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Hunderteinundzwanzigstes Kapitel

Ein angsterfüllter Bürger weckte mich und brachte mir die Nachricht, daß Abd el Kadir eine Rebellion anzettelte. Ich schickte zu Nuri Said, erfreut darüber, daß der algerische Narr sein eigenes Grab grub. Er hatte seine Leute zusammengerufen, ihnen gesagt, daß die Scherifs nur Kreaturen der Engländer seien, und sie beschworen, für den Glauben und den Kalifen einzutreten, solange es noch Zeit sei. Seine Anhänger, Menschen von schlichter Denkungsart, die blindlings ihren Führern zu folgen gewohnt waren, glaubten seinen Worten und begannen die Waffen gegen uns zu erheben.

Auch die Drusen, die ich für ihre zögernd geleisteten Dienste zu belohnen mich geweigert hatte, schlossen sich ihm an. Es waren Sektierer, denen der Islam oder der Kalif, die Türken oder Abd el Kadir völlig gleichgültig waren; aber eine antichristliche Erhebung bedeutete Plünderung und vielleicht eine Gelegenheit, Maroniten umzubringen. So bewaffneten sie sich und begannen in die Läden einzubrechen.

Wir hielten uns still bis zum Morgen, denn wir waren zahlenmäßig nicht überlegen genug, daß wir den Vorteil unserer besseren Bewaffnung durch einen nächtlichen Kampf so ohne weiteres hätten preisgeben können. Aber mit dem ersten Schimmer des Tages schickten wir Truppen nach der oberen Vorstadt und trieben die Meuterer in die Bezirke am Fluß im Zentrum der Stadt, wo die Straßen über Brücken führten und leicht zu beherrschen waren.

Dabei stellte sich heraus, wie geringfügig der Aufstand war. Nuri Said hatte in den Straßen Maschinengewehre aufstellen lassen, die sie der Länge nach bestrichen, während unsere ausgesandten Abteilungen die Rebellen vom Rücken her bedrängten. Bei dieser Sachlage ließen die Drusen ihre Beute im Stich und flüchteten die Seitenstraßen hinunter. Mohammed Said, der weniger tapfer als sein Bruder war, wurde in seinem Hause verhaftet und ins Rathaus gebracht. Wieder war ich versucht, ihn auf der Stelle erschießen zu lassen. Aber wir warteten, bis wir den anderen hatten.

Doch Abd el Kadir schlug sich zum Innern des Landes durch. Mittags war alles vorbei. Die Drusen wurden aus der Stadt getrieben und mußten Pferde und Gewehre an die Bewohner von Damaskus abgeben, aus denen wir für den Notfall eine Bürgerwehr aufgestellt hatten. Dann wandten wir uns wieder der Organisation der öffentlichen Geschäfte zu.

Während ich beim Frühstück saß, kam ein australischer Arzt und flehte mich an, mich doch um der Menschlichkeit willen um das türkische Lazarett zu kümmern. Ich überschlug in Gedanken unsere drei Hospitäler, das militärische, das bürgerliche und das der Mission, und erwiderte ihm, sie seien alle so gut versorgt, wie unsere Mittel es erlaubten. Die Araber könnten keine Medikamente aufbringen, noch könne General Chauvel uns welche geben. Er blieb dabei und beschrieb mir einen großen Komplex verwahrloster Gebäude, die angefüllt wären mit Toten und Sterbenden, ohne daß auch nur ein einziger Sanitätsoffizier oder Krankenwärter vorhanden wäre; in der Hauptsache handele es sich um Ruhrfälle, aber einige seien typhoid und er könnte nur hoffen, daß keine Fälle von wirklichem Typhus oder gar Cholera darunter wären.

