Sophie von La Roche
Rosalie und Cleberg auf dem Lande / 1
Sophie von La Roche

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Sechszehnter Brief.

Rosalie an Mariane.

Heute bekommen Sie die Zeit, welche unserer seltsamen van Guden bestimmt war, denn gerade da ich nach dem Frühstücken ihr schreiben, nach ihrem Befinden und Herumwandern fragen wollte, so erhalte ich aus der Brieftasche ein kleines Zettelchen, (denn ein Brief ist es wohl nicht zu nennen) worinn sie schreibt.

»Liebe Rosalie! werden Sie über das Ausbleiben meiner Nachrichten nicht unruhig. Ich reise den Augenblick nach den Bädern von Aix in Savoyen, wohin die Leiden einiger Bekannten mich rufen; von dort aus schreibe ich wieder, aber es wird in den ersten Tagen nicht seyn können.«

van Guden.

Was ist das? sagte ich, meinen Mann und meinen Oncle mit Staunen anblickend. Der Letzte schüttelte stillschweigend den Kopf, aber Cleberg, der den Zettel in die Hand nahm, und ein paarmal überlas, lächelte und sagte: »Dieses Räthsel ist mir ganz klar: Gewiß Herr von Pinndorf ist mit seiner Familie in dem Bad zu Aix, und hat dort erfahren, daß van Guden am Genfer See ist. Er hat Mangel an Geld – da ist seine schöne Marquise fort, und er zählt auf die romantische Generosität unserer Freundinn, die er mit einem Gemälde seiner Leiden zu rühren wußte.«

Mein Oncle war sicher, daß die Geschichte so ausfallen würde, und daß unserer van Guden die Ehre vorbehalten sey, Pinndorfs Schulden zu bezahlen; aber da sie in allem so gerne eine ungewöhnliche Grosmuth zeige, so würde sie bei dieser Gelegenheit vieles Vergnügen genießen. In diesem Tone sprachen die beiden Männer fort. Es ward mir unheimlich und ärgerlich dabei, indem ich fühlte, daß dieser Spott nicht ganz ungerecht war. Am Ende bat ich sie, die gute Frau doch ein wenig zu schonen, indem dieser Fehler aus schöner überfließender Güte herkäme. –

»Da ist noch etwas zu sagen – (fiel Cleberg ein) denn es ist im Grunde nicht mehr und nicht weniger, als Ueberrest der alten Liebe. Schöne überfließende Güte könnte es nur dann genannt werden, wenn Pinndorf ihr immer gleichgültig gewesen, und ihr eine gerechte Ursache zu klagen gegeben hätte. Aber jetzo, lieber Oncle! wollen wir die Sache als eine Abrechnung behandeln, und sagen:

Mancher rechtschaffene Mann that für eine Kokette, die ihn zu fesseln wußte, tausenderlei närrisches Zeug: nun ist einmal eine sonst schätzbare Frau in diese Lage gekommen, und thut eben so viel für einen Mann.

Da ist also nichts als Wiedervergeltung eingetreten, um die Sachen im Gleichgewicht zu halten.«

Ich glaube, ich sah etwas ernst und unzufrieden aus, denn mein Oncle betrachtete mich, und sagte: »Nun Liebe! deine Freundschaft für van Guden macht dich unwillig über deinen Mann und mich – man muß aber die Billigkeit so wenig als möglich aus den Augen lassen; und ich fordre dich auf, zu sagen, ob du in dem Grund deines Herzens und mit deinem eigenem guten Verstande unserm Cleberg Unrecht geben kannst, wenn er sagt, daß van Guden romantisch ist.«

Ich mußte nach der Wahrheit und dem wirklichen Gang der Dinge in der Welt es zugeben; nur sagte ich: Da ich die große Herzensgüte dieser Frau kenne, so schmerze es mich, wenn ich sie streng beurtheilen hörte – da sie doch nie etwas Schlechtes, nie irgend jemand etwas zu Leide, sondert so viel sie konnte Allen Gutes that. –

Mein Oncle sagte: »Ja sie verdient unsere Achtung, und auch daß wir sie entschuldigen, und von ihren Fehlern nur unter uns reden – denn Fehler sind es doch, Beste! über welche wir sprechen können, da wir ihren andern guten Eigenschaften Gerechtigkeit erweisen, und niemand anders mit ihren sonderbaren Eigenschaften bekannt machen. – Wir Dreie, denke ich, sollten uns über alles öfnen können, ohne daß dir gleich so weh würde, meine Liebe!« –

