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Kolberg

(Als man dort noch nicht von Hakenkreuzlern bedroht wurde)

Den ganzen Winter dachte ich an das Meer. Ich bin an jedem Strand gewesen, an einigen in Wirklichkeit. Aber immer um den Kittel einen Gürtel aus Algen und Seesternen, genau wie Freytag ihn trug. Entlang schritt ich den stillen und lauten Ozean, war am Schwarzen und Roten Meer, fand Korallen, träumte sogar unter hohen Korallenbäumen. Mich nahm ein Taucher mit auf den Grund. Ich sammelte Muscheln und Steine, pflückte lebende Rosen und Nelken, spielte mit den Fischen in ihrem Wasserheim ihr Lieblings-Gesellschaftsspiel:

»Die Leber ist von einem Hecht
Und nicht von der Sardine.
Der schönste Fisch war Engelbrecht –
Der trocknet auf der Düne,«

worauf dem tragischen Karpfen ein entzückendes Goldfischchen anspielend zuflüsterte:

»Die Leber ist von einem Hecht,
Dess' Leben war nicht zähe.
Er reimte gut, er reimte schlecht
Und starb an der Trochäe.«

Es war amüsant da unten, ich wollte überhaupt nicht mehr an die Oberfläche kommen, so versalzen ich war. Die Leute um mich verspüren immer noch Durst. Wie ich mit dem Meer verwandt bin – urgroßväterlich oder urgroßmütterlich schwacherseits –, ich vermag den Wasserstand nicht nachzuprüfen. Jedenfalls gehe ich hoch, wenn vom Meer gesprochen wird. Im Winter stand ich oft am Stettiner Bahnhof, Gesicht nach Pommern gerichtet – dort wartet auf mich jedes Jahr von neuem der schönste Ostseestrand. Aber es war schon auf dem Perron so kalt und ohne Kohlen, die Füße beiderseits in meinen Stiefeln angefroren, ich eilte dann zurück die Kilometer auf dem eisigkalten Sohlenleder; in meine Kajüte ganz oben im Wolkenmeer im gentlemanlikesten Hotel am Nollendorfplatz. Ich liebe das Ostseebad: Kolberg in Pommern. Freundschaft schloß ich mit dem dortigen Meer und seinem grünäugigen Freund, dem Wald. Wir drei sind die Erzindianer und schlössen den Treueid. Vor jeher trage ich im Blut vom Saft der Rinde und im Herzen die Freude der blühenden Spielsachen aller Bäume; vor allem aber lagert im kühlen Gefäß meiner Hauptader der ewigjährige gelassene und wieder sich feierlichst aufbäumende Burgunder des Ozeans. Für alle Schäden ist der Sanitätsrat Heinrichsdorf in dem Kolberg da. – Ich habe als Kind geglaubt, Pommerland sei längst, wie es im Lied steht, abgebrannt. Wie ein Volkslied einen irreführen kann. Worte, die wie Muscheln von Wellen an den Strand geworfen werden und dann gesammelt von einem Dichter in seinem Eimerchen. So entsteht ein Volkslied elementar und ganz einfach. Manchmal liegt zwischen den Muscheln ein Bernsteinwort mit einem Fliegenskarabäus im Leibe. Zwischen hohen Schornsteine meiner Heimat spielte meine kleine Spieluhr: Maikäfer flieg! Und wie es so weiter geht. – Es gibt bei aller rauschenden Wahrheit ein Pommerland und seine Meerhauptstadt heißt: Kolberg. Das trägt das majestätischeste Ostseegeschmeide, das Ebbe und Flut in der großen Perle hat. – Bald streife ich wieder in meinen Kolbergen umher, barfuß die Dünen herunter, wenn's los geht und die Wasser die höchsten Sandburgen umreißen; die gewaltigsten Wellen aber schlagen an die Felsblöcke, wo wir Wildwest-Robinsons baden. Durch verschwiegener Äste gläserner Beeren gucken neugierige Augen aus der Waldrichtung auf den Strand. Aber unsere Nacktheit ist längst stabilisiert im freien Bade, und so ergeht es schließlich allen, auch den Damen, deren Toiletten sonst im Wechsel ihrer Moden fallen. – Neu angekommen, wandele ich schon auf Deck im Meere auf und ab. Über die lange rot beleuchtete Brücke dem senkrechten Horizont, eile ich auf das Schiff, darauf die Badegäste spät am Abend lustwandeln. Musik, unsichtbare tönende Vögel schweben vorbei, die kommen vom kleinen Tempel, vom Kurplatz her. Jeder der Spielenden ist im wahren Sinne des Tones ein Musiker. Wenn auf dem Programm die Barcarole aus »Hoffmanns Erzählungen« steht, löst sich mein Herz in Himmeln auf, kommt blau – aber es kommt – um 8 Uhr heim zum Abendbrot. Die wissen schon – aber ich esse dennoch nachträglich mein Abendbrot in meiner noch nie dagewesenen, je wiederkehrenden Pension in der Villa Agnes. In der ersten Zeit nehme ich meine Speisen und Getränke allein unter dem aufgespannten großen Sonnenschirm im Vorgarten des weißen Hauses ein, bis ich die Angst über meinem eventuellen Vis-à-Vis oder Nebenan überwunden habe. Man trifft ja Männer oft und Frauen, die in die Zähne mit der Zunge kriechen beim Verdauen, durch die gesegneten Mahlzeitbacken und Vor- und Hinter- und sauer gewordenen Milchzähne flöten und stöhnen. Halten Sie mich nicht für verrückt, da ich wahnsinnig von den Geräuschen werde. Und man ist geradezu besorgt, mir und allen Gästen Sorgfalt und Pflege angedeihen zu lassen in der herrlichsten aller Villen, wo man Zuflucht sucht, seine Nerven ein für allemal zu stillen. Der Besitzerin der Pension, unsere charmante Gastgeberin Frau H., einen Humpen mit dem ganzen Meerkeller darin, das zweite ihrer Freundin, der Frau v. G., der liebenswürdigen Vizedirektorin. Und laßt uns wieder singen die Nationalhymne der Villa Agnes:

»Im Schwarzen Walfisch zu Askalon,
Leiten zwei Damen nun die Pension
Mit Sorgfalt und besonderem Takt,
Und großem Spürsinn hochbegabt.
So engagierten sie zum Abt
Im vorigen Jahre schon im Mai,
Frau Benz für ihre Wirtschaftei,
Die kocht, was uns erfrischt und labt.«

Vor dem gastlichen Hause erhebt sich eine kleine Pyramide, das epheuumrankte Denkmal, das die trauernden, dankbaren Bürger Kolbergs ihrem geliebten Doktor und Kapitän Hirschfelden, dem Vater der Villa Agnes, gesetzt haben. Villa Agnes beherbergt nun viele Badegäste aus allen Ländern. Des Doktors Jugendbild begrüßt im kleinen Speisesaal die Kinder am runden Tisch. Aber oben in meinem Studentenzimmer (voriges Jahr arbeitete ich dort auf den Dr. Ozean hin, Dr. oz.), hängt die letzte Photographie des großen gütigen Mannes. Der trägt den einzig mir sympathischen Bart, den Kapitänsbart, der mächtig sein liebes Gesicht umspült und einst wegwehte alle Schmerzen. – Monat zu Monat wächst das Kolberg an Menschen. Internationales Treiben: Russen, Polen, Tschechen, Schweden. Das Städtchen, bald erwachsen, wird zur Stadt. In den Sälen der Hotels: Tanz und Fest; eine amüsante Bar gerade neben unserer Villa. In den Konditoreien stellen die Besucher ihre Magen auf Eis. Die Läden in der Stadt und am Strande überbieten sich. In den Buchläden die modernsten Auslagen (meine Bücher sind auch zu haben ...). Ich selbst lese ja nicht, sehe mir aber die Achat- und Feuersteine, den Goldfluß, die Amethysten und Granaten in den Steinladen auf dem Weg zum Strand an, auch besuche ich mit Vorliebe die Muschelfrau. Schon im Schaufenster bewundere ich die hübschen Muschelkästchen, die Spiegel im Muschelrahmen, die Uhrständer, die durchsichtigen grünen und roten Beutelchen mit Spielmuscheln, aber auch die rauhen rosa Kerle, die man um die Brunnen legt oder zum Schutz um Rasenflächen aufstellt. Man fängt in Kolberg wieder an zu spielen; wird ganz jung und haltbar, trinkt man bei Preißler aus dem Lebensborn vor dem Schlafengehen seinen Kümmelkorn.

»Es geben außer Kolberg, um gerecht zu sein, noch drei Ostseebäder, die ich empfehlen kann, auf Usedom: Heringsdorf, Ahlbeck und Swinemünde.« So sagte der Doktor und Kapitän – erzählen die Kolberger alten Fischersleute. Auch der Ozean hat eine weite Sandbühne genau wie das Kolberg – sein Theater im Wald schräg gegenüber unserer lieben Villa, und zwar mit nicht zu verachtenden Darbietungen. Nach dem Theater ergehe ich mich so gern allein am Meere, in Ruhe und Weltfrieden. Wenn mich nicht so oft ein melancholischer Tondichter im Steinwayflügel gestört oder ein Literat mit dem Extraölblatt im Schnabel entdeckt hätte! Ich wandele gern am Allwasser dahin und weiß, warum ich traurig bin ... Aber im Rosen- und bunten Fingerhutgarten am nächsten Mittag gibts wieder viel Sonne von der Goldmama und ich fliege dann mit einer Menge Freude im Herzen an der Persante, dem kleinen Fluß der Stadt, vorbei über die Brücke nach Grünhausen aufs Karrossell. Die Ferienkinder aus den Spitalen trinken in den Wirtschaftsgärten Dickmilch und ich setze mich zwischen ihnen. Sie wissen, ich lasse sie auch Karrossell fahren. Es ist unanständig, kein Kind mehr zu sein. Jeden Abend heimlich (600 M. Strafe, wenns herauskommt) raube ich mir das ganze Meer in meine kleine Tasche, lege das unendliche Wassergeschmeide in ein Etui unter mein Kopfkissen.

Auf dem Leuchtturm die Flagge ist schon gehißt. Ich komme!


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