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Der Versöhnungstag

Kein Jude, der nicht an seine Eltern denkt an diesem Tage, dem heiligsten Tage im Jahr. Vater und Mutter war der Versöhnungstag das Wiegenfest der Judenheit. So allen Juden in allen Ländern und Erdteilen und ihren Kindern und Kindeskindern, Kindeskindeskindern. Dieser Tag ist nicht aus der Welt des Juden auszurotten und wird einst vor Gott stehen als sein ebenbildliches Geschöpf. Haß und Streitigkeiten lächeln eingesungen, müde störrische Kinder. An des Versöhnungstages Vorabend schon bewegten wir uns nur noch auf Zehen, die süße Hingabe nicht aufzuscheuchen. Aber auf seinem Damast deckt man den Tisch dem großen Versöhnungsengel, der jedem Judenhause in jedem Jahre von neuem geboren wird. Und der Tochter, dem Sohne, der fern vom Elternhause weilt, mahnt der Versöhnungstag, eine gestaltgewordene Erinnerung. Ihr leuchtet der Stern des Friedens aus der Schläfe. Im Tragkleid trägt der Jude den Versöhnungstag behutsam dem Juden entgegen, auch den anderen Mitmenschen der Stadt, junge, neue Freundschaft knüpfend. Aller Groll zerschmilzt im Herzen; »Händel«, stellte sich heraus, bestand aus Irrtum. Unsere Hände sind an diesem Tage da, sich in eure zu legen. Schirling wächst am Orte der Begegnung, die unausgesöhnt bleibt. Ich denke an Zuhause; die Kerzen wurden schon im Dämmern des Vorabends angezündet, mein Vater fehlte nur noch am friedlichen, blumengeschmückten Tische. Auf seinen Beeten störte keineswegs das durchsichtige, milchweiße Porzellan, auch nicht die duftende Suppe in der Terrine. Meines Vaters unruhige Schritte vernahmen wir schon lange über unseren Köpfen, wenn auch gedämpfter wie Gewohnheit. Er pflegte das ganze erste Stockwerk unseres Hauses zum Ankleiden zu benutzen. Ab und zu schallten erschrockene Flüche eingelullt in einen Psalm aus dem Saal, in den er sich von seinem Schlafzimmer begeben hatte. Aber auch dort gelang es ihm weder im ersten, zweiten, noch dritten Spiegel den Kragenknopf in die kleine Kragenöffnung zu schieben. Entweder war der Knopf über Nacht dicker geworden oder der Teufel steckte dahinter. Zuerst eilte Dore, »die rote Katze«, unsere Köchin, zur Hilfe, aber man hörte sie sehr bald giftig miauend die Stufen herabschleichen. Sie hatte sogar – einstweilen gekündigt; sie schickte Elise herauf zu Herrn Schüler, die war geduldiger und hörte meinem Vater zu, wenn er ihr die Bedeutung des Versöhnungstages erklärte. Auch wählte sie ihm stets die nichtdrückenden Stiefel aus seinem Regimente Stiefel aus, die alle zwölf Paar kerzengerade blank in Reih und Leder an der Wand sich repräsentierten. Mein Vater liebte schneidige Stiefel, ebenso guten Sitz seines Anzuges. Das schneeweiße Kopf- und Barthaar mit Veilchenseifen gewaschen und gebügelt, die Schnurrbartspitzen gedreht, nahte endlich mein Vater verheißend dem Versöhnungsmahl mit entgleisten heiligen Augen. Wir Kinder konnten uns das Lachen kaum mehr verbeißen, bis er selbst uns lachend rügte wegen der Dinge Ernst. Wir saßen nun rund um den Tisch, nicht wie eine Familie gerade, aber wie eine kleine Welt für sich, jeder von uns ein anders gearteter Mensch aus verschiedenen Blutfarben, die sich wohl ineinandermischten, zum Heil oder Unheil sich wieder absonderten; Länder einig an dem Tage Gottes. Ich war die Jüngste und durfte immer