Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Hundertneuntes Kapitel

Wie abgemacht, brachen wir vor Morgengrauen auf und folgten der Spur von Stirlings Wagen, bestrebt, so rasch wie möglich bei der vielleicht schon kämpfenden Truppe zu sein. Doch der Weg war leider miserabel. Erst kam ein unangenehmer Abstieg, dann folgten einzelne mit Kalksteingeröll bedeckte Flächen, über die wir nur mit Schwierigkeiten hinwegkamen. Dann ging es über Hänge mit Ackerboden; durch die Sommerdürre hatte die Erde Risse und Spalten bekommen, oft ein Yard tief und zwei bis drei Zoll breit. Die fünf Tonnen schweren Panzerwagen liefen im ersten Gang, kamen aber kaum vorwärts.

Gegen acht Uhr morgens erreichten wir die arabische Armee auf dem Kamm eines breiten, nach der Bahn hin abfallenden Hanges. Teile von ihr entwickelten sich gerade zum Angriff gegen einen Stützpunkt der Brückenwache, zwischen uns und dem Berge Tell Arar, dessen Gipfel das ganze Land bis nach Dera hin überragte.

Ruallareiter, geführt von Trad, strömten den langen Hang hinab und über das mit Süßholzgesträuch bewachsene Bett des Wasserlaufes gegen die Bahnlinie. Young knatterte in seinem Ford hinterdrein. Von der Höhe aus vermeinten wir bereits, die Bahn sei ohne einen Schuß genommen. Da aber wurde plötzlich von dem außer acht gelassenen türkischen Stützpunkt her ein unangenehmes Sprühfeuer eröffnet, und unsere tapferen Rualla, die sich bereits auf dem Bahndamm in heroischer Positur aufgestellt hatten (heimlich sehr im Unklaren darüber, was in aller Welt wohl jetzt zu tun wäre), verschwanden schleunigst.

Nuri ließ die Batterie Pisani vorgehen, die einige Schüsse abgab. Dann wurde von den Rualla und anderen Truppen der Stützpunkt ohne Schwierigkeit genommen; wir hatten nur einen Toten. Damit waren um neun Uhr morgens die südlichen zehn Meilen der Damaskus-Bahn in unserer Hand. Es war die einzige Eisenbahn nach Palästina und dem Hedschas; ich konnte unser Glück kaum begreifen, konnte kaum glauben, daß unser Allenby gegebenes Wort so bald und so einfach eingelöst war.

Die Araber strömten in hellen Haufen zum runden Gipfel des Tell Arar hinan, um die Ebene zu überschauen, deren zerfurchtes Relief die Morgensonne mit ihren lang hingeworfenen Schatten deutlich hervorhob. Die Soldaten konnten mit bloßem Auge bis nach Dera, Meserib und Ghasale, den drei Bahnknotenpunkten, sehen.

Ich aber sah in Gedanken noch weiter: nordwärts nach Damaskus, der türkischen Operationsbasis, ihrer einzigen Verbindung nach Konstantinopel und Deutschland – nun abgeschnitten; südwärts nach Amman und Maan und Medina: ebenfalls abgeschnitten; westwärts zu Liman von Sanders, isoliert in Nazareth; dann weiter nach Nabulus und dem Jordantal, der türkischen Hauptstellung. Heute war der 17. September, der verabredete Tag, achtundvierzig Stunden bevor Allenby mit voller Kraft nordwärts stoßen würde. In achtundvierzig Stunden hätten die Türken an sich Zeit genug gehabt, ihre Dispositionen zu ändern, um der neuen von uns drohenden Gefahr zu begegnen; aber da sie Allenbys Schlag nicht vorauswußten, konnten sie gar nichts ändern.

Meine Absicht war, unverzüglich die ganze Linie zu zerstören; doch schienen die Dinge zum Stillstand gekommen. Die Armee hatte ihr Teil getan. Nuri Said stellte rings um den Tell Arar Maschinengewehrposten auf, um etwaige Ausfälle von Dera abzuwehren. Wieso aber war nirgendwo die Zerstörung im Gang? Ich eilte hinunter und fand Peakes Ägypter beim Frühstück. Ich war stumm vor Bewunderung.

