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Einleitung.
Beginn des Aufstandes


Erstes Kapitel

Mancherlei Abstoßendes in dem, was ich zu erzählen habe, mag durch die Verhältnisse bedingt gewesen sein. Jahre hindurch lebten wir, aufeinander angewiesen, in der nackten Wüste unter einem mitleidlosen Himmel. Tagsüber brachte die brennende Sonne unser Blut in Gärung und der peitschende Wind verwirrte unsere Sinne. Des Nachts durchnäßte uns der Tau, und das Schweigen unzähliger Sterne ließ uns erschauernd unsere Winzigkeit fühlen. Wir waren eine ganz auf uns selbst gestellte Truppe, ohne Geschlossenheit oder Schulung, der Freiheit zugeschworen, dem zweiten der Glaubenssätze des Mannes – ein so verzehrendes Ziel, daß es alle unsere Kräfte verschlang, eine so erhabene Hoffnung, daß vor ihrem Glanz all unser früheres Trachten verblaßte.

Mit der Zeit wurde unser Drang, für das Ideal zu kämpfen, zu einer blinden Besessenheit, die mit verhängtem Zügel über unsere Zweifel hinwegstürmte. Er wurde zu einem Glauben, ob wir wollten oder nicht. Wir hatten uns in seine Sklaverei verkauft, hatten uns zu einem Kettentrupp aneinandergeschmiedet, hatten uns mit all unserem Guten und Bösen seinem heiligen Dienst geweiht. Der Geisteszustand gewöhnlicher Sklaven ist schrecklich genug – sie haben die Welt verloren – wir aber hatten nicht den Leib allein, auch die Seele der alles beherrschenden Gier nach Sieg überantwortet. Durch eigenen Willensakt hatten wir Moral, Selbstbestimmung, Verantwortung von uns getan, daß wir waren wie dürre Blätter im Wind.

Das unausgesetzte Kämpfen entäußerte uns der Sorge um unser eigenes Leben und das anderer. Um unseren Hals lag der Strick, und auf unsere Köpfe waren Preise gesetzt, die bewiesen, daß uns der Feind scheußliche Marter zugedacht hatte, wenn er uns fing. Täglich ging einer von uns dahin, und die Überlebenden sahen sich nur wie eben noch fühlende Puppen auf Gottes Bühne; in der Tat, unser Meister war erbarmungslos, erbarmungslos, solange sich unsere blutenden Füße noch weiterschleppen konnten. Der Ermattende beneidete die, die erschöpft genug waren, um zu sterben; denn der Erfolg schien so weit entfernt und Mißlingen eine nahe und gewisse, wenn auch bittere Erlösung von der Qual. Wir lebten stets in höchster Spannung oder tiefster Erschlaffung unserer Nerven, auf dem Wellenkamm oder im Wellental des Gefühls. Diese Machtlosigkeit war qualvoll für uns und ließ uns nur für das Nächstliegende leben, unbekümmert darum, was wir Böses taten oder erlitten, da körperliches Empfinden sich als ein armselig Vergängliches erwies. Grausamkeiten, Verirrungen, Lüste glitten über die Oberfläche dahin, ohne uns tiefer zu beunruhigen; denn die Sittengesetze, die gegen solcherlei unberechenbare Ausbrüche aufgerichtet schienen, mußten doch nur schwächliche Worte sein. Wir hatten erfahren, daß es Erschütterungen gab, die allzu übermächtig, Leid, das allzu tief, Ekstasen, die allzu hoch waren für unser sterbliches Ich, um überhaupt verzeichnet werden zu können. Wenn das Gefühl diesen Gipfel erreicht hatte, setzte das Gedächtnis aus, und der Verstand lief leer, bis wieder die Alltäglichkeit Platz gegriffen hatte.

