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Hundertstes Kapitel

Über diesen Text brüteten meine Gedanken wie Sonnenstäubchen, die durch ein altes, staubiges Zimmer tanzen. Schließlich sah ich, daß diese Bevorzugung des Unbekannten vor dem Gott eine Sündenbockidee war, die nur in einen falschen Frieden einlullte. Auf Befehl auszuhalten oder weil die Pflicht es forderte, das war leicht. Der Soldat duldete gegen seinen Willen; indessen mußte unser Wille den Werkmeister spielen, solange bis die Arbeiter umsanken, mußte selber in Sicherheit bleiben und andere in Gefahr stoßen. Vielleicht wäre es heroisch gewesen, mein eigenes Leben einer Sache darzubringen, an die ich nicht glauben konnte; doch es war Seelendiebstahl, andere in Treu und Glauben an ein Götzenbild sterben zu lassen. Weil sie unsere Botschaft als Wahrheit annahmen, waren sie bereit, sich dafür töten zu lassen; doch dadurch erschienen ihre Taten eher tüchtig als rühmlich, es war eine Stärke aus unechter Logik, mehr geeignet, eine Gewinn- und Verlustrechnung der Haltung aufzustellen. Erst ein Evangelium zu erfinden und dann mit offenen Augen für dessen selbstgeschaffenes Götzenbild unterzugehen – das war größer.

Unsere ganze Bewegung schien sich nur in den Begriffen von Tod und Leben ausdrücken zu lassen. Im allgemeinen waren wir uns unserer Fleischlichkeit bewußt, weil sie sich durch den Schmerz bemerkbar machte. Durch die lange Gewohnheit an den Schmerz spürten wir die Freude noch eindringlicher; aber unsere Leidensfähigkeit erschien größer als unsere Fähigkeit zur Freude.

Ein Riff, an dem bei vielen die Selbstbewertung Schiffbruch erlitt, war der Irrglaube, daß unser Dulden vielleicht einem ganzen Volk Erlösung bringen könne. Eine solche falsche Umkleidung gebar eine heftige, aber bald wieder vergehende Befriedigung, in der wir fühlten, daß wir die Schmerzen oder das Erleben anderer in uns aufgenommen hatten. Es war ein Triumph und ein Gefühl der Ausweitung; wir hatten unser trübes Ich verlassen, eine geometrische Vollkommenheit gewonnen, hatten einen neuen Sinn uns einverleibt.

In Wahrheit aber hatten wir den Stellvertreter nur um unser selbst willen angenommen oder zum mindesten deshalb, weil es zu unserm Nutzen war; und wir konnten diesem Bewußtsein nur entrinnen durch ein Sich-stellen-als-ob, sowohl dem Verstand wie dem Beweggrund nach.

Dieses Opfer des eignen Ichs gewährte die seltene Gabe der Selbstentäußerung; und kein Stolz und nur wenige Freuden der Welt waren so freudebringend, so reich wie dies: freiwillig eines anderen Menschen Übel auf sich zu nehmen, um sich selber zu vervollkommnen. Darin lag eine gewisse Selbstsucht verborgen, wie in jedem Vollkommenheitsstreben. Für jede Gelegenheit konnte es nur einen Stellvertreter geben, und nahm man ihn weg, so beraubte man die Kameraden der Schmerzen, die ihnen zukamen. Der Stellvertreter jubilierte, während seine Brüder in ihrem Mannesstolz verletzt waren. Eine so reiche Erlösung demütig hinzunehmen, war Unvollkommenheit bei ihnen; ihre Freude, daß sie deren Kosten sparten, war sündig, denn sie machte sie bewußt mitschuldig am Beladen ihres Mittlers. Die reinere Rolle wäre es für den Mittler gewesen, unter der Menge zu stehen und zuzuschauen, wie ein anderer den Glorienschein des Erlösers gewann. Auf dem einen Wege gelangte man zur Vollkommenheit, auf dem anderen zur Selbstopferung und Vervollkommnung seines Nächsten. Hauptmann lehrte uns, daß wir ebenso freudig nehmen wie geben sollten. Wir jedoch schienen eher den Zellen einer Honigwabe zu gleichen, von denen eine nur auf Kosten aller sich verändern oder ausdehnen kann.

