Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfundachtzigstes Kapitel

Aber alle diese Pläne wurden zu Wasser. Ehe wir uns noch über die Einzelheiten recht im klaren waren, überraschten uns die Türken durch einen Versuch, uns aus dem Gebiet von Tafileh wieder herauszuwerfen. Das hätten wir uns nie träumen lassen, denn es schien uns ganz außer aller Möglichkeit zu liegen, daß die Türken Tafileh zu halten hofften oder überhaupt nur die Absicht hätten, es zu halten. Allenby stand bereits in Jerusalem, und für die Türken hing doch der Ausgang des Krieges allein davon ab, den Jordanabschnitt gegen Allenby zu halten. Wenn Jericho nicht fiel, oder so lange, bis es fiel, war Tafileh für den Feind nur ein kleines Dorf ohne jeden Wert. Auch für uns war es als Besitz von keiner Bedeutung, sondern diente nur als Durchgangsstation für unseren weiteren Vormarsch gegen den Feind. In einer so kritischen Lage, wie die der Türken es war, auch nur einen Mann zur Rückeroberung von Tafileh einzusetzen, schien der nackte Wahnsinn.

Hamid Fakhri-Pascha, der Kommandeur der 48. türkischen Division, dachte anders oder hatte seine Befehle. Er sammelte etwa neunhundert Mann Infanterie, eingeteilt in drei Bataillone (im Januar 1918 war ein türkisches Bataillon eine armselige Sache), hundert Mann Kavallerie, zwei Gebirgshaubitzen und siebenundzwanzig Maschinengewehre, und sandte sie mit der Bahn und zu Fuß nach Kerak. Hier legte er auf alle verfügbaren Transportmittel Beschlag, versah sich mit den nötigen Beamten zur Einrichtung seiner neuen Verwaltung in Tafileh und rückte rasch südwärts vor, um uns zu überraschen.

Und das gelang ihm auch. Wir merkten überhaupt erst etwas von seinem Vormarsch, als seine Kavallerieführer auf unsere Feldwachen im Wadi Ghesa stießen, jener breiten, tiefen und schwer passierbaren Schlucht, die Kerak von Tafileh, das alte Moab von Edom, trennt. Unsere Posten wurden in der Dunkelheit zurückgetrieben, und Fakhri stand vor uns.

Dschaafar-Pascha hatte oben auf dem südlichen Rand der großen Schlucht von Tafileh eine Verteidigungsstellung vorgesehen, in der Absicht, bei einem türkischen Angriff das Dorf preiszugeben und dafür die den Ort beherrschenden Höhen zu halten. Das schien mir im doppelten Sinne unzweckmäßig. Die Hänge nach dem Feind zu lagen im toten Winkel, und die Stellung war daher ebenso schwierig zu verteidigen wie anzugreifen; außerdem konnte sie von Osten her umgangen werden. Verließen wir das Dorf, so gaben wir auch die Bevölkerung preis, die doch natürlich mit Hand und Herz auf seiten derer stehen mußte, die ihre Häuser in Besitz hielten und verteidigten.

Indessen, so war es nun einmal geplant – Seid fiel auch nichts Besseres ein –, und so wurde daher gegen Mitternacht der Befehl zum Besetzen der Stellung gegeben. Diener und Gefolge luden eiligst das Gepäck auf. Die Bewaffneten rückten zum südlichen Höhenrand, während die Bagagekolonnen auf der unteren gedeckten Straße das Dorf verließen. Diese Bewegungen verursachten eine Panik in der Ortschaft. Die Bevölkerung glaubte, wir liefen davon (ich meine, wir taten es auch), und beeilte sich, ihre Habe und ihr Leben in Sicherheit zu bringen. Es herrschte starker Frost, und der Boden war mit einer harten Eiskruste überzogen. Lärm, Geschrei und ein unbeschreiblicher Wirrwarr erfüllten die engen, nächtlich dunklen Gassen.