Solches Hingerissensein durch die Idee gab dem Geist freien Spielraum und entführte ihn in unbekannte Gefilde; aber er verlor dabei die gewohnte Herrschaft über den Körper. Unser Körper war zu grob, um das Übermaß der Leiden und Freuden zu empfinden. Darum entäußerten wir uns seiner als Plunder, ließen ihn, indes wir vorwärts stürmten, beiseite liegen, ein atmendes Phantom nur noch, hilflos sich selbst überlassen und Einflüssen ausgesetzt, vor denen unser Instinkt in normalen Zeiten zurückgeschreckt wäre. Die Männer waren jung und kraftvoll; ihr heißes Blut verlangte unbewußt sein Recht und peinigte den Leib mit unbestimmtem Verlangen. Entbehrungen und Gefahren, dazu ein Klima, das denkbar marternd war, entfachten die männliche Glut nur noch mehr. Wir hatten nirgends einen Platz für uns allein, kein dickes Kleid, das unser Menschliches verbarg. In jeder Hinsicht lebten wir ohne Geheimnis voreinander.

Der Araber ist von Natur enthaltsam; und der allgemeine Brauch, früh zu heiraten, hatte in den Stämmen ungeregelte Gewohnheiten fast ganz ausgeschaltet. Die öffentlichen Mädchen in den wenigen Siedlungen, die wir in den langen Monaten unseres Umherschweifens antrafen, bedeuteten unseren Leuten nichts, selbst wenn ihr übertünchtes Fleisch schmackhaft gewesen wäre für einen Mann mit gesunden Sinnen. In Abscheu vor solcher schmuddeligen Angelegenheit begannen die Jungen unter uns unbekümmert ihr weniges Verlangen einander an den eigenen sauberen Körpern zu löschen – mehr ein nüchternes Sichabfinden, das, vergleichsweise, unleiblich und selbst rein erschien. Später suchten einige dieses leere Beginnen zu rechtfertigen und beteuerten, daß Freunde, gebettet im schmiegsamen Sand in erhabener Umschlingung der glühenden Körper gemeinsam erbebend, dort im Dunkel verborgen einen sinnlichen Widerhall fänden für die geistige Leidenschaft, die unsere Seelen zu großem Tun entflammte. Andere wieder, danach dürstend, Begierden zu züchtigen, deren sie nicht ganz Herr zu werden vermochten, fanden einen grausamen Stolz darin, ihren Körper zu erniedrigen, und boten sich mit grimmiger Freude zu allem dar, was physischen Schmerz oder Ekel mit sich brachte.

Zu diesen Arabern wurde ich als ein Fremdling gesandt, unfähig, ihre Gedanken zu denken oder ihre Anschauungen zu teilen, aber mit der Pflicht betraut, sie vorwärts zu führen und jegliche Bewegung unter ihnen, die England in seinem Kriege nützen konnte, zur höchsten Höhe zu entfalten. Wenn ich auch ihr Wesen nicht anzunehmen vermochte, konnte ich doch mein eigenes unterdrücken und bewegte mich unter ihnen ohne offenkundige Reibungen, vermied Streit oder Kritik und gewann unmerklich Einfluß. Da ich ihr Kamerad war, will ich nicht ihr Lobredner oder Verteidiger sein. Heute, wieder in meinen gewohnten Kleidern, könnte ich den Zuschauer spielen, unterworfen den Empfindsamkeiten unseres Theaters … aber es ist ehrlicher, zu gestehen, daß damals unsere Gedanken und Taten nichts Außergewöhnliches an sich hatten. Was jetzt wie Unmaß und Grausamkeit aussieht, erschien im Felde unvermeidlich oder gerade nur als eine unwichtige Formalität.

Blut war immer an unseren Händen, dazu waren wir ja ermächtigt. Verwunden und Töten erschien als ein nebensächliches Geschäft, so hart und schonungslos ging das Leben mit uns um. Da die Sorge um Erhaltung des Lebens so groß war, mußte der Wille zur Bestrafung mitleidlos sein. Wir lebten für den Tag und starben für ihn. Hatten wir Anlaß oder Wunsch zu strafen, so schrieben wir unverzüglich unseren Spruch mit Kugel oder Peitsche in die Haut des Verurteilten ein, und damit war der Fall in letzter Instanz erledigt. Die Wüste gestattete nicht das ausgeklügelt bedächtige Verfahren von Gericht und Kerker.