neben meiner angebeteten Mama sitzen, die mir heimlich eine Zuckerfreude ins kleine karierte Kleidertäschchen steckte. Ich fühlte mich wie das ewige Leben neben ihr, die mich mal zur Welt gebracht hatte, und ich erinnerte mich an diesem Abend im warmen Samt des versöhnlichen Zimmers, wie ich auf dem Wiesenhang unter ihrem Herzen spielte. Ach, wenn ich daran zurückdenke, schließen sich meine Augen wieder halbblind, und wenn ich davon dichte, bluten die Buchstaben auf dem Schnee des Papiers. – Zuerst bekam ich stets mein geheiztes Tellerchen gefüllt, dann mein Vater, der liebte Markklöße; heimlich kontrollierte er die Zahl, die mit dem schaufelnden Suppenlöffel in die verschiedenen Teller erbarmungslos entschwanden. Dabei hätte er es nicht bemerkt, wenn die Markklöße aus Mehlpappe geknetet worden wären. – Neben meinem lieben Vater zur Linken schwärmte in Gedanken meine Schwester Martha Theresia und himmelte mit ihren mandelförmigen Augen im olivenfarbenen Gesicht. Meine zweite Schwester Annamarie, die schönste Blume im Wuppertale, pflegte manchmal ihren Arm durch den starken Husarenarm meines zweiten Bruders zu schieben. Sie hatte so etwas Hilfloses an sich in ihrer Zartheit. Zwischen meinem zweiten und ältesten Bruder, der von seiner Akademie zum Versöhnungstage gereist kam, speiste mein jüngster Bruder Paul Karl Schüler mit großer Bescheidenheit und Freundlichkeit. In dem Jahr er geboren worden, inspirierte meine Mutter die dazumal glühende Schiller-Zeit. Mein Bruder Paul besuchte auch noch die Schule, das Gymnasium, er dichtete lateinisch und griechisch, meine teure Mutter und er lasen sich heimlich im Wohnzimmer gegenseitig ihre Gedichte vor. Mir half er bei meinen Schularbeiten. Das waren Stunden für sich, er lehrte mich in der Naturkunde, gut zu den allerärmsten Menschen zu sein, gequälten Tieren beizustehen. Er nannte mir die Namen aller Steine seiner prachtvoll glitzernden Steinsammlung und oft nahm er mich bei der Hand, stieg mit mir die Anhöhe, an deren Fuß unser Haus lag, bis in den Wald hinauf und pflückte mit mir Bucheckern und Waldbeeren. Er kannte alle Bäume und Sträucher und Blumen, als ob er mit Gott die Welt geschaffen habe. »Zugegen war er sicher,« meinte auf dem Schulhof meine Freundin Emmy, »da er ein Heiliger ist, ein Apollon.« Genau wie Der gezeichnet in unserm Weltgeschichtsbuch ungeheuer vornehm gelehnt an einer Säule stand, sah mein blonder hochgewachsener jüngster Bruder aus. Dem ältesten aber bin ich ein fremdes Kind geblieben, er war viel älter wie ich, und da er sich selten im Elternhause aufhielt, gelang es mir nicht, ihn zwischen uns auf einer Schnur zu reihen. Ich phantasierte mit Hilfe meines Märchenbuchs vom verirrten Königssohn, denn seine Bruderschaft gestaltete sich mir in jedem Jahre schleierhafter und mysteriöser. Bis er mich einmal bei seiner Ankunft zu Hause zwischen Portieren hervorzog, hinter denen ich mich, von seinem faszinierenden Wesen behext, versteckt hatte, und mir einen Schlag wegen meiner Unhöflichkeit, wie ein Magister ermahnend, ins Gesicht gab: »Zum Andenken!