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Hundertsiebzehntes Kapitel

Die andere Kolonne von zweitausend Mann lag unserem Zugriff näher. Die Hälfte unserer regulären Truppen und die halbe Batterie Pisani sollten gegen sie vorgehen. Tallal zeigte sich sehr beunruhigt, denn die feindliche Kolonne mußte auf ihrem Rückzug notwendigerweise durch Tafas, seinen Heimatsort, kommen. Wir beschlossen daher, im Eilmarsch das Dorf zu erreichen, um tunlichst noch vor Eintreffen des Feindes den südlich davon gelegenen Rücken zu besetzen. Doch war Eile leider nur ein relativer Begriff bei der starken Ermüdung unserer Truppen. Ich ritt daher mit meinen Leuten voraus, in der Hoffnung, eine gedeckte Stellung beim Dorf zu finden, von der aus der Feind bis zum Eintreffen unserer Hauptmacht aufgehalten werden konnte. Auf halbem Wege begegneten wir arabischen Reitern, die einen Trupp halbnackter Gefangener nach Scheik Saad zu trieben. Sie jagten sie unbarmherzig vor sich her; die blauen Beulen von ihren Stößen und Schlägen hoben sich vom Elfenbeingelb der Rücken ab. Aber ich überließ die Opfer ihrem Schicksal, denn es waren Türken von dem Polizeibataillon in Dera, deren Ruchlosigkeiten unzählige Male Blut und Tränen über die Dorfbewohner der Umgegend gebracht hatten. Die Araber erzählten mir, die türkische Kolonne – darunter das Lanzenreiterregiment Dschemal-Paschas – wäre bereits in Tafas eingezogen.

Als wir bis auf Sicht heran waren, stellten wir fest, daß die Türken das Dorf (von Zeit zu Zeit fiel ein Schuß) besetzt und ringsum Wachen ausgestellt hatten. Zwischen den Häusern stiegen Rauchwolken von zahlreichen kleinen Feuern hoch. An dem diesseitigen Hang des Rückens stand, knietief in den Disteln, eine Gruppe von Überlebenden der Bevölkerung: alte Männer, Frauen, Kinder; sie erzählten Grauenvolles, was sich eine Stunde zuvor beim Einmarsch der Türken in das Dorf ereignet hätte.

Wir lagen oben auf dem Höhenrücken auf der Lauer und beobachteten, wie sich der Feind von dem Sammelplatz hinter den Häusern wieder in Marsch setzte. In guter Ordnung rückten sie nach Miskin weiter, Lanzenreiter in der Vorhut und Nachhut, geschlossene Infanterieformationen und Maschinengewehre als Flankendeckung gleichmäßig in der Kolonne verteilt, in der Mitte die Artillerie und die Transportkolonnen. Als die Spitze aus dem Schutz der Häuser heraustrat, eröffneten wir das Feuer gegen sie. Zwei Geschütze wurden gegen uns gerichtet, aber, wie meist, war die Entfernung zu weit genommen und die Schrapnells flogen wirkungslos über unsere Köpfe weg.

Unsere Truppen trafen ein, an ihrer Spitze Nuri, Pisani und Tallal, dieser fast dem Wahnsinn nahe über das, was ihm seine Leute von den Leiden des Dorfes erzählt hatten. Eben verließen es die letzten Türken. Unsere Infanterie ging in Stellung und eröffnete Maschinengewehrfeuer; die halbe Batterie Pisani fuhr innerhalb der Schützenlinie auf; die französischen Granaten trieben die türkische Nachhut auseinander.

Das Dorf lag in völligem Schweigen, überschwelt von träg hinziehenden Rauchwolken, als wir vorsichtig heranritten. Einige graue Haufen lagen in hohem Grase, als wollten sie sich da verbergen, aber ihre dicht an den Boden geschmiegte Stellung war die von Leichen. Wir blickten fort; wir wußten ja, sie waren tot. Doch von einem der Haufen erhob sich eine kleine Gestalt und schwankte hinweg, wie um vor uns zu fliehen. Es war ein Kind, drei oder vier Jahre alt, das schmutzige Hemd an Schulter und Seite rot gefärbt vom Blut einer großen, schon entzündeten Wunde – vielleicht einem Lanzenstich –, gerade zwischen Hals und Rumpf.

