Sophie von La Roche
Rosalie und Cleberg auf dem Lande / 1
Sophie von La Roche

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Neun und zwanzigster Brief.

Rosalie an Julie Ott.

Unsere Männer, theure Freundinn, reisen zurück, weil Cleberg mich gefaßt glaubt. Ach Julie! Schauer überfällt mich, wenn ich an Seedorf, an mein Haus, an die Zimmer und die Gesellschaft dieses Oncles denke, der mir mehr war, als je ein Vater hätte seyn können. Nie würde ein Mann so viel für ein eigenes Kind gethan haben. Bedenken Sie nur seine letzten Wohlthaten, und wie wahr es ist, daß allein richtige Begriffe von diesem und jenem Leben, von Gott, und der weisen Verwendung unserer Kräfte, in allen Fällen, selbst bei dem Gedanken des Todes, Stütze für uns werden können. Aber Julie! was ist Erdenfreude für ein schwankendes Rohr! Reiste ich nicht wie im Rausch des Glücks von Seedorf ab? Dachte meine Eigenliebe nicht, die ernsten stillen Mienen, welche ich bei Ott und Ihnen, bei Cleberg und meinen Hausbedienten sah, seyen Beweis der Trauer über meine Abreise, und der Furcht, ich bleibe zu lange abwesend, weil es zu Mariane gieng? Wie sehr, wie gerne eilte ich, um keinen Aufschub zu erleben. In dem Moment, da ich in Edelbach ankam, war eine von Marianens Nichten todtkrank, und der Vater abgereist, um seinen Verlobungstag in Lichtenhayn zu feiern – so daß mir das traurige und bestürzte Wesen meiner geliebten Freundinn auch ganz natürlich schien; nur hätte ich bald gestutzt, da sie, wie ich sagte: Mein Oncle kommt gewiß, mich abzuholen – mir, wie mich dünkte, zu kalt antwortete: »Es wird mich freuen, ihn einmal wieder zu sehen. – Sein Billet und die schnelle Reiseanstalten für mich, machten mich daran glauben; der Ausdruck, wo er schrieb: – Ich gehe zu vollkommner Aussöhnung mit meinen Verwandten« zeigte mir nur den Beweis, daß er seine Schwester sehen und sie seiner erneuten Freundschaft versichern wolle. Ach woher hätte mir der Gedanke des Todes kommen sollen? Ich genoß den Anblick und die Umarmung meiner Mariane, neben den abgebrochenen Nachrichten von ihrem Schicksal, und von der neuen Verbindung ihres Bruders – und wurde beinah ohnmächtig für Freude, als sie mir sagte: »Rosalie! ich ziehe mit meinen zwei Nichten zu Ihnen nach Seedorf!« Wie voll Weisheit von Mariane, wie barmherzig von der Vorsicht war diese Erklärung, die schon voraus als ein Gegengewicht des großen Schmerzens, der mich erwartete, in meine Seele gelegt wurde, mir meine Kräfte, und meinem Kind das Leben erhielt; denn gewiß im ersten Anfall meines unaussprechlichen Kummers, da ich in Glück und Unglück zu heftig fühle, würde ich und das arme unschuldige Wesen unter meinem Herzen gelitten haben. Mariane sagte mir den ersten Abend nichts mehr, vermied auch von Seedorf zu sprechen, und weil sie wegen ihrer holden Nichte Emilie so beängstigt schien, wollte ich ihr nicht von meinen freudigen Hofnungen reden, sondern zeigte ihr den Antheil, welchen ich an ihrem Kummer nahm. Meine Knaben wurden dem schätzbaren Hofmeister der zwei jungen Edelbache übergeben, und Nanny war mit der kleinen Sophie um mich. Den zweiten Tag nach meiner Ankunft versicherte der Arzt, daß die liebenswürdige Emilie auf dem Weg der Besserung sey, und Mariane schickte sogleich einen Bedienten zu Pferd an ihren Bruder mit dieser guten Nachricht. Ich war überzeugt, daß diese Hofnung sie freute, und doch bemerkte ich Tiefsinn, und eine Art Trauer in ihrer Seele, wovon mir die Quelle verborgen war; da aber ihre Freundschaft für mich in dem zärtlichsten Ton und dem vollkommensten Vertrauen über alles sich zeigte, so wagte ich ihr zu sagen: Mich dünke, ihre Freude sey umwölkt.