Immerhin, eine Stunde später waren sie in die nötigen Gruppen eingeteilt und zu dem Vernichtungswerk bereit. Schon waren auch die französischen Kanoniere, die ebenfalls Sprengmaterial mitführten, heruntergekommen und machten sich an die nächstgelegene Brücke. Sie waren nicht sehr geschickt, aber beim zweiten Versuch brachten sie ihr doch einigen Schaden bei.

Von der Höhe des Tell Arar aus, ehe noch die vibrierende Luftspiegelung der steigenden Sonne die Sicht verschleierte, wurde durch ein scharfes Fernglas Dera genau abgesucht, um herauszufinden, was die Türken dort heute auf der Pfanne hätten. Was man zunächst beobachten konnte, sah einigermaßen beunruhigend aus. Auf ihrem Flugplatz wimmelte es von kleinen Gruppen, die eine Maschine nach der anderen aus dem Schuppen zogen. Man konnte bereits sieben oder acht in Linie gereiht erkennen. Was man sonst sah, entsprach den Erwartungen. Kleinere Infanterieabteilungen verstärkten die Besatzung der Verteidigungsstellung; ihre Geschütze feuerten gegen uns, aber wir waren vier Meilen weit entfernt. Lokomotiven standen unter Dampf, aber die Züge waren nicht gepanzert. Hinter uns, nach Damaskus zu, lag das Land still wie eine Karte. Auch von Meserib her, zu unserer Rechten, war keinerlei Bewegung zu entdecken. Die Initiative lag in unserer Hand.

Wir hofften, sechshundert Sprengladungen nach der Tulpenmethode abfeuern zu können, um dadurch sechs Kilometer der Bahn außer Betrieb zu setzen. Diese »Tulpen« waren von Peake und mir eigens für diese Gelegenheit erfunden worden. Bei jedem der zehn Meter weit liegenden Schienenstöße wurde unter der Mitte der Hauptschwelle eine Ladung von dreißig Unzen 1 Unze = 28,3 g. (A. d. Ü.) Schießbaumwolle angebracht. Die Schwellen waren aus Stahl, nach unten gekantet, wodurch ein Hohlraum frei blieb, so daß sich darin Gase ausbreiten und die Mitte der Schwelle hochtreiben konnten. War die Mine richtig gelegt, so zerbarst der Stahl nicht, sondern wölbte sich, gleichsam wie eine Tulpe, zwei Fuß hoch. Die Aufwölbung trieb die Schienen drei Zoll auf, zog sie gegeneinander und verkrümmte sie zugleich stark nach innen. Diese dreifache Verzerrung machte eine unmittelbare Ausbesserung unmöglich. Durch eine einzige solche Mine wurden meist drei bis fünf Schwellen verbogen oder aus ihrer Lage geschoben und außerdem ein tiefes Loch in die Bettung geschlagen.

Sechshundert derartiger Ladungen mußten den Türken eine gute Woche Wiederherstellungsarbeiten kosten. Als ich mich eben umwandte, um wieder zu den Truppen zurückzukehren, ereignete sich zweierlei. Peake feuerte die erste Sprengladung ab: eine schmale Rauchsäule stieg wie eine Pappel hoch, und ein dumpf hallender Klang folgte. Und zweitens stieg das erste türkische Flugzeug hoch und steuerte gerade auf uns zu. Nuri Said und ich hockten uns unter einen überhängenden Felsen auf dem zerklüfteten Südhang des Berges. Dort warteten wir in Gemütsruhe auf die Bombe; aber es war nur ein Beobachter, der uns auskundschaftete und dann nach Dera zur Meldung zurückflog.

