Sophie von La Roche
Rosalie und Cleberg auf dem Lande / 1
Sophie von La Roche

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Fünf und zwanzigster Brief.

Rosalie an Mariane.

Theure Liebe! ich schickte Ihnen die Abschrift meines Briefs an die Frau v. Pinndorf; sagen Sie mir doch, warum dieser Brief so kurz war, und, ohngeachtet meiner Aufmerksamkeit, unsere eingetretene Kälte gegen sie zu verbergen, eine jede Zeile etwas Frostiges und Trockenes hatte? Doch er ist fort, und sie mag wohl mit ihrem vortreflichen Geist selbst fühlen und denken, daß wir Mühe haben werden, sie als Frau von Pinndorf anzusehen. Dennoch sind wir überzeugt, daß dieses der einzige Ruhpunkt war, den ihre Seele finden konnte. Möge sie glücklich seyn, und der Himmel alle jetzt lebende und nachkommende Frauenzimmer vor einer Leidenschaft von dieser Dauer und Stärke bewahren – wodurch, wie mein Oncle sagt, die Weiber das wahre Glück ihres Lebens, und die Verdienste ihres Charakters und ihres Geistes verlieren, weil diese Empfindungen bei uns eben so stark und so schädlich wirken, als der Zorn und Ehrgeitz bei den Männern – das hingegen nur die Vernunft und die Erfüllung unserer Pflichten glücklich mache. –

Cleberg behauptete mit neuem Eifer seinen Vorsatz, unsere Töchter in allem, was den Verstand betreffe, bei den Lehrstunden der Söhne zu halten; nicht nur die Talente und Wißbegierde der Mädchen zu prüfen, und ihnen, nach der muthwilligen Anmerkung der Frau Grafe, von Jugend auf einen großen Begriff von den Verdiensten der Männer zu geben, sondern hauptsächlich mehr Stärke des Charakters in sie zu legen, als Mädchen bei der gewöhnlichen Erziehung erhalten. Mich dünkt, er habe nicht unrecht, zu hoffen, daß er dadurch das Glück und die Tugend unserer Nanny befestigen wird; so wie ich glaube, daß die Abtheilung gut ist, welche er zwischen den Uebungen des Verstandes und den körperlichen Beschäftigungen macht, indem er den Mädchen von den letzten nur das Reiten nach englischer Art, aber sonst keine männlichen Unternehmungen erlaubt – wie auch jetzo schon meine Nanny, wenn die Buben laufen, ringen, oder so was von heftigen Spielen treiben, bei mir sitzen und sich mit netter Mädchenarbeit abgeben muß. – Gleich streng aber, wie von den Buben, will er von ihnen die größte Genauigkeit bei allem, was mechanisch ist, fordern, wie zum Beispiel schön schreiben, Zeichnen, Tanz, Stellung, Gang, Reinlichkeit und Ordnung mit Kleidern und Sachen, vorgeschriebenes Halten der Arbeitstunden, – deutliche Erklärung ihrer Ideen und ihrer Wünsche – »weil, wie er sagt, richtige Begriffe nicht nur die besten sind, sondern auch immer einen Theil unseres Glücks in sich fassen, und selten viel Umschweife machen lassen, welche selbst zum schön sprechen unnöthig seyen.« – Der Himmel lasse uns dieses schöne Ziel erreichen, oder ihm nur nahe kommen!