Aus seiner Beschreibung erkannte ich die türkischen Kasernen, die von zwei australischen Kompanien besetzt waren. Ob Posten vor dem Eingang ständen, fragte ich. Ja, meinte er, das sei der Ort, aber er sei voll von türkischen Kranken. Ich ging hin, aber die Wache wollte mich nicht hineinlassen, da ich allein und zu Fuß erschien. Sie hatte Befehl, alle Eingeborenen fernzuhalten, damit die Patienten nicht massakriert würden – eine mißverständliche Auffassung von der Art, wie die Araber Krieg führten. Schließlich ließ man mich durch, da ich englisch sprach. In dem Garten bei dem Torhäuschen mit der Wache lagen an die zweihundert abgerissene türkische Gefangene, erschöpft und elend, herum.

An der großen Eingangstür zur Kaserne rief ich in die staubigen, das Echo zurückwerfenden Gänge hinein. Niemand antwortete. Der große verlassene Lichthof starrte von Schmutz und Abfällen. Die Wache berichtete, daß am Tage vorher Tausende von Gefangenen von hier in ein Lager außerhalb der Stadt abtransportiert worden wären. Seitdem sei niemand mehr herein- oder herausgekommen. Ich ging zu dem anderen Eingang hinüber, auf dessen linker Seite eine kleine Vorhalle mit geschlossenen Läden lag, in der es ganz finster war nach dem grellen Sonnenlicht draußen auf dem gepflasterten Hof.

Als ich eintrat, schlug mir ein fürchterlicher Gestank entgegen, und als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bot sich mir ein grauenhafter Anblick. Der Steinboden war mit Leichen bedeckt, dicht nebeneinander liegend, manche in voller Uniform, manche in Unterkleidung, manche splitternackt. Es mochten etwa dreißig sein, sie wimmelten von Ratten, die rote nasse Rinnen in sie hineingenagt hatten. Ein paar Leichen waren noch ziemlich frisch, vielleicht ein oder zwei Tage alt; die anderen mußten schon lange hier gelegen haben. Bei einigen schimmerte das Fleisch, in Verwesung übergehend, gelb, blau und schwarz. Manche waren schon auf das Zwei- oder Dreifache ihrer Leibesgröße aufgequollen, und ihre gedunsenen Köpfe grinsten mich an mit ihrem schwarzen Mund über den stoppeligen Kiefern. Bei anderen wieder waren die Weichteile eingesunken. Ein paar waren aufgeplatzt und flossen auseinander.

Dahinter war Ausblick auf einen großen Saal, von dem ich ein Stöhnen zu hören glaubte. Ich ging hinüber, über den weichen Leichenteppich hinweg; die Kleider, die gelb vom Kot waren, krachten hart unter meinen Füßen. Im Krankensaal war es totenstill, und nichts rührte sich in der langen Reihe der belegten Betten, so daß ich glaubte, die Insassen seien ebenfalls tot; alle lagen unbeweglich ausgestreckt auf ihrem stinkigen Lager, von dem der Unrat herabtropfte und auf dem Steinboden gerann.

Ich trat etwas vor, zwischen die Bettreihen, mein weißes Gewand hochschürzend, um nicht meine nackten Füße in die unreinen Lachen zu tauchen. Ja, ich hörte plötzlich ein Seufzen, und, mich umwendend, begegnete ich den weit offenen vorgequollenen Augen eines auf seinem Lager Hingestreckten, während seine zuckenden Lippen »Aman, Aman« (Erbarmen! Gnade!) murmelten. Alsbald erhob sich ein braunes Gewoge, als mehrere versuchten, ihre Arme zu erheben, und dann war ein leichtes Flattern wie von verwelkten Blättern, als die Hände ohnmächtig wieder heruntersanken.

Keiner von ihnen hatte die Kraft zu sprechen, aber irgend etwas schien mir lächerlich bei ihrem Unisonogeflüster, das wie auf Kommando eingesetzt hatte. Zweifellos hatten sie die beiden letzten Tage mehrmals Gelegenheit gehabt, diesen Hilferuf zu wiederholen, wenn immer ein neugieriger Soldat in den Saal einen Blick geworfen und sich wieder verzogen hatte.