Die Nachrichten mußten ziemlich beunruhigend gewesen sein. Denn gleich darauf gingen drei Doppeldecker, vier Jagdflieger und ein alter gelbbäuchiger Albatros in rascher Folge hoch, überkreisten uns und warfen Bomben ab oder tauchten mit Maschinengewehrfeuer auf und nieder. Nuri ließ die Hotchkiss-Maschinengewehre in den Felsspalten in Stellung gehen, die dann auch gegen den Feind losratterten. Pisani steilte seine vier Gebirgsgeschütze und ließ einige gutgemeinte Schrapnells los. Der Feind, beunruhigt, schlug einen Bogen und kam in größerer Höhe zurück. Doch inzwischen hatten wir unsere Maßnahmen getroffen.

Truppen und Kamele wurden über das ganze Gelände verteilt; die Irregulären machten das schon von selbst. Möglichst kleine und weithin zerstreute Ziele zu bieten, war unsere einzige Rettung. Denn das flache Gelände gab von oben her nicht einmal Deckung für ein Kaninchen, und uns schwante nichts Gutes, als wir da unten die Ebene mit Tausenden von unseren Leuten befleckt sahen. Es war ein seltsamer Anblick, vom Berggipfel aus die zwei offenen Meilen im Geviert zu überschauen: förmlich bestreut mit Menschen und Tieren, während hie und da von aufschlagenden Bomben dicke, träge Rauchballen aufstiegen (scheinbar ganz gesondert vom Knall), oder der Staub in breiten Garben aufspritzte, wo Maschinengewehre herunterknatterten.

Das Ganze sah und hörte sich recht bedenklich an. Währenddessen fuhren die Ägypter mit ihrer Arbeit an der Eisenbahn ebenso ruhig und methodisch fort, wie sie vorhin gefrühstückt hatten. Vier Gruppen gruben die »Tulpen« ein, während Peake und ein zweiter Offizier die Minen, sobald sie gelegt waren, in Brand setzten. Die Explosionen waren nicht stark genug, um weithin sichtbar zu sein, und die feindlichen Flugzeuge schienen nicht zu bemerken, was vor sich ging; jedenfalls warfen sie keine Bomben dorthin. Mit dem Fortschreiten der Zerstörung zog sich die Abteilung Peakes nach und nach aus der Gefahrzone in das stille Gelände nach Norden zu. Wir konnten den Fortschritt der Arbeit an dem Hinschwinden der Telegraphenleitung verfolgen. An der noch unberührten Strecke standen die Reihen der Stangen mit straff gespannten Drähten; hinter Peake jedoch hingen sie schwankend mit zerrissenem Draht oder lagen am Boden.

Nuri Said, Joyce und ich hielten Rat und überlegten, auf welche Weise wir zum Jarmuk-Abschnitt der Palästina-Bahn gelangen könnten, um die Unterbrechung der Damaskus- und Hedschaslinie zu vollenden. In Rücksicht auf die dort gemeldete starke Besatzung mußten wir unsere gesamten Truppen mitnehmen, was aber unter dieser ständigen Fliegerbeobachtung kaum ratsam erschien. Denn erstens konnten uns auf dem Marsch über die offene Ebene die Bomben schweren Schaden zufügen, und zweitens war dann die Zerstörungsabteilung Peakes schutzlos Dera preisgegeben, falls die Türken von dort einen Ausfall wagten. Bis jetzt schienen sie ja noch wenig Mut dazu zu haben, aber das konnte mit der Zeit schon kommen.

Während wir noch zögernd überlegten, löste sich die Sachlage aufs herrlichste. Junor, der Pilot von B. E. 12, hatte Nachricht erhalten, daß Murphys Maschine bei Dera kampfunfähig geworden war, und sich selbständig entschlossen, die Stelle des Bristol-Kampfflugzeuges zu übernehmen und dessen Aufgaben auszuführen. Und gerade als es bei uns am schlimmsten stand, kam er in den Zirkus hineingesegelt.