Gestern kam Frau Grafe gleich nach dem Frühstück zu uns, blos deswegen, um mit uns über van Gudens Heurath zu sprechen, und war froh, den Brief selbst noch getroffen zu haben. – Cleberg machte sich wieder sehr lustig über die arme Frau, aber Abends waren Ott, Julie und Latten bei uns, welche sich ihrer annahmen, und diesen Schritt noch für den klügsten hielten, den sie in ihrer Liebesschwärmerei gethan habe. Hätte ich nur alles aufzeichnen können, was über Erziehung der Mädchen gesagt wurde, welche man diesen Abend von der Wiege an bis in die Arme eines Mannes führte, und alle Arten von Glück und Unglück erzählte, welche aus guter oder verkehrter Erziehung entstünden – wobei Julie etwas sehr artiges sagte, indem sie als einen großen Fehler anzeigte, daß man bei der sogenannten guten Erziehung zuviel Werth auf glänzende Talente lege – wie Klavierspiel, Gesang, Zeichnen und Malen. Sie behauptete: »Daß diese Vorzüge sehr oft zum Unglück guter Geschöpfe beitrügen, indem die Mädchen selbst dem Ruhm dieser schimmernden Verdienste zu viel Gewicht gäben, ihr Herz an den jungen Mann hefteten, der sie darüber am meisten lobte, und dabei dieses Loben für Beweis der Uebereinstimmung der Gemüther hielten, weil natürlich die Bewunderung, so lange sie unverheurathet wären, fortdaure, da sie der Freier meist nur bei dem Klavier, der Reißfeder, dem Sticken, oder andrer, galanter Arbeit, niedlich gekleidet, antreffe; aber nach den hochzeitlichen Festtagen, wenn die junge Frau im gemächlichen Hauskleid nachläßig aussehe, und die Unterredung über alle Gegenstände des Hauswesens nöthig werde – wenn Freunde gewählt, Zeitvertreibe, Beschäftigung und Ausgaben bestimmt würden, da zeige sich die Verschiedenheit der Charaktere und der Grundsätze oft so stark und so empfindlich, daß die arme junge Frauen gleich in den ersten Monaten allen ihren Verstand brauchten, um ihre Reue über die getroffene Wahl zu verbergen.« –

Ich weis nicht mehr, welches von uns von gelehrten Frauenzimmern sprach, aber das weis ich, daß Ottens, Clebergs und Lattens Scherze dabei sehr bitter wurden, und mich etwas unzufrieden machten; denn da eine wirklich gelehrte Frau eben so selten erscheint, wie die volle Blüte der Aloe, so dünkt mich, könnte sie auch mit eben der kleinen Bewunderung behandelt werden. – Unsere liebe muntere Frau Grafe faßte den Artikel der Aufnahme in gelehrte Gesellschaften, worüber stark gespottet wurde, sehr artig, indem sie, von ihrem glücklichen Gedächtnis unterstützt, den Streit von zwei gelehrten Spaniern erzählte, als die Donna Amar in die königliche Akademie aufgenommen werden sollte, und einige stolze Männer die gelehrte Frau ausschlossen – die Donna aber eine Vertheidigung unsers Geschlechts schrieb, worinn sie mit vieler Bescheidenheit den Männern den unsichern und unsteten Gang ihrer Ideen von den Weibern verweist, da wir in einem Lande mit Recht und Vernunft als Freundinnen und Gehülfinnen, in andern aus Unsinn und Uebermuth der Männer als Sklavinnen gehalten – bald in einem Reich über alles verehrt, und in dem andern verachtet werden; hier alle Geheimnisse anvertraut bekommen, und unsere Urtheile als Orakelsprüche angesehen werden – dort aber Vorwürfe wegen unserer angebornen Unwissenheit hören, und dabei von dem ordentlichen Anbau des Geistes entfernt leben müssen.