Dhiab, der Ortsgewaltige, hatte große Töne geredet von feindlicher Gesinnung der Einwohner, um so den Glanz seiner Treue um so heller erstrahlen zu lassen; doch ich hatte den Eindruck, daß es handfeste Kerle waren, die man unter Umständen brauchen konnte. Um die Probe darauf zu machen, setzte ich mich auf das Dach meines Hauses oder ging, unkenntlich in meinen Mantel gehüllt, in den dunklen Straßen auf und ab, meine Wache unauffällig in Rufweite hinter mir. So konnte ich hören, was vorging. Die Bevölkerung war in einer nahezu bedrohlichen Panik, beschimpfte alles und jeden; aber weit und breit hörte ich keine Stimme, die für die Türken gewesen wäre. Ja, sie verrieten geradezu ein Grauen vor der Rückkehr der Türken und waren bereit, alles, was in ihren Kräften stand, zu tun, um einen kampfentschlossenen Führer gegen die Türken zu unterstützen. Sehr erfreulich; das harmonierte mit meinem Wunsch, den Platz bis zum äußersten zu verteidigen.

Dann traf ich auf die beiden jungen Dschasi-Scheiks, Metaab und Annad, mit prächtiger Seide angetan und silberglitzernden Waffen, und sandte sie aus nach ihrem Onkel, Hamd el Arar. Diesen bat ich, durch den nördlichen Ausgang der Schlucht zur Landbevölkerung zu reiten, die, nach dem Lärm zu urteilen, mit den Türken schon in Kampf geraten war, und ihnen zu vermelden, daß wir bereits auf dem Wege seien, um ihnen zu Hilfe zu kommen. Hamd, ein tapferer melancholischer Ritter, war sofort bereit und galoppierte mit zwanzig seiner Motalga – das war alles, was er in der Eile zusammenraffen konnte – davon.

Ihr hastiger Ritt durch die Straßen trieb Wirrnis und Schrecken vollends auf den Höhepunkt. Frauen warfen ihre Habe in eilig zusammengehäuften Bündeln aus Türen und Fenstern, obwohl keine Männer da waren, um die Sachen in Empfang zu nehmen. Kinder wurden überrannt und brüllten, während ihre Mütter ganz woanders nach ihnen jammerten. Im Davonstürmen feuerten die Motalga, zur eigenen Ermutigung, ihre Flinten in die Luft; und, gleichsam als Antwort, sah man jetzt, den nördlichen Klippenrand säumend, das Aufleuchten der feindlichen Schüsse in jener tiefen Schwärze des Himmels, die dem ersten Morgengrauen vorausgeht. Ich stieg zur Höhe außerhalb des Dorfes hinauf, um mich mit Scherif Seid zu beratschlagen.

Seid saß würdevoll auf einem Felsen und suchte durch sein Fernglas die Gegend nach dem Feinde ab. Je mehr die Krise sich verschärfte, desto gelassener und gleichgültiger wurde Seid. Mich dagegen hatte eine wahre Wut gepackt. Nach den einfachsten Grundregeln vernünftiger Kriegführung hätten sich die Türken nie und nimmer auf diesen Vorstoß gegen das gänzlich belanglose Tafileh einlassen dürfen. Es war nichts als reine Gier, das Benehmen eines Hundes, der nach jedem mageren Knochen schnappt, und unwürdig eines Gegners, der ernst genommen sein wollte, aber just so die Art der Türken, gänzlich aussichtslose Dinge zu unternehmen. Wie konnten sie einen anständig geführten Krieg erwarten, wenn sie uns nie Gelegenheit gaben, uns in Ehren mit ihnen zu messen? Unsere Moral wurde fortgesetzt untergraben durch ihre törichte und klägliche Kriegführung; denn weder konnten unsere Soldaten ihren Mut achten, noch unsere Offiziere ihren Verstand. Zudem war es ein eisig kalter Morgen, und ich war die ganze Nacht auf den Beinen gewesen; auch war ich denn doch Teutone genug, um mir vorzunehmen, daß sie mir für diese sinnlose Durchkreuzung meiner Pläne gründlich büßen sollten.

