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Die Sonne

Wenn ich von meinen Vortragsreisen wieder nach Berlin fahre, blättern meine Augen vom Wagenfenster aus im lebendigen Bilderbuch der Welt, und bei meiner letzten Heimfahrt geschah es, daß die untergehende Sonne tatsächlich mit mir sprach. Ich weinte allerdings etwas und ich forderte ihr Mitleid heraus, aber ich war wie ein Kind, an dessen Wimper eine Träne hängen blieb. Die sah die weiße Sonne, die ich anfänglich für den Mond hielt; es war schon Dämmerung vorbei, und ich müde und verschlummert vom Angucken der gestreiften Äcker und der Blumenlust der Wiesen, der weiterschreitenden Bäume; die Tannen und Pappeln laufen auf Meilenstiefeln dem eilenden Eisenbahnzuge aus dem Wege. Ich glaube, sie hassen den Schnelläufer, er erschreckt die Birkenbräute und die Eintracht des Wachstums, sein Atem bestaubt die silbernen Ähren auf dem Felde und ihr himmlischer Verbündeter verregnet mit Freuden die graufunkenschwarze Fahne, die dem Zuge entweht. Ich blicke in den entgasten weißen Mond, in das kleine Zelt des Friedens. »Es ist die Sonne«, betonte eine Mitfahrende. Sie verstand besser die Geographie des Himmels und der Erde als ich, denn schon bevor der Zug hielt, wußte sie, wo wir anhalten werden; das kleinste Dorf war ihr geläufig. Ich fragte aber noch einmal den treuen, weißerfüllten Kreis: »Bist du die Sonne? So erleuchte meinen Glauben an diese Welt, in der ich leben muß, Jahr für Jahr, Stunde für Stunde und ihre sechzig Minuten; wachbleiben muß, des alltäglichsten Kämmerer Untertan. Und ich möchte schlafen wohl tausend Zeiten, die geschlafen werden könnten in einer Wunderminute.« Ein Hase rannte erschrocken über den Weg, und ich sah zum erstenmal in der Freiheit einen Hirsch, auf seinem Kopfe gelbbraune Zweige. Er ließ sich nicht verscheuchen vom stürmischen Drängen meines Herzens noch von der Eile unserer Maschine, und ich lächelte fragend die weiße Sonne an, die plötzlich von einem Zauberwort des lieben Gottes in einen glühendroten Spielball verwandelt wurde und mir – in den Schoß fiel.


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