Sophie von La Roche
Rosalie und Cleberg auf dem Lande / 1
Sophie von La Roche

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Fünfter Brief.

Rosalie an Marianen.

Ich sagte vorgestern Ihrem Bilde, an der Seite meines Oncles: Neun Jahre sind nun seit unserer ersten Trennung verschwunden; manche freudige und manche ernste Begebenheiten haben diesen Zeitraum ausgefüllt, und meine Menschenkenntnis und Erfahrungen vermehrt. Mein Oncle setzte sogleich hinzu: »Sie sollen aber auch gelassenes Zusehen bei den Abänderungen, ruhiges Ertragen eines Verlustes, und Befestigung geprüfter Grundsätze hervorbringen; sonst, meine liebe Rosalie! ist der Gewinnst der Erfahrung von neun Jahren zu gering.«

Der liebe Mann merkte, daß ich der ersten Trennung von Ihnen so ernsthaft gedachte, weil die zweite noch so lebhaft vor mir war. Und ich glaubte genug gethan zu haben, da ich alle Tage Ihrem Bilde gegenüber den Nachmittag und den Abend hinbringe; von hundert andern Sachen rede; nichts von dem, was ich zu thun habe, versäume; und an allen mindern Menschenbegebenheiten Antheil nehme. Ich erwiederte auch ganz sanft: Wissen Sie wohl, lieber Oheim! daß gerade heute der Jahrtag ist, an welchem ich meine erste Reise mit Ihnen antrat? – Er lächelte, und schüttelte den Kopf, wie er immer zu thun pflegt, wenn er freundlich zweifelt – und sagte dabei:

»Rosalie! sey aufrichtig, und bekenne, daß du diesen Tag eher wegen der Trennung von Mariane, als wegen deiner Reise mit mir bemerktest.«

Ich fiel ein: O mein Oncle! dieser Verweis ist so strenge, daß ich Sie bitten muß, ja nicht zu vergessen, daß Sie mir doch lieber waren, als Mariane und Alles; denn ich reiste mit Ihnen, ob Sie mir schon mit vieler Güte die Freiheit gelassen hatten, mitzugehen oder zu bleiben.

»Das war damals auch mein Ernst. Aber dein Entschluß, mitzugehen, freute mich um so mehr, weil er mir die erste Blüte von Stärke und Standhaftigkeit zu seyn schien, welche wir Alle in dem Lauf unsers Lebens so nöthig haben. Ich bemerkte wohl, was dir dein Entschluß kostete – indessen wäre es mir leid, wenn diese Blüte nur eitle Blätter ohne Früchte seyn sollte!«

Nun war ich äusserst gerührt und verlegen, faßte seine Hand, und fragte ihn: Theurer, theurer Oncle! was sagen Sie da? Habe ich wirklich Anlaß dazu gegeben?

»Beinahe, meine Liebe! Aber (setzte er mit milderer Güte hinzu) du weist, daß man immer die Gleichnisse von Sachen nimmt, die uns am nächsten umgeben; und ich hörte gerade heute frühe bei meinem Morgengang den Gärtner von einem schön aussehenden Strauche sagen: daß er falsch geblüht habe.«

Dank, lieber Oncle! für die fein gesagte Ermahnung. Ich will keine Ihrer Hofnungen täuschen; aber Sie müssen auch gütig bedenken, daß, wenn ich schon lange um Sie war, ich doch immer ein schwaches weibliches Geschöpf bleibe. –

Hier sah er ganz ernst, und sagte: Rosalie! ich bin mit dieser Antwort nicht ganz zufrieden; weil mich dünkt, ein versteckter Unwille habe dich zu der falschen Demuth gebracht, von weiblicher Schwachheit zu reden. Aber auch wenn es dir Ernst war, so möchte ich meine Rosalie niemals einen Fehler mit diesem allgemeinen Decke bemänteln sehen.«