Sie antwortete: »Ja, meine Liebe! sie ist es, denn ich dachte so eben an den frühen Tod von Emiliens liebenswerthen Mutter, welche so bald abgefordert wurde, und nicht alles Gute thun konnte, was sie wollte; denn gewiß, Rosalie! der Tod, welcher ohnehin die Bestimmung aller Geschöpfe auf Erden ist, muß doch dem Menschen sehr leicht seyn, der mit dem Zeugnis der nützlichen Tugend und wohltätigen Weisheit seine Tage schließt.«

Ich erwiederte hierauf: Das ist gewiß, und Sie werden sich nicht wundern, daß ich hier an meinen Oncle denke, indem Sie selbst sagen werden, daß er mit diesem Zeugnis in die andre Welt gehen kann.

Sanft ernst sagte sie: »Sie haben recht, liebe Rosalie! Ich dachte es oft, wenn ich sein Alter, sein Leben, und die nöthige Folge seines Sterbens mir vorstellte; aber mich dünkte auch, der Tod eines solchen Mannes könne seinen Verwandten und Freunden nicht so bitter seyn, als der eines Menschen, für dessen Seligkeit man Wünsche thun muß.«

Ich habe doch welche für meinen Oncle. –

»Und was sind das für Wünsche bei dieser Gelegenheit?«

Ach da es doch seyn wird, daß er vor uns aus der Welt geht, so thue ich den Wunsch der frommen Frau Rowe für ihn und mich – einen schnellen Tod, ja kein langes schmerzhaftes Lager – aber diesen Tod doch ja nicht in meiner Gegenwart, ich wüßte mich nicht zu fassen.

»Sie sind doch in allen Ihren Gesinnungen eben so sehr Nichte dieses rechtschaffenen edeln Mannes, wie nach dem Blut – denn er that in seinem letzten Brief eben den Wunsch wegen Ihnen.«

So, Liebe! wann schrieb er Ihnen denn?

»Vor einigen Tagen, und er bat mich, wo möglich mit Ihnen nach Seedorf zurück zu reisen, weil er glaubte, daß ich Ihnen in den jetzigen Umständen Erheiterung geben würde. – Er wußte noch nichts von der neuen Heurath meines Bruders, noch weniger von dem Entwurf, den ich in meinem Herzen gemacht hatte, meine zwei Nichten bei den Sands und bei Ihnen auszubilden.«

O wie schön hat sich dieses getroffen, Mariane! Es ist doch Ihr Ernst? Denn schon seit vorgestern erfüllt diese Hofnung mein ganzes Herz. – Wie glücklich, wie höchst glücklich werde ich und wir alle seyn!

Dies sagte ich, indem ich Mariane umarmte, und aus zärtlicher Freude, aus Zweifel und Wünschen etwas weinte Sie umfaßte mich, und sagte:

»Gewiß, Rosalie! ich, meine nun gerettete Emilie, und Sophie mit dem wackern Stubenmädchen, ziehen zu Ihnen. Mein Bruder und seine Braut sind es zufrieden. Emilie bleibt mir, bis sie in ein Stift kommt, oder vermählt wird; ich aber schließe mein Leben bei Ihnen.«

Nun weinte ich wahre Freudenthränen, und dankte Gott, der alles so fügte. Sie unterbrach mich, und sagte:

»Ich bin froh, daß Cleberg baute, denn sonst würden Sie wegen meiner in Verlegenheit gewesen seyn, ob mir schon der gute Oncle sein Zimmer anbot, und versicherte, er nähme andre Wohnung.«

Ich sagte da freimüthig und schnell: Liebe! das möchte ich nicht, denn mein Oncle liebt seine Zimmer, sie sind ihm auch sehr gemächlich; – wenn Gott ihn einst nimmt, und Sie bezögen sie dann, so wäre es mir ein wahrer Trost, Sie an der Stelle des besten Freundes meines Lebens zu sehen. –

Julie! o Sie, Sie allein können sich den Eindruck vorstellen, welchen die plötzlichen Thränen von Marianen auf mich machten, da sie mich zugleich in ihre Arme faßte, und schluchzend sagte:

»Theure Rosalie! geben Sie mir die Zimmer, denn Ihr verewigter Oncle bewohnt sie nicht mehr.«

O Gott! rief ich, sie starr und mit trocknem Auge ansehend; ich sank aus ihren Armen auf meine Kniee, Mariane saß und hielt mich umfaßt, ihre Thränen flossen über mich, und das sanfte Flüstern ihrer Stimme, als sie sagte: »Liebe, liebe Rosalie! Gott stärke dich!« gab mir etwas Kraft; ich weinte nun auf ihren Schoos, konnte nur abgebrochen den Namen meines Oncles ansprechen, es war ein Gemisch von Zweifel, Furcht und Ueberzeugung in mir; endlich rief ich: Ist es wahr? Lebt er nicht mehr, mein Wohlthäter, mein Lehrer?