Die liebenswerthe Donna durchging die ganze Geschichte der Menschheit, und sagte, daß nicht nur in den physischen Gefühlen beider Geschlechter eine vollkommne Gleichheit herrsche, sondern daß auch alle Zeiten Beweise lieferten, daß unsere Seele die nämliche moralische Fähigkeiten besitze, wie die von den Männern. – Sie sprach von dem Scharfsinn der hebräischen, von der Klugheit der spartanischen, den Wissenschaften der atheniensischen, und dem feinen großen Geist der römischen Weiber. Sie bezeichnete dann die Fortschritte, welche Italienerinnen, Französinnen, Deutsche, Spanierinnen und Engländerinnen in dem Gebiet der ernsten und schönen Kenntnisse machten, ohngeachtet wir wegen der so sehr versäumten ersten Erziehung viel mehr Schwierigkeiten zu überwinden hätten, als junge Männer auf der Laufbahn ihrer Studien fänden. Mit edelm Muth fährt sie fort: Daß unsere allgemeine Unwissenheit nicht uns, sondern den Männern vorgeworfen werden sollte, indem wir, als ihre bestimmten Gattinnen und Mütter ihrer Kinder, das Recht haben, zu verlangen, für ökonomische Akademieen gebildet und in sie aufgenommen zu werden, weil wir da für den Staat und für unsere Familien in allen Theilen so viel Gutes und Nützliches wirken könnten – wie z. B. die Engländerinn Miß Rhodes mit ihren Erfahrungen und Nachdenken über die Seidenwürmerzucht fand, daß im Mangel der Maulbeerblätter diese nützlichen Thiere sehr gerne Spinat, Latuke, Johannisbeere und Löwenzahnblätter fressen, und dabei eben so schöne Seide spinnen, so daß man sie auch noch, wann die Maulbeerblätter kommen, sehr nützlich damit vermischen könne. – –

Diese bescheidene Vorstellung der Donna Amar erhielt allen Beifall und alle Stimmen unserer Männer, welche dann uns aufforderten, freimüthig unsere Gedanken darüber zu sagen. Eine kleine Verlegenheit kam über uns; indessen war es schön, uns, die wir keine Verabredung nehmen konnten, doch mit einem Geist sprechen zu hören, indem wir alle auf den Punkt vereint erklärten: »Daß wir, auch wenn wir uns für gelehrt halten könnten, doch, wie die edle Spanierin, auf alle gelehrte Akademieen Verzicht thun, und, wie sie, uns nur bei ökonomischen, die Erziehung, Sitten, schöne Kenntnis und gesellschaftliches Leben betreffenden Gegenständen eine Stimme ausbitten würden.«

Madame Grafe setzte nun zum Beweis unserer wahrhaft sympathetischen Uebereinstimmung mit Donna Amar hinzu: »Daß in Madrid 1787 eine Damenakademie errichtet wurde, welche, unter königlichem Schutz, Freischulen für Mädchen mit der Sorgfalt und Oberaufsicht über alle Arten Frauenzimmerarbeit verbinde.«

Mein Mann versicherte uns sogleich den ersten Rang in der Damenakademie zu Seedorf, welche er stiften wolle, wenn ich mein erstes Winterprobejahr gut zurückgelegt, und meine Beobachtungen gemacht haben würde. Er sagte dieses mit einem für blosen Scherz zu bedeutenden Blick auf mich, so daß ein kleines staunendes Schweigen entstand. Ich hatte allein den Schlüssel zu dieser Aeusserung, den ich Ihnen mittheile. Cleberg will alle Jahre die Dörfer seines Oberamts bereisen, und in jedem Haus sich nach dem umsehen, was den Hauswirth betrift; ich solle in Seedorf bald hier bald da freundlich eine Bäurinn besuchen, aber die lobenswerthe Weiber immer zuerst – solle ihnen Achtung beweisen, Dienste und Rath in gesunden und kranken Tagen anbieten, die nachläßige Hausmutter allein sprechen, und liebreich zu Ordnung und Fleiß ermuntern. – Auf diese Art hoft Cleberg, mit unserm vortreflichen Pfarrherrn vereint, nach und nach den Unterthanen die schätzbare Ehrbegierde zu geben, als die besten Landleute gerühmt zu werden. »Ich (sagte er an einem wichtigen mir unvergeßlichen Abend, da er zwischen dem Pfarrer und mir auf Ihrer Bank saß) »ich will mich bemühen, sie zu glücklichen Menschen zu machen, die bei ihrem Beamten Schutz, Gerechtigkeit, Rath und Hülfe, wie bei ihrem Pfarrherrn Lehre und Beispiel, guten Unterricht für ihre Kinder in der Schule, und in meiner Frau die Ausübung aller Pflichten einer guten Gattinn, Mutter, Führerinn ihrer Wirthschaft und Menschenfreundinn finden.« Er hatte dabei eine von meinen und eine von des Pfarrers Händen genommen und sanft gedrückt. Ich war gerührt, der rechtschaffene Geistliche war es auch, und segnete ihn mit dem Zusatz: »Daß er gewiß die Pfarre von Seedorf nie, weder gegen eine Superintendentenstelle, noch gegen den Platz des Hofpredigers vertauschen würde.«