Sie wissen, man darf nicht wohl wagen, ihm einzusprechen, ehe er alles gesagt, was er sagen wollte. Die Zeit, da ich hören mußte, war also lang genug, um den Ernst deutlich in seinem Gesichte zu lesen. Eine Thräne füllte mein Aug, aber ich faßte mich, und sagte ihm ruhig: Theurer Oncle! Sie müssen nicht so unwillig auf das Mäntelchen blicken, mit dem ich einen vorübergehenden Fehler in der Eile verbergen wollte; denn alles, was ich sagte, geschah nur, die Vermuthung zu unterbrechen: als ob ich mehr am Vergangnen als am Gegenwärtigen hienge. – Ich küßte ihm dabei die Hände, und er mich auf die Stirne; wie er immer bei einer Aussöhnung thut, weil er zu sagen pflegt:

»Ich muß mich mit deinem Kopf versöhnen; denn dein Herz fehlt nie.«

So gieng es wieder gut. Aber ich ward etwas ängstlich sorgsam auf meine Worte und Mienen. Cleberg bemerkte es, und fragte nach der Ursache, welche ich sagte. Er bat mich, ruhig zu seyn, und die genaue Empfindlichkeit unsers guten Oncles als eine Wirkung des Alters anzusehen und zu schonen. »Wir bekommen, setzte er hinzu, in gewissen Jahren alle so etwas, wo die Begierde des Alleingenusses mit hervorblickt. Alte fürchten, vergessen zu werden, und bekommen eine Art Eifersucht. Spreche nicht so oft, oder wenigstens in heiterm ruhigem Ton von Marianen. Die Alten fühlen, daß mit ihren Kräften so viele Freuden verschwinden, und heften sich dann eifriger an das, was sie noch haben. Du weist, liebe Rosalie! was du für deinen Oncle bist – sey es gerne; du siehst es: die Liebe für dich, und seine edeln Gefühle, haben immer die Oberhand.«

Ich dankte meinem Mann für seine Weisung, und habe mich nun mit der äussersten Sorgfalt darnach gerichtet.

Gestern war ein vortreflicher Tag; Ott und Julie sind mit der alten erprobten Freundschaft hier angekommen; und wir werden nun wieder alle Abende zusammen verleben, bald mit unsern Männern, bald einen Nachmittag ohne sie, nur mit unsern Kindern und unserer Arbeit.

Heute frühe wurde ein liebes Pack landwirthschaftlicher Bücher durchsucht, welche Ott mitbrachte. Und Cleberg sprach mit meinem Oncle über einen Plan in Ansehung seines Oberamts, welcher dem Oncle sehr wohl gefällt. Unser lieber Pfarrer soll nächstens, ganz freimüthig, von der Kanzel, von den Pflichten eines guten Landbeamtens reden, und sie in allem, bis auf die kleinsten Theile, streng anzeigen, ohne nur mit einer Sylbe die Pflichten der Untergebenen zu berühren. Cleberg sagte: »Ich will die Aufmerksamkeit des Oberamts auf meine Person und meine Handlungen erwecken, das wird mich selbst aufmerksam machen, und das Uebrige wird kommen.« Dann will er, von Morgen an, alle Amtstage einen Pfarrer und zwei Schultheiße der acht Dörfer bei dem Mittagessen haben, und ihnen alles Neue der Entdeckungen und Anlagen in der Landwirthschaft bekannt machen, von den Absichten seiner Verbesserungen mit ihnen reden, und sie darüber befragen. – Dann werden die Schulmeister auch einen Tag bekommen, denn sie sind meinem Oncle beinahe lieber als die Pfarrer und die Schultheiß. Sie wissen, daß er vor zwei Jahren für die Schule von Seedorf eine Stiftung machte, welche auch einen sehr glücklichen Erfolg hat: denn unser Schulmeister ist ein rechtschaffener und geschickter Mann, so wie seine Zöglinge wohlgesittete und geschickte Bauernkinder werden. Herr von Rochow hat wirklich unsterbliches Verdienst erworben, daß er mit der treuen Menschenliebe Modelle für Landschulen bearbeitete. – Liebe! ich kann nicht fortfahren, der Bote geht schon – ich ende diesen Brief morgen.