« Die Ursache gänzlicher Entfremdung zwischen ihm und mir, zwischen Schwester und Bruder, der Eltern gleichgeliebten Kinder. Ja, meine Geschwister waren alle schön, ähnelten meinen Eltern, und ich konnte das wohl beurteilen, als kleiner, noch ungetrennter Ableger meiner Mutter, die mit mir ihre großen Kinder heimlich bewunderte. – Nach der Suppe kam Fisch in Buttersauce und liebliche Kartoffeln. Jedesmal erkundigte sich mein Vater, ob der Fisch auch kein Aal sei, da Moses ihn verboten habe zu genießen, – weil er von Leichen lebe ... Und dann kam Filet, garniert mit Gemüsen, und Mirabellenkompott, das wir zwei Kinder, mein Vater und ich, leidenschaftlich gerne mochten. Und er schien wenigstens nicht zu bemerken, daß meine älteste Schwester ihm mit dem Rest der eingemachten Früchte allesamt seinen Teller füllte, da er weiter dozierte: Man müsse aufhören zu essen, wenn man noch Hunger verspüre; also geraten habe das seinen Eltern und zweiundzwanzig Geschwistern und ihm der berühmte Sanitätsrat seiner Heimat in Westfalen, der Arzt gewesen war über tausend unheilbare Kranke. Bis eine Flamme plötzlich durch die von der Bedienerin geöffnete Türe schlug, den Plumpudding umzüngelte. Meine Mutter liebte, diese illuminierte Speise als Nachtisch reichen zu lassen, und ich war stolz auf dieses vornehme, gefährliche Gericht. Plumpudding mit Feuer und Weinsauce! Zu guter Letzt steckte sich mein Vater, was ihm auch an Alltagen nicht abzugewöhnen war, die große Serviette in die Rocktasche, bedeckte seinen lieben Kopf mit der Hand, der mußte vor Gott aus Demut beim Beten bedeckt sein; murmelte schnell wie vor Schulschluß noch das Ende des Extemporale herunter, unser ehrwürdigstes königliches Gebet:

»Schema jïsroël adonâ elohenu adonâ echod.« Worauf er am Arm meiner ältesten Schwester, seiner Tochter Martha Theresia, aus dem Hause durch die Abendstraßen in den Osten der Stadt schritt, in den Synagogentempel. Er hatte längst die Bitte meiner Mutter, sich während der Predigt wenigstens zusammenzunehmen, vergessen. Den Versöhnungstag empfand mein Vater als größte Sensation im Jahr. An diesem Tage vergaß er sogar seine Bauten und Pläne. Mein Vater war der ausgelassenste Mensch gewesen, den ich je im Leben kennengelernt habe, einen Schelm hatte er immer wo auf dem Polster seines roten Herzens sitzen. Er war beileibe nicht frohgemut aus Tiefe (wie ich den Literaten mich fragen höre) – er war ausgelassen aus Breite. Er strömte, er brandete, er zerstörte; es gab kein Hemmnis für seine Laune, und er konnte mit dem Kopf durch die Wand. In Fastnachtsschellen begegnete ihm das Leid und die Sorge, und die Freude riß seine Tür aus der Angel. Aber sein Zorn – mächtig konnte er wettern, spielte sich vor drolligen Kulissen ab, die drohten zwar zusammenzustürzen. Oft versteckten mich die Mägde, trotzdem mein Vater nie handgreiflich wurde, in den eingemauerten Küchenschrank, darin die Arbeiter schon parterre beim Bauen ihr Mittagsschläfchen gehalten haben. Es endete dann, im Fall er mich fand, daß ich zur Strafe – nicht zur Schule gehen durfte. Und heute schlug er doch wieder die Synagogentür wie unsere arme Haustür rücksichtslos, nachdem er und meine Schwester ins Innere des heiligen Raumes getreten waren, ins Schloß, und seine Stimme, die jedem Juden eine Schelmerie zu berichten hatte, vernahm man bis auf den hintersten Sitzen der Balkone, auf deren jugendlichsten Martha Theresia zu sitzen pflegte. Und wenn mein Vater seine Tochter im weißen Federhute endlich oben entdeckt hatte, vergaß er sich wieder zu bezwingen, falls ihre Nachbarinnen nicht seinem Geschmack entsprachen.