Das Kind lief einige Schritte, stand dann still und schrie mit erstaunlich lautem Ton (sonst war alles totenstill): »Schlag mich nicht, Baba!« Abd el Asis – es war sein Heimatdorf und das Kind konnte von seiner Familie sein – schwang sich, einen unverständlichen Laut herauswürgend, von seinem Kamel, taumelte vorwärts und stürzte sich auf die Knie neben das Kind. Seine Heftigkeit mußte es erschreckt haben, denn es warf die Arme in die Luft und versuchte zu schreien, sank aber statt dessen zu einem kleinen Haufen in sich zusammen, während das Blut, wieder hervorbrechend, das Hemdchen hinunterrann. Dann, glaube ich, ist es gestorben.

Wir ritten an all den anderen Leichen von Männern und Frauen vorbei – auch vier Kinder darunter – dem Dorf zu, dessen Schweigen, das wußten wir jetzt, Tod und Schrecken bedeutete. Außerhalb der Häuser standen niedrige Lehmmauern, Schafhürden, und auf einer bemerkte man etwas Rotes und Weißes. Ich sah genauer zu und erblickte den Körper einer Frau über die Lehmwand gelegt, Rücken nach oben, dort festgenagelt mit einem Sägebajonett, dessen Heft gräßlich zwischen ihren nackten Schenkeln hervor in die Luft ragte. Um sie her lagen noch andere, vielleicht zwanzig im ganzen, auf die verschiedenste Weise hingemetzelt.

Saagi brach in eine schallende Lache aus, es klang schauerlich in der heiteren Ruhe dieses reinen, sonnendurchleuchteten Nachmittags. Ich rief: »Wer mir die meisten türkischen Toten bringt, ist der Beste unter euch.« Dann ritten wir weiter dem entweichenden Feinde nach. Was am Wege zurückgeblieben war und um unser Mitleid flehte, wurde erbarmungslos niedergeschossen. Ein verwundeter Türke, halb nackt, nicht fähig zu stehen, saß am Grabenrand, er hob uns die Arme entgegen und Tränen rannen aus seinen Augen. Abdulla wandte sein Kamel zur Seite. Saagi jedoch ritt fluchend heran und schoß ihm drei Kugeln in die Brust. Das Blut entströmte mit den Schlägen seines Herzens, poch, poch, poch, langsamer und langsamer.

Tallal hatte gesehen, was wir gesehen hatten. Ein Seufzer kam von seinen Lippen, es klang wie das Klagen eines verwundeten Tieres. Dann ritt er auf die Höhe nördlich des Dorfes, blieb dort eine Weile auf seiner Stute halten und blickte starr den abziehenden Türken nach, während ein Beben durch seine Gestalt lief. Ich wollte mich ihm nähern, um mit ihm zu reden; aber Auda griff mir in die Zügel und hielt mich zurück. Ganz langsam faßte er nach seinem Kopftuch und zog es über sein Gesicht; dann schien er sich einen Ruck zu geben, stieß die spitzen Steigbügel seiner Stute in die Flanken und, tief vorgebeugt, schwankend im Sattel, galoppierte er vorwärts, gerade auf die Masse des Feindes zu.

Er schien unendlich lange zu dauern, dieser Ritt den flachen Hang hinab und über eine Niederung hinweg. Wir starrten wie versteinert, während er vorwärts stürmte – der Hufschlag dröhnte unnatürlich laut in der Stille. Wir und die Türken hatten das Schießen eingestellt. Beide Armeen warteten regungslos, was kommen würde. Nur er jagte weiter durch den stillen Abend, schwer schaukelnd im Sattel, bis er auf wenige Längen an den Feind heran war. Dann richtete er sich steil hoch, und mit schauerlichem Jauchzen stieß er seinen Kriegsruf aus: »Tallal Tallal!« Augenblicklich krachten die Büchsen, ratterten die Maschinengewehre, und er und seine Stute, von Kugeln durchlöchert, brachen tot zwischen den Lanzenspitzen zusammen.

Auda schien kalt und ruhig, düster glomm es in seinen Augen. »Gott sei ihm gnädig,« sagte er, »wir werden seinen Preis einfordern.« Dann ruckte er an den Zügeln und setzte sich langsam in Bewegung, hinter dem Feinde her. Die bewaffnete Bauernschaft, jetzt wie trunken von Schrecken und Blut, wurde aufgerufen und ging von verschiedenen Seiten gegen die weichende Kolonne vor. Der alte Schlachtenlöwe war in Auda erwacht, und wie selbstverständlich wurde er jetzt wieder unser gegebener Führer. Durch eine geschickte Umgehung gelang es ihm, die Türken in ungünstiges Gelände abzudrängen und ihre Kolonne in drei Teile auseinanderzusprengen.