Sie mußten, nach der Eile zu urteilen, mit der sie vorrückten, nicht sehr zahlreich sein. Wir hatten vor ihnen jeden Vorteil voraus: Zeit, Gelände, Zahl, Wetter, und konnten sie leicht schachmatt setzen; doch meinem Grimm genügte das nicht. Jetzt wollten wir auf ihre Spielweise eingehen, in unserem Zwergenmaßstab ihnen die reguläre Schlacht liefern, die sie haben wollten; und die heißt Vernichtung des Gegners. Und ich rief mir die halbvergessenen Grundsätze des orthodoxen Kriegsschulhandbuchs wieder ins Gedächtnis, um jetzt die Parodie darauf zu liefern.

Das war niederträchtig gehandelt, denn mit Arithmetik und Geographie im Bunde hätten wir den Faktor des Tötens so gut wie ausschalten können; und den Sieg bewußt zu einem spaßhaften Spiel zu machen, war ein Frevel. Wir hätten den Sieg gewinnen können, indem wir nicht auf die Schlacht eingingen, sondern, wie wir es bei zwanzig Gelegenheiten vorher und nachher taten, mit unserem Zentrum manövrierten; aber diesmal kamen meine schlechte Laune und mein Eigendünkel zusammen und ließen mich nicht damit zufrieden sein, daß ich selber meine Macht kannte, sondern brachten mich zu dem Entschluß, sie auch dem Feinde und jedermann öffentlich kundzutun. Ich überzeugte Seid davon, daß es unvorteilhaft wäre, in der Verteidigung zu bleiben, und er war nur zu bereit, auf die Stimme des Versuchers zu hören.

Als erstes schlug ich vor, daß Abdulla mit drei Hotchkissmaschinengewehren einen Vorstoß machen sollte zur gewaltsamen Erkundung von Stärke und Stellung des Feindes. Dann wurde besprochen, was weiterhin zu tun sei; mit gutem Ergebnis, da der kleine Seid eine kaltblütige und beherzte Kampfnatur war, vom Geist eines Berufsoffiziers beseelt. Wir sahen, wie Abdulla mit seiner Abteilung die vor uns liegende Bodenwelle überschritt. Das Feuer wurde eine Weile lebhafter, um dann nach der Ferne hin zu verebben. Abdullas Vorgehen hatte den Motalga und den berittenen Landbewohnern Mut gemacht. Sie fielen die türkische Kavallerie an, trieben sie über einen ersten Rücken, dann über eine zwei Meilen breite Fläche und über einen weiteren Rücken bis an den Rand der großen Niederung bei Hesa.

Dort lagen die türkischen Hauptkräfte, die, durch eine eiskalte Nacht an ihrem Platz festgehalten, eben zu weiterem Vormarsch angetreten waren. Sehr bald griffen sie in den Kampf ein, und der Vorstoß Abdullas kam sofort zum Stehen. Man hörte in der Ferne das Knattern der Maschinengewehre, das zu einem gewaltigen ununterbrochenen Rollen anwuchs, begleitet vom berstenden Gekrach der Granaten. Man hörte genau was vorging, so gut, als wenn man es hätte sehen können, und es klang sehr erfreulich. Ich drängte Seid, auf diese guten Anzeichen hin sofort vorzugehen; aber seine Vorsicht hielt ihn zurück, und er bestand darauf, erst genaue Nachrichten von Abdulla, seinem Vortrupp, abzuwarten.

Das war, der Lehre der Taktik nach, durchaus nicht notwendig; aber man wußte, ich war nicht Berufssoldat, und nahm sich die Freiheit, nur sehr zögernd an meine Ratschläge heranzugehen, so dringlich ich sie auch vorbrachte. Doch ich hielt ja etwas in der Hand, was mehr wert war als Worte, und machte mich selber an die Front auf, um ihrer Entscheidung zuvorzukommen. Unterwegs traf ich auf meine Leibgarde, höchst eifrig bei den auf der Straße herumliegenden Habseligkeiten beschäftigt, aus denen sie sich schon allerhand Kram herausgesucht hatten. Ich befahl ihnen, ihre Kamele von dem Zeug wieder frei zu machen und so schnell wie möglich unser Hotchkissmaschinengewehr nach dem Nordrand der Schlucht zu bringen.