Ich fühlte, daß er Recht hatte, und stimmte mit ein, aber ich war doch über die Brieftasche böse, denn da ich alle Briefe durch sie bekomme, so wird auch natürlich über diesen und jenen gefragt. Bekäme ich meine Briefe apart, so hätte ich warlich immer nur die gezeigt, welche uns unterhalten konnten, ohne Andern bei meinen zwei Oberherrn zu schaden. – Doch muß ich Ihnen hier sagen, daß Ihre Briefe, so wie Ihr Charakter, bei Beiden einen solchen Vorzug haben, daß sie mir die ersten mit einer besondern Achtung überreichen, und daß man unsere Freundschaft wie eine heilige Verbindung betrachtet, und auch von unserm Briefwechsel nie mehr zu wissen verlangt, als ich freiwillig sage. Mit van Guden dünkt mich was anders vorzugehen: sie wird als Gegenstand des Zeitvertreibs angesehen, und da wollen sie gleich alles wissen, weil ihre Reise und Ideen immer nur als drolligtes ausserordentliches Zeug erscheinen, wovon man das Ende gerne sehen möchte, indem man das scheckigte Gewebe anfangen sah. Ich hoffe, meine Mariane! daß ich meine Tochter bis zu dem thätigen Leben führen werde, um sie vor dem Romantischen zu hüten, und auf das Urbild ihrer edeln weisen Pathe aufmerksam hinzuleiten. Sie wurden ja auch auf dem Lande in Einsamkeit gebildet, daher kann ich nicht glauben, daß van Gudens Bemerkung sicher sey, als sie mir schrieb:

»Sie wolle Henrietten und Gustav vor Wollinghof und den Schweizergegenden bewahren, weil beide das Romantische nährten.« –

Das mag seyn, denke ich, wenn man den jungen Leuten nur von dem Schmelz der Wiesen, nicht von der wohlthätigen und nöthigen Nutzbarkeit des Grases spricht, in den Kornfeldern nur die blaue und rothe Blumen zeigte und sie weder mit den Pflanzen des Landes, noch mit der schätzbaren Arbeit des Landmannes bekannt macht, und die Geschichte des Korns von der Saat an bis zu dem Becker unberührt läßt. – Nein Beste! diese Fehler werden bei uns nicht vorgehen. Clebergs Plan ist: Die Kinder frühe mit dem thätigen Leben rechtschaffener Menschen bekannt zu machen – und da muß man wohl mit den Arbeiten des Landmannes anfangen, um von ihnen stufenweise zu den Beschäftigungen der Uebrigen zu steigen, welche ohne die fleißige Hand des Bauers nicht lange leben könnten. Ihnen, meine Mariane, darf ich sagen, daß ich alle Tage mehr sehe, wie jede Bemühung nach Verfeinerung uns in Gefahr setzt, von Glück und Wahrheit entfernt zu werden. – Nun aber was anderes.

Die Sands haben gebeten, daß ihre wenigen Briefe von unserm Amtsboten in der Tasche mitgebracht würden, und wir hätten wohl Unrecht gehabt, ihnen die kleine Gefälligkeit zu versagen. Gestern erhielten sie das erste Paquet, und wir wurden schon für den kleinen Dienst belohnt, weil sie uns eine artige Geschichte eines Frauenzimmers mittheilten, welche nach dem Tode ihres Mannes sich mit ihrer Tochter auf das Land an einen ziemlich einsamen Wohnort begeben mußte, worüber alle ihre Freunde, besonders aber die Sands in Sorge waren, weil diese Frau meist nur die artige gesellschaftliche Talente angebaut hatte, und gar nicht für das ländliche Leben geschickt schien. Sie fürchtete es selbst, und bat also ihre Freunde um fleißigen Briefwechsel, als einen Ersatz alles dessen, was sie in der Stadt und in ihrem Cirkel verlor. Alle willigten gerne in diese Bitte, besonders der ältere Rath von Sand, der am wenigsten beschäftigt schien, und ihr immer die größten Briefe schreiben konnte. Ihre Paquette waren die ersten Wochen noch mit Klagen über Alleinseyn und mit Berechnungen ihres vielfachen Verlustes erfüllt, aber endlich schrieb sie von der Entdeckung eines fremden und wie sie einsamen Bewohners des Dorfs, welcher nun alle Abende mit ihr und ihrer Tochter in vortreflichen Unterredungen verlebte, und ihr beinah alles ersetzen würde, was sie verlor, wenn es möglich wäre, Freunde, wie sie zurückgelassen habe, zu vergessen. – Ihre Briefe enthielten in der Folge immer Auszüge der Unterhaltungen mit dem Fremden, dessen Miene ihr, wie sie sagte, im Anfang zu ernst und zu trocken geschienen hatte. – Alle ihre Freunde wurden mit Hochachtung für den schätzbaren Mann erfüllt, welcher einer beinah verlassenen Wittwe ihre Tage verschönerte, und auch für den Geist ihrer Tochter alles wurde, was reine Vernunft und richtige Kenntnis des Werths aller Güter der Erde seyn können. – Alle wurden begierig, seinen Namen und seine Geschichte zu erfahren, und baten sie lange vergebens darum. Nun fand sich gerade in dem Brief, der in unserer Posttasche ankam, der Aufschluß, daß dieser einsam wohnende vortrefliche Freund niemand anders war als Seneca, dessen Werke sie in den glücklichen und muntern gesellschaftsvollen Tagen der Stadt, ja selbst in dem Anfang ihres Aufenthalts auf dem Landen zu trocken und abschreckend gefunden hatte. Jetzo bei geendigter Einrichtung ihres Hauses und Aufstellung ihrer Bücher, welche sie neu durchgieng, wurde er ihr Trost, Rathgeber und Unterhaltung. Sand hatte die Gefälligkeit, mir alle die Briefe zu holen, und ich konnte der Begierde nicht widerstehen, sie sogleich durchzulesen, so daß ich Ihnen meinen Brief erst morgen schicken kann.