Der dritte und kleinste Teil bestand zumeist aus Deutschen und Österreichern, um ihre Maschinengewehre geschart, nebst einer Handvoll berittener Offiziere und Mannschaften. Sie verteidigten sich geradezu großartig, und trotz unseres kühnen Draufgehens wurden wir immer wieder zurückgeworfen. Die Araber fochten wie die Teufel, der Schweiß trübte ihre Augen, der Staub dörrte ihre Kehlen, Blutdurst und Rache durchzitterte ihre Körper, daß ihre Hände kaum das Gewehr zu handhaben vermochten. Auf meinen Befehl – das einzige Mal in unserem Krieg – wurden keine Gefangenen gemacht.

Schließlich ließen wir von dieser trotzigen Abteilung ab und machten uns an die beiden andern Teile der auseinandergerissenen Kolonne. Sie hatten sich schon in Panik aufgelöst, und als die Sonne sank, waren sie fast bis auf den letzten Mann niedergemacht, und reiche Beute war gewonnen. Gruppen der Landbevölkerung strömten unserem Vormarsch zu. Anfangs besaßen sie nur zu je fünf oder sechs eine Waffe; dann erbeutete dieser ein Bajonett, jener einen Säbel, der dritte einen Revolver. Eine Stunde später saßen die, die zu Fuß ausgezogen waren, bereits auf einem Esel; zuletzt besaß jeder ein Gewehr und ein erobertes Pferd. Als die Nacht herabsank, waren alle Pferde hoch mit Beute beladen; die weite, fruchtbare Ebene aber war besät mit toten Menschen und Tieren. In blinder Raserei, erweckt durch die Greuel von Tafas, töteten und töteten wir, zerschlugen selbst noch die Köpfe der Gefallenen, stachen Tiere nieder, als könnten nur Tod und rinnendes Blut unsern Schmerz lindern.

Eine weitere Gruppe von Arabern, die unsere Nachricht nicht bekommen hatte, nahm die letzten zweihundert Mann des mittleren Teils gefangen. Aber die Frist war nur kurz bemessen. Ich war hingegangen, um zu sehen, was los war; mir wäre es recht gewesen, wenn dieser Rest am Leben bliebe als Zeugen für Tallals Wert. Aber ein Mann, der an der Erde lag, brüllte den Arabern etwas zu, die mich mit blassen Gesichtern zu ihm führten. Es war einer der Unsrigen, der eine Schenkel war ihm zerschmettert. Sein Blut war über die rote Erde geflossen, und er lag im Sterben. Aber trotzdem hatten die Türken ihn nicht geschont. Er war, wie alle anderen in der heutigen Schlacht, weiter gequält worden; man hatte ihm Bajonette durch die Schultern und das andere Bein gestochen, so daß er wie ein zu präparierendes Insekt aufgespießt war.

Er war bei vollem Bewußtsein. Als wir ihn fragten: »Hassan, wer tat das?«, ließ er seine Augen über die Gefangenen schweifen, die sich hoffnungslos aneinanderdrängten. Kein Laut kam von ihren Lippen während der Augenblicke, bevor wir das Feuer auf sie eröffneten. Schließlich rührte sich nichts mehr in dem Haufen, und auch Hassan war tot. Wir saßen wieder auf und ritten langsam heim (»Heim« – das war mein Teppich, der drei oder vier Stunden von uns entfernt bei Scheik Saad lag) durch die Abenddämmerung, in der es so kühl wurde, wenn die Sonne untergegangen war.

Aber trotz Wunden, Pein und Erschöpfung konnte ich nicht aufhören, an Tallal zu denken, den herrlich kühnen Führer, den glänzenden Reiter, den liebenswürdigen und unermüdlichen Kameraden und Weggenossen.

Sobald hier alles vorbei war, bestieg ich mein zweites, noch ausgeruhtes Kamel, und begleitet von meiner Leibgarde, ritt ich hinüber, um zu sehen, was sich mit der zweiten Kolonne des Feindes ereignet hatte, den viertausend Mann, gegen die Khalid mit den Rualla entsandt worden war.