Ich, meine Mariane! dachte bei dem schönen Niedergang der Sonne, die so wohlthätig immer den nämlichen Kreislauf macht, an den schönen Cirkel meiner vorgeschriebenen Beschäftigungen. Wenn ich ihn mit redlichem gutem Willen getreu erfülle, so muß einst diese Erinnerung eine eben so sanfte Heiterkeit auf den Abend meines Lebens verbreiten, als die weichende Sonne auf dem angebauten Feld und in den Abendwolken zurückließ. Ich habe diese Erinnerung, welche Clebergs Blicke so lebhaft in mir erneuerten, hier eingeflochten, weil ich Ihnen, ich weis nicht warum? noch nie von diesem Abend schrieb, und ich war doch von der Zeit an so sehr in diesen wahren Gang des Geistes eines guten Beamten eingetreten, daß ich auch deswegen mit van Gudens Heurath zufrieden bin, weil ich weis, daß sie die Pinndorfischen Güther und Pächter so behandeln wird, daß die ersten, wie Wollinghof, verschönert und einträglich, die zweiten aber glücklich seyn werden. Dieses führt mich zu dem gestrigen Tag zurück, wo endlich auch die Frage entstand. »Ob wohl unsere van Guden jetzo glücklich sey?« – Und diese Frage brachte den Einwurf hervor: Daß man erst bestimmen müsse, was eigentlich Glück sey. – Hier schwiegen wir Weiber, und waren bei unserer Arbeit äusserst aufmerksam auf den ersten Ausspruch, welcher meinem guten Oncle aufgetragen ward. Er sagte aber: »Kinder! wenn der Anlaß zu dieser Frage nicht auf dem seichten Boden einer romantischen Geschichte entstanden wäre, so wollte ich Euch die Grundlage und Ideen meines Glücks bekannt machen; aber der Genius meines Mark-Aurels ist mir zu heilig, um ihn bei dem Gewirre phantastischer Gedanken und Begebenheiten hervorzurufen. Meine ganze Seele ist seit meinem fünfzehnten Jahre den Grundsätzen dieses Mannes geweiht, und ich werde bei dem so wichtigen Punkt von Glück keine leichtere, reine geringere Idee annehmen, oder angeben, als Mark-Aurel hatte.«

Wir waren alle mehr oder weniger über diese mit einem edeln aber tiefen Ernst gesagte Anrede betroffen, baten ihn aber alle inständig, aus Liebe zu unserm Glück uns mit den Begriffen des großen tugendvollen Mannes bekannt zu machen. Er war so gefällig, sein Taschenbuch zu nehmen, und uns den Auszug vorzulesen, welchen er vor so vielen Jahren machte:

»Das Glück besteht weder im Reichthum, noch in schönen Reden voll erlernter Kenntnis, – noch in Ruhm oder Ehrenstellen, und Belustigungen: – sondern in guten Handlungen. Dazu ist aber nöthig, das Gute und Böse zu kennen – zu wissen, zu was der Mensch geboren ist, und was die Pflichten seines Standes fordern; dahin führt uns der wahre Geist, und zeigt, daß das Glück in guten Neigungen unserer Seele und guten Handlungen besteht.«

