen darauf unbarmherzig an, mir die Beine und Waden auf das grausamste zu peitschen. Ich rührte mich nicht, fühlte aber bald, daß der Schmerz die Minuten sehr verlängerte. Mit der Duldung wuchs meine Wuth, und mit dem ersten Stundenschlag fuhr ich dem einen, der sich's am wenigsten versah, mit der Hand in die Nackenhaare und stürzte ihn augenblicklich zu Boden, indem ich mit dem Knie seinen Rücken drückte; den andern, der mich von hinten anfiel, zog ich bei dem Kopfe durch den Arm und erdrosselte ihn fast, indem ich ihn an mich preßte; den dritten endlich brachte ich durch eine geschickte Wendung nieder und stieß ihn mit dem Gesicht gegen den Boden. Sie ließen es nicht an Beißen, Kratzen und Treten fehlen; aber ich hatte nur meine Rache im Sinn und stieß sie wiederholt mit den Köpfen zusammen. Sie erhoben zuletzt ein entsetzliches Zetergeschrei und wir sahen uns bald von allen Hausgenossen umgeben. Die umhergestreuten Ruthen und meine Beine, die ich von den Strümpfen entblößte, zeugten bald für mich.«



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