Die Nacht war sehr dunkel, ein kalter Wind schlug mir in heftigen Stößen von Süd und Ost her ins Gesicht. Nur dem Klang der Schüsse folgend, die der Wind herübertrug, und dem gelegentlichen Aufblitzen der Geschütze, erreichten wir schließlich das Kampfgelände. Über Felder und Täler strebten aufgelöste türkische Abteilungen in blinder Hast nordwärts. Die Dunkelheit hatte unsere Leute kühner gemacht, und sie waren dem Feind hart auf den Fersen, hingen sich wie Kletten an ihn. Jedes Dorf, an dem die Woge der Schlacht vorbeirollte, schloß sich dem Kampf an; und in das Heulen des nächtlichen Windes mischte sich das Knattern von Gewehrfeuer, wildes Rufen und Schreien, einzelne ratternde Salven der Türken und das Dröhnen der galoppierenden Pferdehufe, wenn zwei Abteilungen von beiden Seiten tosend aufeinanderprallten.

Der Feind hatte bei Sonnenuntergang haltzumachen und ein Lager aufzuschlagen versucht; doch Khalid hatte ihm keine Ruhe gelassen und ihn wieder auf die Beine gebracht. Ein Teil marschierte, ein Teil war stehen geblieben; viele sanken mitten auf dem Wege vor Übermüdung in Schlaf. Ordnung und Zusammenhang hatten sich völlig gelöst; in verlorenen Haufen trieb die Masse der Türken im stürmischen Wind dahin, schoß unsinnig in die Luft und lief bei jedem Zusammenstoß mit Freund oder Feind blindlings auseinander. Auch unsere Araber, in wirrem Durcheinander, fielen sich in der Dunkelheit oft gegenseitig an.

Eine Ausnahme allein machten die deutschen Abteilungen; und hier zum erstenmal wurde ich stolz auf den Feind, der meine Brüder getötet hatte. Sie waren zweitausend Meilen von ihrer Heimat entfernt, ohne Hoffnung im fremden, unbekannten Land, in einer Lage, verzweifelt genug, um auch die stärksten Nerven zu brechen. Dennoch hielten ihre Trupps fest zusammen, geordnet in Reih und Glied, und steuerten durch das wirr wogende Meer von Türken und Arabern wie Panzerschiffe, schweigsam und erhobenen Hauptes. Wurden sie angegriffen, so machten sie halt, gingen in Gefechtsstellung und gaben wohlgezieltes Feuer. Da war keine Hast, kein Geschrei, keine Unsicherheit. Prachtvoll waren sie.

Endlich fand ich in der Dunkelheit Khalid und bat ihn, seine Rualla wieder zusammenzurufen; die Reste der weichenden Türken konnten der Landbevölkerung überlassen bleiben. Denn vielleicht gab es woanders wichtigere Arbeit. Bei Dunkelwerden nämlich hatte sich das Gerücht verbreitet, Dera wäre vom Feind geräumt, und um die Wahrheit festzustellen, war Trad, der Bruder Khalids, mit einem Teil der Anaseh dorthin geritten. Ich fürchtete einen Rückschlag für ihn, denn es mußten noch Türken dort sein, und längs der Eisenbahn und aus den Irbidbergen strömten noch weitere dorthin zurück. General Barrow war bei Remthe stehengeblieben, und wenn er die Fühlung mit dem Feinde verloren hatte, mußte eine starke Nachhut des Gegners im Rückmarsch auf Dera sein.

Ich bat daher Khalid, seinem Bruder für alle Fälle zu Hilfe zu kommen. Nachdem er den Befehl zum Sammeln ein oder auch zwei Stunden lang in den Wind gerufen hatte, waren Hunderte von Rualla zu Pferd oder Kamel bei ihm zusammengekommen. Er ritt durch die jetzt sternenklare Nacht, rannte unterwegs noch einzelne versprengte türkische Abteilungen über den Haufen und fand Trad in sicherem Besitz von Dera. Er hatte eben, als die Dunkelheit hereinbrach, die Station im Galopp attackiert und die kümmerlichen Reste der Türken, die noch schwachen Widerstand versuchten, niedergemacht.

Die Rualla plünderten mit Hilfe der Einheimischen das Lager; besonders viel Beute fanden sie in den lichterloh brennenden Vorratshäusern, deren flammende Dächer ihr Leben in Gefahr brachten. Aber dies war eine der Nächte, da die Menschheit aus den Fugen ging, da der Tod für einen selbst unmöglich erschien, wieviel auch zur Rechten oder zur Linken fallen mochten, und da das Leben des Nächsten zum Spielzeug wurde, das man zerbrechen und wegwerfen konnte.