Wir beobachteten das mit gemischten Gefühlen; denn mit seiner hoffnungslos veralteten Maschine war er ein leichtes Fressen für die feindlichen Jagdflieger und Doppeldecker. Doch zunächst verblüffte er sie, indem er mit Maschinengewehrgeknatter zwischen sie fuhr. Sie glitten auseinander, um zunächst einmal nach dem jäh aufgetauchten Gegner genauer Ausschau zu halten. Junor flog nach Westen davon die Bahn entlang, und die feindlichen Maschinen nahmen die Verfolgung auf; wie denn nun einmal jeder Flieger die liebenswürdige Schwäche hat, sich sofort auf einen Gegner in der Luft zu stürzen, ungeachtet noch so wichtiger Erdziele.

Wir blieben in tiefem Frieden zurück. Nuri benutzte die kurze Zwischenpause, um rasch dreihundertfünfzig Reguläre mit zwei von Pisanis Geschützen zusammenzuraffen und sie über den Sattel hinter dem Tell Arar hinweg auf Meserib in Marsch zu setzen. Ließen uns die feindlichen Flugzeuge nur eine halbe Stunde Vorsprung, so war anzunehmen, daß sie weder die Verminderung unserer Kräfte am Tell Arar noch die Kolonne selbst bemerken würden, die in Gruppen zerstreut und sich jeder Bodenfalte anschmiegend westwärts zog. Das leichthügelige Land hier war bebaut und nahm sich von hoch oben aus wie eine bunte Steppdecke; der Boden war zudem mit hohen Maiskulturen bedeckt, und Distelfelder, bis zum Sattel reichend, breiteten sich dazwischen.

Die arabischen Bauern wurden den Soldaten nachgesandt. Und eben war ich dabei, meine Leibgarde zu sammeln, um mit ihr noch vor den Truppen Meserib zu erreichen, als wir – es war gerade eine halbe Stunde später – von neuem das Rattern von Motoren hörten. Zu unserem Erstaunen erschien Junor wieder, noch lebendig, indessen auf drei Seiten von kugelspuckenden Flugzeugen begleitet. Er flog geschickte Kurven, feuerte zurück und entwich immer wieder; aber gegenüber dieser überlegenen Zahl des Feindes war der Ausgang natürlich nicht zweifelhaft.

In der schwachen Hoffnung, Junor könnte vielleicht noch unversehrt niedergehen, eilten wir der Eisenbahn zu, wo ein Streifen Boden, nicht allzu sehr mit Geröll bedeckt, zum Landen sich eignen mochte. Alle halfen mit, um den Grund noch rasch von Steinen ein wenig zu säubern, indes Junor tiefer und tiefer getrieben wurde. Er warf uns eine Botschaft ab, um mitzuteilen, daß er mit seinem Benzin zu Ende sei. Wir arbeiteten fünf Minuten fieberhaft und gaben ihm dann das Signal zum Landen. Er kam nieder, aber im gleichen Augenblick setzte spitz von der Seite her ein scharfer Wind ein. Der Landungsstreifen war in jedem Fall zu klein. Er kam gut auf den Boden, doch ein neuer Windstoß trieb ihn weiter, und, gegen Steingeröll anprallend, überschlug sich die Maschine.

Wir eilten zur Hilfe herbei, aber Junor war schon aus den Trümmern hervorgekrabbelt, unverletzt bis auf einen Schnitt am Kinn. Er montierte die Maschinengewehre ab; wir warfen sie samt der Munition in Youngs Fordwagen und fuhren rasch davon. Ein feindliches Flugzeug kam tieffliegend heran und warf eine Bombe auf das Wrack.

Fünf Minuten darauf bat Junor um eine neue Aufgabe. Joyce gab ihm einen Ford, in dem er längs der Bahn bis nahe an Dera heranfuhr. Ehe ihn die Türken noch bemerkten, hatte er schon ein Stück der Geleise weggesprengt. Solchen Eifer fanden sie denn doch etwas übertrieben und eröffneten Maschinengewehrfeuer gegen ihn. Doch er ratterte mit seinem Ford davon, zum dritten Male unverletzt.


 << zurück weiter >>