Gewiß, unsere Erquickungen und Freuden kamen mit der gleichen Heftigkeit über uns wie unsere Leiden; aber für mich im besonderen waren sie von geringerem Gewicht. Beduinenart ist schwer zu ertragen, selbst für den, der unter ihnen aufgewachsen ist, für den Fremden aber furchtbar: sie ist wie Tod schon im Leben. Wenn der Marsch oder das Tagewerk beendet war, besaß ich nicht mehr die Kraft, Eindrücke festzuhalten, oder auch die Neigung, das Liebenswerte zu sehen, das wir bisweilen an unserem Wege fanden. In meinen Aufzeichnungen hat eher das Grausige als das Schöne Platz gefunden. Sicher genossen wir die seltenen Augenblicke des Friedens und des Vergessens stärker; aber ich erinnere mich mehr der Qualen, der Schrecknisse und Verirrungen. In dem, was ich geschrieben habe, ist nicht unser ganzes Leben enthalten (denn es gibt Dinge, die kühlen Bluts zu wiederholen die Scham verbietet); aber was ich geschrieben habe, ist ein Teil unseres Lebens, wie es wirklich war. Gebe Gott, daß niemand, der meine Geschichte liest, verführt von dem Zauber der Fremde, hinauszieht, um sich und seine Gaben im Dienst einer fremden Rasse zu erniedrigen.

Wer sich und sein Selbst Fremden zum Eigentum gibt, führt das Leben eines Yahoo Vertierte Rasse in Gullivers Reisen (A. d. Ü.)., hat seine Seele an einen Sklavenwärter verschachert. Er gehört nicht zu ihnen. Er kann sich gegen sie stellen, sich seine Sendung einreden, die anderen zurechthämmern und -biegen zu etwas, was sie aus sich selbst heraus niemals geworden wären. Dann beutet er seine frühere Umwelt aus, um sie aus der ihrigen herauszudrängen. Oder er kann, wie ich es tat, sie nachahmen, und zwar so gut, daß sie ihn in unechter Weise wiederum nachahmen. Dann gibt er seine eigene Umwelt auf und maßt sich die ihrige an; aber Anmaßungen sind hohl und wertlos. In keinem Falle tut er etwas aus seinem Selbst heraus, noch etwas so Echtes, das ihm voll entspräche (von dem Gedanken an Bekehrung abgesehen), und überläßt es den anderen, aus dem stummen Beispiel zu entnehmen, was ihnen beliebt.

In meinem Falle brachte mich die Mühe dieser Jahre, die Kleidung der Araber zu tragen und ihre Geistesart nachzuahmen, um mein englisches Ich und ließ mich den Westen und seine Welt mit neuen Augen betrachten: sie zerstörten sie mir gänzlich. Andererseits konnte ich ehrlicherweise nicht in die arabische Haut hinein – ich tat nur so. Leicht kann ein Mensch zum Ungläubigen gemacht werden, aber schwer ist es, ihn zu einem anderen Glauben zu bekehren. Ich hatte eine Form abgestreift, ohne eine andere anzunehmen; und das Ergebnis war ein Gefühl tiefster Vereinsamung im Leben und der Verachtung, nicht der Menschen, aber alles dessen, was sie taten. Solches Losgelöstsein kam in einer Zeit über den Mann, als er von überlanger körperlicher Anstrengung und Absonderung erschöpft war. Sein Körper schleppte sich mechanisch weiter, während sein vernünftiges Denken ihn verließ und von außen kritisch auf ihn herabblickte, sich fragend, was dieser wertlose Ballast eigentlich tat und warum. Manchmal unterhielten sich die beiden Ichs im Leeren; und dann war der Irrsinn nahe, wie er wohl einem Menschen nahe sein kann, der die Dinge gleichzeitig durch die Schleier von zweierlei Sitten, zweierlei Bildung, zweierlei Umwelt zu betrachten vermochte.


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