 

Nun, heute hatte ich die erste Amtsgäste, und ich segnete den redlichen Mann, der das Leben eines Bauern-Schultheißen in dem Journal für Deutschland beschrieb. – Cleberg las es mit seiner schönen Stimme und dem vollkommnen Lesetalent vor. Es ist das Leben des Schultheißen Bauer zu Eissingen in den Baadischen Landen. Unsere Gäste waren sehr aufmerksam dabei, und mein Mann munterte sie auf, so viel möglich nach dem Beispiele dieses Mannes zu handeln, und versichert zu seyn, daß er ihnen mit der anvertrauten Obergewalt, mit seinen erlernten Wissenschaften und seinem Vermögen alle Unterstützung geben wolle, sobald sie etwas zum gemeinen Besten, oder zur Unterstützung eines redlichen Landmannes vornehmen wollten. Er bot ihnen auch von seinen Büchern an, und bat sie, ihm zu sagen, wenn sie etwas Brauchbares darinn gefunden hätten. Die Leute schienen sehr bereitwillig und vergnügt; und gewiß, der Mittag war schön dadurch, daß Cleberg durch sein gutes Betragen gegen die Leute ihren guten Willen in wirklichen Eifer verwandelt hatte. Mein Oncle hoft eine Menge Gutes von diesem, wie er sagt, weisen Gebrauch der Menschenkenntnis meines Mannes: da er den Leuten lieb zu werden sucht. – Ich habe im Sinn, Ihnen die Liste der Bücher zu schicken, welche Cleberg für jeden Herrn und jeden Beamten nützlich hält; denn Sie lieben die guten Landleute – Sie lieber Ihren Neffen, und sind nun so großmüthig entschlossen, die Erziehung dieser Kinder zu besorgen; und da Sie (wie ich Sie kenne) alle Kräfte Ihrer Seele dazu verwenden, und schon alle Erziehungsschriften lesen: so würde ja vielfaches Gute für Ihren Neffen gethan, wenn auch jetzo schon an die verbesserte Schuleinrichtung und Besorgung des Landmannes auf den Güthern gedacht würde. Sie sehen hier, Liebe! wie ich so ganz mit diesem Gegenstand erfüllt bin; aber gewiß werden Sie es auch seyn, wenn Sie nun das Leben des Schultheißen Bauer gelesen haben, welches ich in der Eile für Sie kopirte. Sie werden mit uns den Mann segnen, und sich für die Gemeinde freuen, deren Vorsteher er ist. Cleberg will sich erkundigen, ob der Mann nicht mehrere Söhne hat, und dann will er einen zu sich berufen – indem er an das Blut einer guten Race glaubt. Sehen Sie, wie mein Mann in Allem den mir unschätzbaren Ehrgeitz zeigt: der beste Beamte zu seyn, und das Andenken seines Namens durch den Wohlstand des Amts Seedorf zu gründen. Er freut sich seiner Sprachkenntnisse, damit er, von dem Homer an, in der Geschichte der Ceres und des Bacchus, bis auf das Garten-Journal von Stuttgardt, alles lesen könne, was die Landwirthschaft betrift. Die englischen Arbeiten darüber, und die lieben Auszüge, welche er von seinem Pausanias, seinem Hesiodus, Virgil und Columell machte, werden mir alle vorgelesen. Dann hat unsere van Guden ein vortrefliches Stück aus dem Französischen übersetzt, und an Cleberg geschickt:

Moyens d'ameliores la Condition des Laboureurs & Moissoneurs.

Ich sagte da herzlich: Segen ruhe auf den Tagen und den Feldern des Mannes, der sich mit diesem Gefühl der Menschheit zu Aussetzung eines Preises, für Mittel, den Anstand der Bauern und der Schnitter zu verbessern, entschloß. Und ich freute mich, daß das Geburtsfest meines Mannes gerade in den Erndtemonat fällt. Er verdient den Kranz, der ehmals, mit Kornähren und Eichenblättern durchflochten, dem guten Landmann und Bürger gereicht wurde. Cleberg soll ihn aus der Hand unserer Schulkinder erhalten.