Liebe! die Frau hat viele Betrachtungen in mir geweckt, unter andern auch diese:

Wie wichtig es ist, auf die Eigenschaften der wirksamen Nebenursachen und Triebfedern bedacht zu seyn. Denn gewiß würde diese Frau den Seneca niemals so nützlich und mit so viel Nachdenken gelesen haben, als da sie den artigen Einfall bekam, ihren Freunden darüber zu schreiben, als ob sie den merkwürdigen Einwohner des Dorfs gefunden hätte. Die Auszüge, welche sie machte, sind aber ihrer Lage ganz angemessen. Zum Beispiel:

»Mäßigkeit und einfache Lebensart in Allem – die ruhigen Stunden auf dem Land zu gebrauchen – seine Vernunft zur Vollkommenheit zu führen – der Beweis, daß man in Abwesenheit mit dem Herzen seiner Freunde lebt, und sie dadurch oft länger und vollkommner geniest, als wenn man sie in der Nähe hat.« –

Ach Mariane! was für ein Grundsatz wurde mir da vorgelegt! Ich bekam Zweifel gegen alles andre, was Seneca Weises und Gutes sagen mochte: denn mein Herz widersprach da ganz; und es ist immer schlimm für die Folge der Vorschriften, wenn der Lehrer unser Herz empört. Denn, sagen Sie! wie soll ich glauben, daß ich Sie und Ihren holden lehrreichen Geist besser genießen kann, seitdem Sie von mir entfernt leben, als es die lieben unvergeßlichen sechs Jahre hindurch geschah, da Sie in meinem Hause wohnten? Mich dünkt, es war ein merkwürdiger Fehler des großen Rathgebers Seneca, etwas dem Herzen unglaubliches aufzustellen. – Er söhnte mich allein wieder in etwas aus, da er von dem Briefwechsel sagte:

»Daß in den Briefen unsere Empfindungen auf dem Papier festgesetzt werden, und einen tiefern und dauerndern Eindruck machen, als die mündliche Unterredung nicht zuläßt.«

In einem andern Briefe folgen sehr gute Sachen gegen die Einbildung, welche immer das Gute und Schlimme vergrößerte – von dem ersten mehr hoffen, und von dem zweiten mehr fürchten machte, als die Natur und die Wahrheit geben und bestimmen. –

Ein andermal – sagt die artige Frau, hätte ihr Philosoph von der Anmuth des Landlebens gesprochen, wo unsere Bekümmernisse gemildert, unsere Gemüthsbewegungen besänftiget, und unsere Vernunft überzeugt würde, daß die Fesseln, welche Eitelkeit und Ueberfluß in den Städten in das gesellschaftliche Leben gebracht hätten, in dem Freien der Natur abfielen, und wir dann unsere Gefühle und unsere Vernunft genießen könnten, indem der Friede der Seele bei dem Stillschweigen der Leidenschaften wohnte, und sanfte Neigungen mit edler Kenntnis vereint uns lehrten, daß wahres Glück leicht zu finden ist; und daß ländliche Eingezogenheit allein von den Fehlern des Ehrgeitzes, der Prachtliebe und Verschwendung heilen kann, weil diese nirgends als in großen Gesellschaften und bei vielen Zeugen sich erhalten können, in der Einsamkeit aber uns von selbst verlassen.