»Er lebt bei Gott! und bat seine Rosalie noch um gelassenes Tragen seines Todes.«

Denken Sie, wie heftig ich weinte, bis ich fragen konnte: Er sah also seinen Tod? Und er litte, und ich war nicht um ihn?

»Nein, Liebe! Gott nahm ihn nach seinem und Ihrem Wunsch schnell; seine Briefe waren voraus geschrieben.«

Nun wollte ich sie sehen, und Mariane mich von der Erde aufheben, aber ich versagte es, und da knieete sie neben mich, wies mir die Briefe, und las mir sie vor; meine Seele wurde mit Dank, Bewunderung, Liebe und Wehmuth erfüllt. Mariane weinte mit mir, und drückte mich an ihre Brust; nachdem sie eine Zeitlang geschwiegen, küßte sie mich, und sagte:

»Rosalie! ich habe Gott und unserm edeln geliebten Todten jede Ausübung der Tugend und Freundschaft angelobt; thun Sie es auch, Liebe! Legen Sie Ihre Hand, wie ich, auf den Brief Ihres Oncles – wir können ihn als einen Altar ansehen, und wollen versprechen, seine letzte Bitte und Wünsche getreu zu erfüllen.«

Sie faßte meine Hand, legte sie mit der ihrigen vereint auf die auf ihrem Stuhl vor uns liegenden Briefe; ich stammelte ihr weinend nach, mein Kopf sank auf die Briefe, die ich küßte und mit meinen Thränen benetzte; Mariane schwieg wieder einige Minuten, dann trocknete sie ihre Augen, und sagte mit einer Art sanfter Feierlichkeit:

»Nun, theure Rosalie! wollen wir zeigen, daß unsere Gelübde uns Ernst waren; wir wollen genau die letzten Befehle der weisen liebreichen Güte befolgen. – Unser verewigter Freund sagt Ihnen:

»Zeige deine Liebe und Verehrung für mich in Befolgung meiner letzten Bitte: – Freue dich, wenn du hörst, daß mein Uebergang in die Ewigkeit leicht und schnell war; Zerstöre die Anstalten nicht, die ich noch mache, dir diese Begebenheit zu erleichtern.«

Diese mit einem feierlichen Ton vorgelesenen Zeilen vollendeten die Art von enthusiastischer Spannung, in welche mich das Schwören vor dem letzten mir heilig gewordenen Brief gebracht hatte. Ich stand auf, setzte mich zu Marianen, und bat sie, mir auch den Brief zu lesen, welchen sie empfangen hatte. Sie sagte erst jetzt, wie froh sie war, diesen Wunsch zu hören, indem ihr mein hastiges Aufstehen und das jähe Trocknen meiner Thränen bange gemacht hätte; aber der Brief meines Oncles an sie, der so voll Liebe für mich war, machte mich wieder weinen. Mariane wiederholte ihre Bitte, ihr seine Zimmer einzuräumen, und führte auf diese Art eine milde Besänftigung meines Schmerzens in meine Seele; aber ich trage ihn bei mir, den letzten Brief des treuen geliebten Oncles – Mariane hat mir eine eigene Brieftasche dazu verfertigt. Mit genauer Bemerkung des Gangs meiner oft wiederkehrenden Trauergefühle nahm sie vorgestern ihren Brief aus der Tasche, und wies mir, mich stillschweigend umarmend, die Stelle, wo mein Oncle sie bittet: Seine Rosalie zu erinnern, daß er in dem Genuß der Seligkeit wünscht, daß seine Nichte mit gelassenem Schmerz um ihn traure.