Die Straße lief durch einen Hain kahler Feigenbäume und bog dann nach Osten, um in langen Windungen durch das Tal hindurch zum Rand aufzusteigen. Ich verließ die Straße und kletterte geradenwegs die steinernen Hänge hinauf. Barfuß geht man mit unglaublicher Sicherheit über zackiges Felsgestein, wenigstens wenn die Sohlen durch lange schmerzhafte Gewöhnung hart geworden sind oder die Füße so steif gefroren, daß man Zacken und Spitzen überhaupt nicht mehr spürt. Das Heraufklimmen hatte mich durchwärmt und zugleich meinen Weg beträchtlich abgekürzt.

Oben angekommen, fand ich einen breiten Höhenrücken – mit Resten byzantinischer Bauten –, der das vorliegende Plateau beherrschte und mir sehr geeignet schien zur Bereitstellung einer Reserve und zugleich als äußerste Verteidigungslinie. Die Wahrheit zu sagen, hatten wir gar keine Reserve – keiner hatte überhaupt eine Ahnung, was und wo wir etwas hatten –, aber falls sich herausstellen sollte, daß irgend etwas Verfügbares da war, so war entschieden hier der Platz dafür. Eben jetzt erblickte ich die Ageyl aus Seids persönlichem Gefolge, höchst zimperlich in einen Hohlweg geduckt. Es bedurfte schon Worte von einer Deutlichkeit, daß ihre Zöpfe vor Schreck aufgingen, ehe ich sie bewegen konnte, zu mir heraufzukommen. Aber schließlich hatte ich sie ganz hübsch auf der Kammlinie des »Reserverückens« aufgebaut. Es waren ihrer etwa zwanzig, und von weitem nahmen sie sich wirklich aus wie vorgeschobene Spitzen einer dahinter befindlichen starken Armee. Ich gab ihnen meinen Siegelring als Ausweis und befahl ihnen, alle des Wegs Kommenden hier festzuhalten, namentlich meine Leibburschen mit dem Maschinengewehr.

Als ich dann weiter auf das Gefechtsfeld zuging, traf ich Abdulla, mit Nachrichten auf dem Wege zu Seid. Er hatte alle Munition verschossen, fünf Mann durch Schrapnellfeuer verloren, und eins seiner Maschinengewehre war zerstört. Zwei weitere, meinte er, hätten wohl die Türken. Er wollte Seid veranlassen, mit allen verfügbaren Kräften den Kampf aufzunehmen; ich hatte dieser Botschaft nichts weiter zuzufügen.

Inzwischen blieb mir Zeit, das voraussichtliche Kampfgelände näher in Augenschein zu nehmen. Es war eine kleine Ebene, etwa zwei Meilen breit, von niedrigen grünen Höhenzügen umgrenzt, und sie hatte die Form eines unregelmäßigen Dreiecks, dessen Basis mein Reserverücken bildete. Die Straße nach Kerak lief darüber hinweg und verschwand drüben im Tal von Hesa. Die Türken kämpften sich längs dieser Straße vorwärts. Abdulla hatte durch einen Vorstoß den westlichen, zur Linken liegenden Höhenrücken in Besitz genommen, wo jetzt unsere Feuerlinie lag.

Als ich weiter über die Ebene ging, meine wunden Füße zerstochen von den harschen Stengeln des Wermuts, kamen Schrapnells geflogen. Der Feind hatte die Entfernung zu weit geschätzt, und die Geschosse strichen über den Rücken hinweg und krepierten weit dahinter. Ein Schrapnell fiel in meiner Nähe nieder, und ich konnte an dem noch heißen Zünder das Kaliber feststellen. Allmählich verkürzte der Feind die Schußweiten, und als ich dann zu dem Höhenrücken zurückkam, war er mit Schrapnellkugeln gesprenkelt. Anscheinend hatten die Türken irgendwo einen guten Beobachtungsstand. Während ich danach suchend um mich blickte, bemerkte ich, wie der Feind, gedeckt durch einen Einschnitt, über die Straße herüber sich nach Westen zog. Binnen kurzem mußte er uns dort auf dem westlichen Höhenrücken von der Flanke her umgangen haben.


 << zurück weiter >>