Sehr schön ist eine Ermahnung – ihren Aufenthalt auf dem Lande zu guter Anwendung der Tage zu gebrauchen, welche ihr in der Stadt in kleine Stücke zertheilet, zu kleinen nichtswürdigen Dingen entwendet wurden – denn die Zeit allein sey unser wahres Eigentum, alles Uebrige entlehntes Guth. –

Eine vortrefliche Idee, welche auch mich sehr freute, ist: »Die Laster sind unserer Seele fremd; man kann ihren Saamen leicht ausrotten, wenn man sich Mühe gehen will. – Die Tugend findet sich bei uns in ihrem natürlichen Boden, und wurzelt sich gerne ein, wenn sie nur ein wenig besorgt wird.« –

»Ach liebe Rosalie!« sagte Julie, als sie den Abend kam, mich noch bei dem Schreibtisch fand, und ich ihr dann mit Vergnügen von dem artigen Einfall dieser Freundinn der Sandischen Familie erzählte, und die Auszüge ihr vorlas, wovon der letzte sie besonders einnahm, so daß sie mit mehr als gewohntem Eifer sagte: »Mein ganzes Herz stimmt mit diesem Gedanken ein, weil er in der Güte unsers Urhebers und unserer Bestimmung gegründet ist. Gewiß ist uns die Tugend auf dieser Erde natürlich; so wie sie uns zum wahren Glück dieses Lebens nöthig ist: denn die Wesen der andern Welt brauchen sie ja nicht. – Sie ist, dünkt mich, in dem moralischen Gebiet die unserer Seele angewiesen stärkende Kraft, wie unter den Pflanzen eine Anzahl für die unserem Körper gesunde Nahrung bestimmt ist . . . . . .«

Diese Betrachtung von Julie ermunterte mich, die Briefe dieser Frau ganz mit ihr durchzulesen, und wir hatten heute auch Zeit genug dazu, denn Cleberg ist mit meinem Oncle, mit Ott und dem Vetter sammt dem Pfarrer ausgeritten, um ein Schulhaus auf einem etwas entfernten Dorf zu besuchen. Die Auszüge, welche wir in diesen Briefen fanden, und der erste Gedanke der Frau, den Seneca als einen lebenden Freund einzuführen, machte uns sehr dankbar sagen:

Sind nicht unsere Männer – ist nicht der Oncle für uns, was Seneca in seinem Leben für seine Freunde war, und nun durch seine Schriften für einen Theil der Bedürfnisse unserer Zeit ist? Können wir nicht nach diesen Auszügen, wie nach vielen andern Schriften der Alten, sagen: Griechen und Römer hatten die nämlichen Fehler, welche die Leidenschaften uns geben, und hatten die nämlichen moralischen Hülfsmittel nöthig, wie wir – so wie ihre Körper den nämlichen Menschenbau und Bedürfnisse hatten – nur daß ihre Köche eine andre Art von Zurichtung der Speisen, und ihre Schneider eine andre Form zu den Kleidern hatten, als bei uns.

Julie setzte hinzu: Ist es nicht merkwürdig und angenehm, daß alles, was unmittelbar für die edle Beschäftigung, für den Nutzen und das Vergnügen des Geistes gehört, in Moral, Wissenschaft und Künsten bis zu uns erhalten wurde, und auch unsern Ideen und Gefühlen noch immer gefällig und anpassend ist – während daß beinah alles, was die Belustigungen und Besorgung für den Körper betraf, aus dem Gedächtnis verloren und verbannt wurde? Fragen Sie doch (fuhr sie fort) den Oncle und Ihren Cleberg – ich will meinen Ott fragen: Ob es nicht in der Natur der Unsterblichkeit des Geistes liegt, daß auch seine Werke nie ganz untergehen – und daß hingegen alles, was den Körper allein betrift, dem Tod und Verwesen unterworfen ist?

War das nicht recht artig von unserer Julie? Und bin ich nicht ein glückseliges Geschöpf, so viele gute edle Menschen zu kennen, und mit ihnen verbunden zu seyn? Aber Mariane! wie Viele müßten in die Wagschaale, um das Gleichgewicht mit Ihnen zu halten? Denn wenn ich zurückdenke, was Ihr Beispiel und Ihr sanftheiterer Ton in Ihren Bemerkungen, im Beifall und Rath, zu meinen Glück und meinen Verdiensten beigetragen haben, so finde ich nur meinen Oncle, welchen ich an Ihre Seite stellen kann. Cleberg paßte mit allen seinen vortreflichen Eigenschaften nicht ganz dazu. – Er mußte mich durch Sie, durch meinen Oncle gebildet finden, wie ich vor acht Jahren war, sonst würde er nie mein Cleberg geworden seyn: aber nun kann ich hoffen, daß meine Kinder in ihm die Weisheit und Güte meines väterlichen Freundes finden werden – möge ich ihnen Klugheit und Zärtlichkeit von Mariane zeigen! –


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