Für einander in Einfalt zu dulden, verlieh ein Gefühl der Größe. Nichts war erhabener als ein Kreuz, von dem aus man die Welt unter sich betrachtete. Aber jeder, der ans Kreuz geschlagen wurde, nahm damit den nach ihm Kommenden alles – bis auf die jämmerliche Rolle des Nachahmers; und das waren die minderwertigsten Dinge, die nach einem Beispiel getan wurden. Die Tugend des Opferns lag in der Seele des Geopferten.

Ehrliche Erlösung mußte frei und in kindhaftem Geiste dargebracht werden. Wenn der Büßende sich seiner eigentlichen Motive und seines Nachruhms bewußt war, war es mit beiden vorbei. So eignete sich der einsichtige Altruist einen Anteil an, der für ihn selber wertlos, ja sogar schädlich war, denn wäre er passiv geblieben, wäre sein Kreuz einem Unschuldigen vergönnt gewesen. Den Einfältigen von solcher Sünde zu befreien, indem man sein eigenes kompliziertes Ich dafür einsetzte, wäre geizig für einen modernen Menschen gewesen. Er konnte in seiner Gedankenverwirrung den Glauben an die Befreiung anderer durch seine Agonie nicht teilen, und jene, die verständnislos auf ihn blickten, mochten die Schande empfinden, die das Schicksal des mannhaften Jüngers war – oder mochten sie nicht empfinden und die doppelte Strafe der Unwissenheit auf sich laden.

Oder war auch diese Scham gleichfalls eine Selbstentäußerung, die nur um ihrer selbst willen zulässig und bewundernswert war? Blindheit und Torheit, die den Weg des Rechts nachäfften, wurden schwerer gestraft als absichtliche Sünde, wenigstens in dem Bewußtsein der Gegenwart und den Gewissensqualen der Lebenden. Komplizierte Menschen, die wußten, wie das Selbstopfer den Erlöser erhöhte und den Erkauften zu Boden drückte und die mit diesem Wissen zurückhielten, mochten so einen törichten Bruder zu einem falschen Edelmut verführen, aus dem er später zu einem um so schwereren Urteil erwachte. Es gab kein Geradeausgehen für uns Führer in diesen krummen Wegen der Führung, Kreis im Kreise unbekannter, verschämter Motive, die ihre Vorläufer aufhoben oder auch doppelt belasteten.

Dennoch kann ich meine Zustimmung zum Betrug an den Arabern nicht auf Charakterschwäche oder angeborene Heuchelei zurückführen; obwohl ich natürlich zum Betrug neigen und dazu fähig sein mußte, denn sonst hätte ich nicht die Menschen so gut getäuscht und es zwei Jahre lang ausgehalten, einen Betrug zum Erfolg zu führen, für den andere den Rahmen geschaffen und den andere auf die Beine gestellt hatten. Ich hatte am Anfang nichts mit dem Araberaufstand zu tun gehabt. Zum Schluß war ich dafür verantwortlich, daß er seinen Erfindern unbequem wurde. Aus welchen Gründen in der Zwischenzeit meine Schuld von einer Teilschuld zur Hauptschuld geworden war, aus welchen Gründen ich verdammt sein sollte, obliegt mir nicht zu sagen. Möge genügen, daß ich seit dem Marsch auf Akaba bitter bereute, mich in diese Bewegung eingelassen zu haben, mit einer Bitterkeit, die groß genug war, mir meine Mußestunden zu vergällen, obwohl wieder nicht groß genug, um mich zu veranlassen, daß ich mich von ihrem Schlepptau löste. Daher auch das Hinundher meines Willens und diese meine endlosen, schalen Klagen.


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