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Renate und der Erzengel Gabriel

Durch die Sommernächte tanzte Renate auf dem Seil über alle Häuser und Kirchtürme der Stadt. Aber wenn es kalt wurde, verkaufte das kleine Mädchen Wachsstreichhölzer in lieben niedlichen Schachteln; auf jeder war ein Bildchen gemalt: Undine oder ein Schiff oder zwei Engelsköpfchen, die glichen eigentlich Max und Moritz, wenn sie auch zwei Flügel an den Schultern trugen. Und seit einem Jahre mußte Renate ihr zweijähriges Brüderchen (es konnte kaum erst »Nate« sagen) mit sich in die bange Dämmerung der treibenden Straßen nehmen. Aber ihr magerer Arm hielt das Knäblein, in buntes Blumentuch gehüllt, zärtlich umfangen. Renate hatte große blaue Augen und schwarze lange Fransen darüber und bubenhaft geschnittene Haare, nicht darum etwa, weil es so Mode gegenwärtig. Lange Haare hatten den Tod ihrer lieben Mutter verursacht, den sie nicht überwinden konnte. Auch die war Seiltänzerin gewesen, und noch vor einigen Jahren schwebte Miß Rosa, ihr strahlendes Spielzeug auf ihren starken Schultern, über die gespannten Taue sanft getragen durch die säuselnde Luft. Bis die berühmte Miß es auch noch mit dem ungezügelten Wirbelwind aufnehmen wollte, der ihr aber die langen finsteren Locken zerzauste und ihr schließlich mit den schwarzen Seiden die Aussicht versperrte, so daß die arme Mutter das Gleichgewicht verlor, aus den Wolken zur Erde stürzte und auf der Stelle tot war. Sie aber, ihre kleine Renate, saß oben, ein Vögelchen, auf einem der dicken Holzknöpfe des Gerüstes und wartete ahnungslos, bis man sie herunterholte zur Totenschau ...