Diese wenigen Zeilen, von meinem Oncle gelesen, dessen ganzes Leben eine zusammenhängende Kette guter Thaten ist – der Name Mark-Aurels, welcher jedem unterrichteten Menschen herzen heilig ist, und die Gefühle der Wahrheit, welche uns alle durchdrangen, brachten in unsern Physiognomien und Blicken auf meinen Oncle einen so schönen Ausdruck der Verehrung für den Schriftsteller und Leser, und zugleich eine Anerkennung der Grundsätze und Gelübde ihrer Befolgung hervor, daß mein Oncle uns mit stiller Rührung betrachtete, und sagte: »Ich glaube, lieben Freunde, die Gesinnungen Ihrer Seelen zu bemerken; Gott segne Sie mit dem wahren Glück, dessen Werth Sie alle so innig fühlen – und gesegnet sey das Andenken Mark-Aurels bei uns allen!«

Er legte hier sein Taschenbuch wieder zusammen, und wir näherten uns ihm, mit Dank und Liebe für seine Gefälligkeit, welche uns diese schöne Stunde gegeben hatte. Frau Grafe, welche zunächst an meinem Oncle saß, und die Person ist, die am leichtesten von sanftem Ernst zu munterm Scherz übergeht, faßte ihn bei der Hand und sagte ihm zulächelnd: »Diese schöne Erinnerung an den philosophischen Kaiser haben wir doch der romantischen van Guden zu danken! – Ich, die ich meinen Oncle am besten kenne, bemerkte eine Bewegung von Unmuth in ihm, als ob diese Idee ihm unschicklich dünkte, aber seines Lehrers gütevolle Weisheit unterdrückte sein Misfallen, und er antwortete mit Heiterkeit: »Ja, aber vergessen Sie nicht, daß es in der Zeit geschah, wo die gute Frau in das thätige Leben einer Hausmutter verpflanzt ward. – Den nämlichen Augenblick aber sah er Frau Grafe mit einem so ungewöhnlich lebhaften Lächeln an, daß sie ihn fragte: »Lieber Oncle, was denken Sie?«

»Daß Sie selbst mich an Mark-Aurel erinnern – aber ich darf es wohl nicht sagen, wie.« –

Sie stutzte etwas, sagte aber gleich: »Warum nicht, lieber Oncle! Sie können alles sagen – und ich bitte Sie darum.«

Nun kam das Taschenbuch wieder zum Vorschein, welches er ihr vorhielt und auf eine Stelle deutete, die sie lesen sollte; sie that es, aber unsere Grafe ward roth und schlug die Augen nieder. Der Oncle wollte das Buch nehmen, sie sagte aber: »Nein! Alle sollen Ihre Schärfe gegen mich sehen, und las laut: »Einbildung! was machst du hier? Geh im Namen der Götter, ich brauche dich nicht; du kamest nach deiner alten Gewohnheit – ich bin nicht böse darüber – geh nur weg, ich beschwöre dich.«

Wir waren alle um unsere Freundinn bekümmert – mein Oncle faßte sie aber bei der Hand. »Brave Frau! (sagte er liebreich), verzeihen Sie mir! Ich war zu ernsthaft.«

Nein, bester ehrwürdiger Freund! (erwiederte sie) ich kam in diesem Moment sehr unbesonnen mit einem Scherz; wenn Sie nur nicht so böse sind, wie Mark-Aurel, und mich gleich fortschicken.