Ich ging durch den Durchlaß nach dem Garten, wo die Australier kampierten, und bat, mir einen Arbeitstrupp zu stellen. Sie weigerten sich. Geräte? Sie hatten keine. Ärzte? Wären beschäftigt. Kirkbride erschien; die türkischen Ärzte, hieß es, seien oben. Wir brachen eine Tür auf und fanden in einem großen Raum sieben Herren in Unterkleidern auf ihren ungemachten Betten sitzend und damit beschäftigt, sich türkisches Zuckerwerk zu bereiten. Wir brachten ihnen sehr rasch bei, daß es ratsam wäre, die Lebenden von den Toten abzusondern und innerhalb einer halben Stunde uns zur Verfügung zu stehen. Kirkbride mit seiner wuchtigen Figur und den schweren Stiefeln war ganz dazu geeignet, die Ausführung zu überwachen; indessen suchte ich Ali Risa-Pascha auf und bat ihn, uns einen der vier arabischen Armeeärzte zuzuweisen.

Als er kam, stellten wir fünfzig der noch am kräftigsten türkischen Gefangenen zu einem Arbeitstrupp zusammen. Wir besorgten Armeezwieback, den wir unter sie verteilten; dann gaben wir ihnen Geräte, die wir aufgetrieben hatten, und ließen sie im Hinterhof ein Massengrab ausheben. Die australischen Offiziere erhoben Einspruch: der Platz wäre ungeeignet und der Gestank würde sie aus ihrem Garten vertreiben. Ich antwortete kurz, ich hoffte zu Gott, daß er das tun würde.

Es war grausam, diese elenden und verhungerten türkischen Gefangenen arbeiten zu lassen, aber in der Eile hatten wir keine andere Wahl. Die Fußtritte und Schläge ihrer Unteroffiziere, die sich bei dem Sieger Liebkind machen wollten, brachten sie schließlich zum Gehorsam. Wir begannen damit, auf der einen Seite des hinteren Hofes eine sechs Fuß breite Grube auszuheben. Als sie vertieft werden sollte, stellte sich heraus, daß darunter Steinboden war; so meinte ich, es würde genügen, wenn wir die Grube an den Seiten verbreiterten. In der Nähe gab es eine Menge Löschkalk, mit dem wir die Leichen bedecken konnten.

Die Ärzte berichteten uns, daß sechsundfünfzig Tote, zweihundert Sterbende und siebenhundert nicht gefährlich Erkrankte vorhanden seien. Wir bildeten eine Trägerkolonne, um die Leichen herauszuschaffen; einige waren leicht zu befördern, andere aber mußten Stück für Stück mit dem Spaten weggeschaufelt werden. Die Träger waren kaum stark genug, bei ihrem Werke auszuharren, und tatsächlich mußten wir, noch bevor die Arbeit zu Ende war, von ihnen zwei als Leichen mit zu den anderen in die Grube legen.

Das Grab war reichlich klein für so viele; aber die Masse war so weich, daß jede neue Leiche, wenn sie hineingeworfen wurde, einsank und durch ihr Gewicht den gallertartigen Haufen zusammendrückte. Bevor die Arbeit zu Ende war, gegen Mitternacht, ging ich, um mich zu Bett zu legen, völlig erschöpft, da ich seit dem Aufbruch von Dera noch keine drei Stunden geschlafen hatte. Kirkbride blieb bis zum Ende des Begräbnisses und ließ Erde und Kalk auf das Grab schütten.

Im Hotel wartete eine Menge dringender Sachen auf mich: ein paar Todesurteile waren zu unterzeichnen, ein neuer Richter einzusetzen; eine Hungersnot drohte, wenn die Bahn bis morgen nicht den Betrieb aufgenommen hatte. Außerdem lag eine Klage von General Chauvel vor, daß ein paar arabische Soldaten australische Offiziere nicht stramm genug gegrüßt hätten!


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