Etwas Angst beschlich sie seit dem Tode ihrer kühnen Mutter vor dem Spaziergang mit dem Mond, auch das Fieber stellte sich immer wieder von neuem ein aus der Nacht der Schmerzen. Und die kleine Seiltänzerin empfand den Handel auf dem sicheren Boden der gepflasterten Straßen immerhin als Vergünstigung. Wenn es auch nicht selten geschah, daß das glühende Kind mit geöffneten Augen in einen Bilderschlaf hinüberglitt, von dem sie sich zwar zu erholen pflegte, aber es sollten ihr auch nicht die grausamen Fieberträume erspart bleiben und sie sah, wie sich ihr Edmündchen an ihrem Halse in ein Marienkäferchen verwandelte, über ihr Tressenkleidchen kroch, mühselig über ihren Kniehügel und ihre schlotternden Beine, und auf der Welt angelangt, zu fliegen begann, vor ihren weit erschreckenden Augen und gelähmten Händen in den scheidenden Tag entschwand. Und Renate suchte und suchte, zitterte bei jedem Ticktack der vielen rücksichtslosen Schritte, die vorbeieilten, jeder eine konnte ihr süßes Brüderchen zertreten haben. Sie weinte, und über ihre schmächtigen Glieder tanzten Feuerkobolde und Schneemänner Polonaise über ihren Rücken und erschütterten ihren Körper, und es kam ihr der geringste Verlust nur wolkenleise zu Bewußtsein, das Körbchen mit der Ware fallen gelassen zu haben. Renates Jammer wuchs überaus. Wenn ihr Edmündchen doch wenigstens in einen Garten geflogen wäre und sich auf ein weiches Blatt gesetzt hätte, bedeute für sie schon eine Beruhigung, aber Edmündchen war gewiß schon gestorben und lag wo mit ausgerissenen Füßchen auf dem Damm, zermalmt sein rotes Körperchen; wo wollte sie es finden im bleichen Scheine des Lichtes. »Liebes Edmündchen, komm doch wieder! Liebes Edmündchen, komm doch wieder!« Rief flehentlich Renate in den Abend und mitleidige Menschen legten Geldstücke in ihre heiße Hand und horchten erstaunt, wenn das arme Mädchen erzählte, ihr Brüderchen sei ertrunken in einer trüben Pfütze, oder ein Straßenjunge habe seine schwarzen Augen glänzen sehen auf dem Rücken, es mit sich genommen und in eine Zigarrenkiste, wie das ihre Freunde auch zu tun pflegten, gesperrt. O Gott, wie mochte sich ihr Brüderchen im Kerker fürchten! ... Die gläsernen Litfaßsäulen am Rande der Straßen und auf den Plätzen plauderten ungestört weiter von den bunten Freuden der Stadt; und die Farben, welche Reklamelichter auf die Trottoire spielten, färbten Renatens Vorstellungen zu quälenden Deutungen. Vor einem Kinotheater rastete sie, um neun Uhr begann die letzte Vorstellung, ihre blauen Augen hafteten, ja sie klebten an einem der Plakate, das eine Gauklertruppe darstellte, sie war ja auch auf dem großen Bogen gemalt, die triumphierende Himmelskönigin, mit einer leuchtenden Kugel in der Hand stand sie dort ja über dem Dom auf dem Seile unter allen Sternen und winkte den Zuschauern freundlich zu. »Bitte, liebes Fräulein, lassen Sie mich herein!« bat Renate die Kassiererin und legte schüchtern nur ihr armes gehetztes Herzchen in ihre ausgestreckte Hand. Das bemerkte der große Erzengel Gabriel, zahlte für das fiebernde Kind und ging mit ihm in das Kino, die Vorstellung hatte schon begonnen. Auf dem Seile tanzte gerade die kleine Renate und die Menge bestaunte sie und klatschte Beifall mit den Tausendhänden. Der Erzengel Gabriel kannte die kleine Renate, er hatte sie damals aus den Armen ihrer stürzenden Mutter genommen und sie unter dem Himmel hingesetzt. Er sagte zu ihr: »Jetzt vermagst du von der Höhe die ganze Stadt zu überblicken, und irgendwo wirst du dein kleines Brüderchen wiederfinden.« Der Engel Gabriel war nicht etwa ein Fiebergesicht der kleinen Renate, er saß da wirklich in der vorderen Reihe zwischen den Menschen, neben dem suchenden Kinde, in seinem himmelblauen langen Mantelkragen. Ich selbst saß unter den Besuchern und staunte ihn an. Sobald sich eine Straße vor Renates Auge zu verbergen versuchte, schleppte sie der Erzengel Gabriel am Schornsteine ihres höchsten Hauses wieder dem lieben Mädchen zur Schau ans Licht. Und endlich entdeckte Renate ein funkelndes Blutströpfchen auf einer noch lebenden Wiesenblume der Vorstadt sitzen. Sie schob ihr Edmündchen vorsichtig, sich bange im Kreise des Kinotheaters umschauend, wie eine Diebin ein Kleinod, über ihre Fingerspitze in ihre bebende Hand, die versteckte sie unter dem warmen Blumentuche, darunter es nicht aufgehört hatte, zu schlummern. Auf einmal hing auch das Körbchen mit den Wachsstreichhölzern an Renates Arm. Sie blickte fragend zu ihrem ganz großen Nachbar, dem Erzengel Gabriel, auf, der sich über die lieben Feuerschächtelchen herzlich zu freuen begann. Und ein Schächtelchen mit Schiffbildchen kaufte er dem lieben Mädchen ab für seinen lieben Gott im Himmel daheim. Dann erkannte er die beiden Schelme von Engeln auf einer anderen Schachtel und er erzählte dem Kinde, daß die zwei es seien, die mit ihren Füßen immer auf der Donnertrommel trampelten und mit ihren Nägeln über den blankgeputzten Blitz kratzten, die Fixsterne ärgerten, den Mond mit Dämmerstaub puderten und der Goldmama Honig naschten. Und Renate schaute wieder über alle Gebäude der Stadt, zwischen den Zuschauern neben dem herrlichen – »sage ich Euch« – Erzengel Gabriel sitzend, der sie betreute und ihre Brüderchen auf Erden und in den Höhen. Amen ...


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