So störte er den Gottesdienst, ohne diese Sünde zu beabsichtigen, denn er fastete getreulich, ohne Klage, ohne auch nur mit den Gedanken daheim zu weilen, wo das Wasser schon kochte in der Kaffeemaschine zu dem Mokka, den mein Vater zunächst einzunehmen pflegte! Der Stern trat fürsorglich eine Viertelstunde früher aus den Wolken, wie sonst an den Abenden im Jahr, aber auch der christliche Kastellan verspätete sich nicht, der sich an meinen Vater wandte: »Herr Schüler, ech verlier verdeck minne Stellong hier in der jüdischen Kirche, wenn eck önk nich ganz ergebenst heraushol.« Mein Vater nahm das ohneweiteres heiter auf; der Synagogendiener war nämlich der Bruder von seinem alten Ausläufer Robert und wußte schon, was er tat. Er verdiente sich jedesmal einen Taler, wenn er dann auch noch meine Schwester von der Galerie, sie an ihren Fingerspitzen führend, in das kleine Synagogengärtchen meinem Vater behutsam brachte, wo beide auf die Freunde warteten. Ich hatte in der Zeit, wo meine älteste sechzehnjährige Schwester für uns betete, prompt ihren Befehl ausgeführt und des Oberprimaners Signalpfiff erhört: »Steh' ich in finsterer Mitternacht« ... Wenn auch mit enttäuschter Miene, statt seine Flamme, die kleine Schwester zu sehn, überreichte er mir doch, meinen Bubenkopf streichelnd, den Schulaufsatz, den er für seine angebetete Martha Theresia jeden Monat zu arbeiten pflegte. Sein Konterfei lag zwischen Deckel und Seite. Ich kam mir unendlich wichtig vor als postillon d'amour, manchmal verwechselte ich zwar die Signale, denn in einem der Häuser, das an unsere kleine Gasse (Schülersgasse) grenzte, barg noch einen Verehrer, den meiner zweiten Schwester, mit den herabhängenden Kastanienhaaren. Walters Herz entschwebte schon um sechs Uhr seinem ruhelosen Busen und sang: »Ich hab dein Bild im Traum gesehn ...« Der David-Stern unter der Stirn der Kuppel des heiligen Gottespalastes sandte seine Strahlen aus, in der Zeit die Juden den Tempel verließen, und noch heute glaube ich an seine Ausbreitung, da meine Augen wachgeöffnet ihn erschauen. Mit schlichter Andacht singt der Vorsänger, der heilige Mann, vor dem Altar über die Tora gebeugt, die Psalmen Sternenalter Versöhnung. Es ist schön, Jude zu sein, ist man ihm nie aus dem Weg gegangen, um eher das Ziel zu erreichen, ist man ihm treu geblieben und mit ihm verwachsen, von keiner äußeren Nichtigkeit verführt, aber vom Jordan umspült. Wer vermag mich zu entreißen dem uralten Jehovagebein, dem unerschütterlichen Fels! Prüfungen besteht der Jude täglich, Schmach schmeckt seinem Gaumen bitter, aber es entstehen Kräfte aus ihr, doch nicht jedem Juden gelingt es, den Erzduft im Blute zu erhalten. Messias, der schon einmal auf Erden wandelte, für dieses Geschenk des Himmels weder die Juden noch alle anderen Völker reif waren es zu bewerten und zu bewahren in seiner Echtheit, »er kam nicht etwa, die Gesetze umzustoßen, aber sie zu erfüllen«. Den Blutstand seines Volkes maß er, Trübungen klärte er, und die Lauheit verwarf er, aber auch Streitigkeit zu schlichten versuchte er. Er wird wieder kommen am Ende der Welt, der verkörperte Versöhnungstag, der Messias. Denn nur die Versöhnung aller Menschen vermag zu erheben und zu erlösen. Ein Stuhl um den Tisch bleibt für Messias frei, als Kind legte ich ihm mein schönstes Spielzeug zwischen Lehne und Sitz versteckt. Er würde es finden. Das Fasten des Magens ist es nicht, wenn die Seele nicht jedes Tandes entkleidet schimmert: »Platzmachen für Gott«. Auf das Fasten der Seele, darauf kommt es an, denn in diesen großen Stunden soll sie sich füllen mit unerschöpflicher jubelnder Liebe des Versöhnungstages.


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