Scheik Saad erlebte einen Abend voller Unruhe; es wurde geschossen und geschrien, und die Dörfler drohten, alle Gefangenen zur Rache für Tallal und sein Dorf niederzumachen. Die Scheiks jagten draußen hinter den Türken her, und ihre Abwesenheit beraubte das arabische Lager der erfahrenen Führer. Schlummernde Fehden zwischen den Clans waren in dem Blutrausch dieses Mordtages neu erwacht, und Nasir und Nuri Said, Young und Winterton mußten alle Kräfte anspannen, um Frieden zu halten.

Nach Mitternacht kam ich nach Scheik Saad zurück, wo eben die Boten Trads mit der Meldung von der Besitznahme von Dera eingetroffen waren. Nasir brach sogleich dahin auf. Trotz aller Müdigkeit – ich war nun schon die vierte Nacht im Sattel – bestieg ich mein drittes Kamel und trabte in die Nacht hinaus, Dera zu, wieder vorbei an dem dunkel und schweigend liegenden Dorf Tafas.

Auf dem gleichen Weg ritt Nuri Said mit seinem Stab, im Vortrab seiner berittenen Infanterie; ich schloß mich ihm an, bis im Osten das erste Grau sich zeigte. Dann hielt mich meine Ungeduld nicht länger bei dem gemächlichen Tempo der Pferde. Ich gab meinem Kamel die Zügel frei – es war die große, rebellische Baha –, und mächtig ausgreifend ging sie los, in gleichmäßiger Gangart, wie Kolbenstöße einer Maschine, so daß ich – meine Begleiter auf Meilen hinter mir lassend – bei Anbruch des hellen Morgens ganz allein in Dera einritt.

Nasir residierte im Rathaus, setzte einen Militärgouverneur ein nebst der nötigen Polizeitruppe und ordnete eine genaue Durchsuchung der Stadt an. Ich ergänzte seine Anordnungen und ließ Wachen aufziehen bei allen Maschinenschuppen, Pumpstationen und den noch vorhandenen Material- und Proviantvorräten. Dann, in einstündigem Vortrag, entwickelte ich ihm ein genaues Programm aller Maßnahmen, die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit notwendig waren, wenn wir Herr der Lage bleiben wollten. Dem armen Nasir schien ganz wirr im Kopf zu werden.

Dann ging ich, um General Barrow ausfindig zu machen. Gerade kam ein Mann von Westen her in die Stadt und berichtete, daß die Engländer auf ihn geschossen hätten und sich bereits zu einem Angriff gegen die Stadt entwickelten. Dem mußte ich zuvorkommen und ritt daher, von Saagi begleitet, zum Buweib hinauf, auf dessen Kamm eine indische Maschinengewehrabteilung in Stellung sichtbar wurde. Als uns die Inder herankommen sahen, richteten sie ihre Gewehre auf uns, sehr stolz auf ein so prächtig gekleidetes Ziel. Zum Glück erschien ein englischer Offizier, und ich konnte ihm erklären, wer ich sei. Tatsächlich waren die Engländer schon mitten in einer Angriffsbewegung gegen Dera. Während wir noch sprachen, bombardierten die englischen Flugzeuge den unglücklichen Nuri Said, der – als letzter von Scheik Saad kommend – mit seinem Stabe eben in die Eisenbahnstation einritt. Um dem Einhalt zu tun, eilte ich hinunter zu General Barrow, der eben in seinem Wagen die vorgeschobenen Stellungen abfuhr.

Ich sagte ihm, daß wir die Nacht in der Stadt verbracht hätten, und was er gehört habe, seien Freudenschüsse gewesen. Er war kurz angebunden, aber ich nahm keine Rücksicht darauf, denn er hatte einen Tag und eine Nacht mit Wassernehmen bei den wenig ergiebigen Brunnen von Remthe verloren, obwohl ihm die Karte den See und Fluß von Meserib gerade vor ihm wies, auf dem Wege, auf dem der Feind davonlief. Jedoch hatte er Befehl, nach Dera zu gehen, und dorthin wollte er durchaus.

Er bat mich, neben ihm zu reiten; aber die britischen Pferde konnten mein arabisches Kamel nicht ausstehen, so daß der ganze Stab genötigt war, neben dem Damm zu reiten, während ich stolz mitten auf der Straße dahinzog.