»Gewiß nicht; Sie sehen ja auch, daß die Einbildung oft zu dem weisen Kaiser kam.« –

So endigte unser Abend recht schön, mit der Anmerkung, wie nützlich es sey, immer Auszüge zu machen – und ich freute mich sehr, daß dieses Anlaß wurde, unsre Freundinn Grafe in einem vortheilhaften Licht zu sehen, denn sie sagte, ihre Brieftasche nehmend: »Nun, guter Oncle! bin ich stolz, etwas gethan zu haben, das Sie gut finden: Denn sehen Sie! diese Betrachtung über das Lesen der Geschichte schrieb ich mir ab.«

Wir baten sie, es vorzulesen, und ich schicke Ihnen hier die Kopie:

»Die großen Vortheile der Geschichte sind: Daß sie uns das Vergangne vor die Augen stellt, welches uns sonst eben so verborgen bliebe, als die Zukunft; man kann sie als uneigennützige aufrichtige Freundinn betrachten, welche uns gerne belehrt, ohne uns zu ermüden; sie lehrt uns, große Geburt und Würden nur als Mittel zu schätzen, dem Vaterland große Dienste zu leisten; Wissenschaft und Talente, Reichthum und Ansehen hauptsächlich deswegen zu lieben, weil man dadurch Andre erleuchten, und Unglückliche unterstützen kann; – Feinden zu vergeben, das gemeine Beste allem vorzuziehen, in seinem Amt arbeitsam, rechtschaffen und unbestechlich zu seyn. Diese edeln Gesinnungen giebt die Geschichte, wenn sie mit Aufmerksamkeit und Nachdenken, nicht allein aus Neugierde gelesen wird.«

Das Lob des Oncles, und der Beifall, welchen wir Uebrigen diesem wohlgewählten Auszug gaben, heilte die kleine Wunde völlig zu, welche der letzte Artikel von Mark-Aurel gegeben hatte, und wir giengen alle sehr vergnügt schlafen. Der heutige Morgen aber wurde mit einem wahren Seelenfest gefeiert, wo ich Sie jeden Augenblick zu uns wünschte.

Sie erinnern sich wohl, daß unser Garten, gegen die Landstraße hin, in einen erhöhten und mit Bäumen besetzten Winkel läuft, wo ich selten hinkam, und nur einmal einen englischen Ruhsitz hinwünschte. Nun ließ mir mein Oncle gleich nach dem Aufstehen sagen: Daß er uns mit Frau Grafe bei des Gärtners Haus zum Frühstück erwarte, und mit den Kindern vorausgehe. Wir kamen auch miteinander hin. Denken Sie sich mein Staunen, als ich hinter dem Busch bei des Gärtners Haus einen schön erbauten Ruhsitz erblickte, zu welchem auf beiden Seiten eine artige fünf Stufen hohe Treppe führt, der übrige Platz aber geebnet, und gegen das Feld hin mit einem Geländer eingefaßt ist. Mein Oncle stand mit den Sands, Ottens und Latten schon oben, winkte uns und sagte: »Wir »wollen hier das Denkmal eines geliebten und verehrten Mannes einweihen.« – Kaum waren wir oben, als eine ländliche Musik von Flöten und Schalmeyen ertönte, und meine, Otts und Sands Kinder, weiß gekleidet und mit Blumen bekränzt, die eine Stiege heraufkamen. Die kleinen hatten Körbchen, mit Blumen gefüllt, in den Händen, die älteren trugen eine Blumenkette, mit Eichenblättern und Weidenzweigen durchflochten, welche sie, während die Musik den Schweizerreihen anstimmte, an den Knöpfen eines Altars aufhiengen, der unter Geßners Brustbild steht, welches in halberhobener Arbeit mitten an der Wand des Ruhsitzes befestigt ist, und von dem geschickten und bescheidenen Künstler Ohmacht ausgearbeitet wurde. – Die kleinen Kinder streuten ihre Blumen um den Altar, alle aber legten ihre Kränze, als ein Dankopfer, bei dem daliegenden ersten Band der Idyllen in Quart zu beiden Seiten hin. Als die Musik aufhörte, sagte mein Oncle, auf das Bild deutend: »Dies, lieben Freunde! ist das ähnliche Bild eines der verdienstvollsten Männer, dessen edle Seele und Güte ich kennen lernte, als ich, um mich über den Tod des großen Friederich von Stadion zu trösten, in die Schweiz reiste.« Er war, da er dieses sagte, merklich bewegt, hielt inne, nahm das Buch, winkte uns, auf die zu beiden Seiten des Altars laufende Bänke zu sitzen, und sagte: »Ich glaube, die Beredsamkeit selbst kann von Salomon Geßner nichts würdigers sagen, als etwas von seinen unsterblichen Werken zu lesen;« sah auf die Wiesen, und sagte: »Hier schickt sich Geßners Morgenbetrachtung: Der Grasplatz; dann lehnte er sich etwas an den Altar, wo er mit wahrer hoherpriesterlichen Würde, wie ein Patriarch unter seinen Kindern sich gegen das Feld wandte, und die herrliche Stelle las:

»O wie schön bist du, Natur! in deiner kleinsten Verzierung, wie schön! – Die reinesten Freuden misset der, der nachläßig deine Schönheiten vorübergeht, dessen Gemüth, durch tobende Leidenschaften und falsche Freuden verderbt, der reinesten Freuden unfähig ist. Selig ist der, dessen Seele, durch keine trüben Gedanken verfinstert, durch keine Vorwürfe verfolgt, jeden Eindruck deiner Schönheiten empfindet! Wo Andre mit ekler Unempfindlichkeit vorübergehen, da lächeln mannichfaltige Freuden um ihn her. Ihm schmückt sich die ganze schöne Natur; alle seine Sinne finden immer unendliche Quellen von Freude, auf jedem Fussteig, den er wandelt, in jedem Schatten, in dem er ruhet. Sanfte Entzückungen sprudeln ihm aus jeder Quelle, duften aus jeder Blume ihm zu, ertönen und lispeln ihm aus jedem Gebüsche. Kein Ekel verdirbt ihm die immer neue Freuden, die die Schönheiten der Natur in endloser Mannichfaltigkeit ihm anbieten; auch in der kleinsten Verzierung unendlich mannichfaltig und schön, jedes zum besten Endzweck in allen seinen Verhältnissen schön und gut. Selig! o selig! wer aus diesen unerschöpflichen Quellen seine unschuldigen Vergnügen schöpft; heiter ist sein Gemüthe, wie der schönste Frühlingstag, sanft und rein jede seiner Empfindungen, wie die Zephire, die mit Blumengerüchen ihn umschweben.« –

Wir waren alle sanft gerührt, nicht nur durch den schönen Theil der Idylle, sondern gewiß auch dadurch, in einem 76 Jahre alten Manne noch die Wärme der Verehrung für die Verdienste der Menschheit, und der Anmuth der Natur, zu sehen. – Sands, Ottens und meine Kinder hatten sich zu beiden Seiten auf die Stufen der Stiegen gesetzt – die Familie des Gärtners und einige unserer Domestiquen standen unten so aufmerksam und ehrfurchtsvoll, als in der Kirche. Ich kann mit dem edeln Recensenten in der allgemeinen Litteraturzeitung sagen:

»Voll von dem Vergnügen, welches der abermalige Genuß dieser herrlichen Geistesprodukte des unsterblichen Geßners uns gab, feierte ich durch Thränen süßer Wehmuth das Andenken des edeln Mannes, durch welchen die deutsche Poesie an innerm Gehalt so viel, als durch wenige, und an Achtung bei den Ausländern mehr, als durch irgendeinen Andern, gewonnen hat.«

Nun brachten unsere Leute das bei dem Gärtner fertig gehaltene Frühstück auf einem Tisch, und noch einige Stühle, wo wir dann bei dem Anblick der freien Natur und mehrerer Arbeiten des Landmanns, zu den Füßen des Bildes ihres liebreichen Sängers, mit der größten edelsten Freude frühstückten, und von verdienstvollen Deutschen sprachen. Sollte ich da nicht an Sie gedacht, Sie nicht unter uns gewünscht haben? O Mariane! muß ich nicht gerade da am lebhaftesten an Sie denken, wenn die Frage von Geist und Tugend ist?


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