Mein Cleberg und Ihr guter Ott haben mir auch so gesprochen, und meine anbetende Liebe für den edelsten besten Verwandten, dessen Schatten und Andenken mir heilig ist, haben vereint den Entschluß, mich zu fassen und ihm zu folgen, bewirkt, und Sie können, theure Julie, wohl glauben, daß ich ziemlich standhaft bin, weil ich die Auftritte dieser Trauerpost beschreiben konnte. Mariane sagt aber, es sey Genuß meiner Wehmuth darinn, und dies mache mich schreiben. Es ist, dünkt mich selbst, eine wahre Bemerkung von ihr; aber mein theurer Oncle fordert nicht, daß ich ihn vergesse oder nicht weine, und ich fühle, mit welcher Klugheit Mariane meine nun ruhige Ergebenheit herbeiführte. Dieses war aber auch noch Wohlthat meines Oncles, der mich hieher reisen machte. Soll ich nicht sagen: Ich will sie nicht zerstören, diese letzte Arbeit seiner mehr als väterlichem Güte – ich will leben, nach seinem Willen, nach seiner Vorschrift leben? – Es kostet freilich immer Mühe, wenn wir eine Neigung unterdrücken sollen; ich mußte alle Kräfte meiner Seele anspannen, um den Hang zur innigsten Trauer und die stete Betrachtung des düstern Bildes zu unterbrechen, in welchem mir seit der Nachricht dieses Todes unser mir sonst so liebes Seedorf erschien; ich sagte auch Marianen, daß ich oft in diesem Kampf ermüdete, ohne den mindesten Sieg über mich selbst zu erhalten, und sie antwortete mir mit edelm sanftem Ernste: »Liebe Rosalie! Sie müssen die Kraft Ihres Willens gebrauchen, alles andre hilft nicht.« Und so leitete sie meine wankenden Schritte bis zu der Höhe ruhigen Nachdenkens, wo ich mich jetzo befinde, aber wirklich nicht mit eignem Entschluß und Kräften, sondern wie jede schwere Last durch Kunstwerk hinaufgebracht wurde, indem ich mir sagte: Ich will meinem Oncle meine Schwermuth opfern; er sah mich ungern traurig – vielleicht sieht er mich noch: Er soll seine Grundsätze in mir ausgeführt sehen. –

Sagen Sie, liebe Julie! dienten diese Ideen nicht als Maschine eines Hebwerks? Ich bin es sehr zufrieden, daß ich anerkennen muß, fremde Hülfe nöthig zu haben; brauche ich sie nicht bei viel minder wichtigen Anläßen? Dabei sehe ich unsre Mariane so froh über meine Gelassenheit; Cleberg dankte mir so innig dafür, und meine gute Kinder hüpfen nun wieder, denn so lange ich weinte, hatten die lieben Geschöpfe beinahe den Muth nicht, sich zu bewegen. – Auch diese Betrachtungen, Liebe! wurden Triebfeder zu Befolgung der großen edeln Vorschrift meines Oncles. – Und dann muß ich wohl auch dankbar erkennen und sagen: Gott selbst erfüllte die liebreichen Wünsche des weisen gütigen Mannes, in der Art seines Hingangs in die bessere Welt? Und ich sollte mich sträuben – sollte nicht ansehen, was für einen Trost mir die Vorsicht bereitete, da Mariane sich mit uns vereint? O Julie! ich sage es mir nun aufrichtig: Ich verdiente das viele Gute nicht, welches Gott in mein Leben legte, wenn ich das Bittre des Kelches der menschlichen Schicksale mit so viel Widerwillen kostete. Ach, ewiger Segen des Himmels umgebe die Seele meines Oncles, und seine Tugend werde mit seinem Vermögen das Erbtheil meiner Kinder! Sein Andenken wird bei uns gewiß nicht erlöschen, und die Verwendung meiner Tage soll meine nahe Verwandtschaft mit ihm beweisen. –

Es werden, meine Liebe! wie es scheint, wohl noch eine oder zwei Wochen hingehen, ehe wir abreisen, denn Mariane will sogleich mitkommen. – Sie freut sich der Bekanntschaft der Familien von Sand, und Ihres Entschlusses, immer bei uns zu wohnen; Sie aber glauben doch meiner Liebe und meiner innigen Hochachtung für Sie, daß ich gewiß, selbst an Marianens Seite, meine theure würdige Freundinn Julie mit Schmerzen vermissen würde. Sie wissen, wie sehr mein Oncle Ihren Umgang liebte, und was Herr Ott für ihn war – auch dieses verstärkt in meiner Seele unsere freundschaftliche Bande. Sagen Sie doch Ihrem schätzbaren Mann, Ihnen selbst und den Sands, allen meinen Dank für den Ersatz, welchen mein geliebter gütevoller Gatte, über den Verlust des Oncles und meine Abwesenheit, bei Ihnen findet. Sie alle, besonders er, der rechtschaffene Cleberg, sollen in mir, in meinem Thun und Bezeugen alles finden, was aufrichtige Liebe für Tugend und edle Freunde, was Dankbarkeit für ihre Güte, und Ausübung der Pflichten in einem redlichen Herzen hervorbringen können. Der Vorsatz, meines Oncles immer würdig zu seyn, ist in dem Heiligthum meiner Seele – geben Sie mir, theure Julie! bei Ihrer ersten Umarmung Ihren Segen dazu, und bitten Sie jetzt den Himmel, daß er meinen Muth erhalte: Wenn ich Marianen nur das erstemal glücklich und gelassen in ihr Zimmer führen kann! Ach Julie! beten Sie für mich und mein Kind! –


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