Barrow erklärte, daß er Wachen in den Ort legen müßte zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Ich unterrichtete ihn – mit sanftester Stimme –, daß die Araber bereits ihren Militärgouverneur eingesetzt hätten. Barrow sagte, seine Pioniere müßten die Pumpen bei den Brunnen nachsehen. Ich erwiderte, ihre Hilfe wäre uns willkommen. Barrow schnarrte, wir schienen ja hier schon ganz zu Hause zu sein, jedenfalls aber müßte er Station und Eisenbahn besetzen. Ich wies auf eine Lokomotive, die eben die Station in Richtung auf Meserib verließ, und bat ihn, seine Posten dahin zu instruieren, daß sie sich nicht in den von uns eingerichteten Betrieb einmischten.

Barrow hatte keinerlei Weisung erhalten in bezug auf die Araber und daher geglaubt, sie wie ein besiegtes Volk behandeln zu müssen. So schaute er einigermaßen verdutzt drein, als ich ihm mit ruhiger Entschiedenheit erklärte, er wäre hier mein Gast; aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich nach dieser Versicherung zu richten. Mein Kopf arbeitete fieberhaft in diesen Minuten, um bei dem Zusammentreffen beider Völker die unseligen ersten Schritte zu vermeiden, durch die der phantasielose Engländer, bei bestem Willen, gemeinhin die nachgiebigen Eingeborenen der Zucht der Selbstverantwortung beraubt und eine Lage schafft, die wieder gutzumachen es dann Jahre der Werbung und allmählichen Reformen bedarf.

Ich hatte Barrows Werke gelesen und war gut vorbereitet. Vor Jahren hatte er sein Glaubensbekenntnis veröffentlicht: daß nur die Furcht für den Durchschnitt der Menschheit der Antrieb zur Tat in Krieg und Frieden sei. Ich aber empfand jetzt die Furcht als ein gemeines, überschätztes Motiv; sie war kein Abschreckungsmittel, sondern ein Reiz, ein giftiges Reizmittel, und jede Spritze dieses Giftes zerstörte den Leib dessen, der davon Gebrauch machte. Ich wollte nichts von Barrows pedantischem Glauben wissen, daß man die Menschen durch Furcht in den Himmel jagen müsse; besser Barrow und ich blieben getrennt. Um das Unvermeidliche herbeizuführen, war ich abweisend und hochmütig.

Barrow gab nach und bat mich nun, ihm Verpflegung und Fourage für seine Truppen zu beschaffen. Als wir auf den großen Platz in der Stadt kamen, zeigte ich ihm den kleinen seidenen Wimpel Nasirs, am Eingang zu dem angeräucherten Gouvernementsgebäude, mit einer gähnenden Schildwache daneben. Barrow richtete sich straff auf und grüßte den Wimpel; ein Beben der Freude lief durch die umstehenden arabischen Offiziere und Soldaten bei dieser Ehrenbezeugung des englischen Generals.

Umgekehrt bemühten wir uns wiederum, ein möglichstes Entgegenkommen zu zeigen, soweit es mit der allgemeinen Ordnung und Sicherheit vereinbar war. Den Arabern prägten wir nachdrücklichst ein, die Inder als ihre Gäste zu betrachten und ihnen daher alles zu gestatten, was sie zu tun wünschten, ja ihnen dabei noch behilflich zu sein. Diese Auffassung brachte uns in die sonderbarsten Lagen. Binnen kurzem waren sämtliche Hühner aus der Ortschaft verschwunden; und drei Sowars Sowars = indische reguläre Kavallerie. (A. d. Ü.) schleppten Nasirs Wimpel davon, dessen silberne Knöpfe und Nägel an dem zierlichen Stock ihnen begehrlich erschienen waren. Das ergab einen sehr sichtbaren Gegensatz zwischen dem englischen General, der den Wimpel ehrte, und den indischen Soldaten, die ihn stehlen wollten, einen Gegensatz, der die Araber in ihrem Rassevorurteil gegen die Inder bestärkte.

Inzwischen wurden von überall her noch türkische Mannschaften, Geschütze und Material eingebracht. Die Gefangenen konnten wir nach Tausenden zählen. Ein Teil wurde den Engländern übergeben, die sie nochmals zählten; die meisten wurden in die umliegenden Dörfer verteilt. Auch Asrak erhielt Kunde vom ganzen Umfang unseres Sieges. Faisal zog einen Tag danach in Dera ein, voran die Reihe unserer Panzerautos, hinter denen er in seinem Vauxhall-Wagen folgte; er nahm in den Stationsgebäuden Quartier. Ich suchte ihn auf und erstattete ausführlichen Bericht. Als ich geendet hatte, schwankte das Zimmer unter einem leichten Erdbeben.


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