Was mich unter anderm in dem Leben des Schultheißen Bauer, und in dem Plan meines Mannes freut, ist die Sorge für Anpflanzung der Wälder, Obstbäume und nutzbarer Hecken. Der brave Schultheiß hat 246 Morgen Wald angepflanzt. Cleberg untersucht nun das Erdreich und die Waldlagen des ganzen Amts. Daneben macht er sich alle Holzgattungen und den Boden bekannt, den sie lieben, um vortheilhafte Anpflanzungen zu machen; daß also die guten Dryaden auch das Glück genießen werden, dessen sie in ihrer Klasse fähig sind. Denn da man den Pflanzen das Krankseyn und das kümmerliche Fortkommen ansieht, und sie bedauert; so ist gewiß Freude dabei, sie in Wohlstand zu sehen, und ihren Wachsthum zu befördern.

Sie wissen, wie sehr ich immer die Engländer wegen ihres Geschmacks an Waldung und Bäumen liebte! Ich gieng auch heute Abend noch, am Ende der vorletzten Zeilen, mit meinem Oncle und meinen Kindern in den Wald. Ueber dem Graben an dem kleinen See fand ich in dem Dickigt Ihre Lieblingsbank, von welcher man, über die abhängende Grasplatte hin, den See und das anderseitige Ufer sehen kann. Dieser Platz weckte recht die Erinnerung an englische Gärten, und an Sie; aber ich sprach nur von den ersten, und lobte meinen Mann, daß er auf seinen Reisen so viel Gutes und Schönes sammelte, und es nun, zum Vergnügen seiner Freunde und dem Besten seiner Untergebenen, in sein Denken, seinem Umgang und seine Handlungen verwebt.

 

Sie wissen, man sieht von Ihrer Bank im Wäldchen das Dach des ersten Hauses, welches Cleberg in dem von ihm und durch seine Anstalt ausgetrockneten Sumpf erbauete. Die Weiden auf dem Damme sind vortreflich gewachsen, und haben immer ein freundliches Aussehen, indem er sie so setzen ließ, und auch das jährliche Behauen so anordnete, daß beständig eine Reihe voll Blätter bleibt, während die Aeste der zwei andern benutzt werden. Mein Oheim zeigte meinen Kindern aufkeimende Bäumchen, und lehrte sie verschiedene Moose kennen. Denn die kleinen Blümchen, welche wegen der Farben die Kinder immer am meisten locken, hatten sie schon gepflückt. Mein Oncle legte aber auch Blätter von allerlei Bäumen dazu, welche Carl aufheben und Trocknen lernt, damit sie ihm so bekannt werden, daß er gleich die Bäume darnach zu nennen weis. – Ueberhaupt sollen meine Kinder dieses Jahr mit allen möglichen Arten der Feld- und Gartenpflanzen unserer Gegend sich bekannt machen; und da Cleberg ohne anders unsere Nanny bei den Unterrichtsstunden der Knaben gegenwärtig haben will, wo sie auch Bellermanns Holzsammlung mit benutzen wird: so habe ich ihr eine artige Arbeit bestimmt: Sie soll im Zeichnen und Malen der Blumen so weit gehen, daß sie sich die illuminirten Kupferblätter von den Blüten, Saamen und Früchten dieser Holzsammlung auf holländisches Papier abkopire, und den Text der Beschreibung mit ihrer Handschrift dazusetze. So, denke ich, wird die Uebung dieser Talente zu einer nutzbaren und rühmlichen Vollkommenheit gebracht werden. – Mir habe ich auch eine Arbeit zu Stiftung meines Andenkens bei ihr vorgenommen: Zwölf Stühle und zwei Kanapees im Tapetenstich auszunähen, welche jede schöne Aussicht unseres lieben Seedorfs zeigen sollen. Cleberg wird die Zeichnungen dazu machen – und Sie glauben doch, daß nicht so bald ein schöneres Brautgeschenk gefunden werden sollte? Wie phantastisch! – werden Sie denken: Ein Brautgeschenk für ein Mädchen von vier Jahren zurecht zu machen! – Ach Liebe! wenn Sie wüßten, wie viele Hofnungen und Entwürfe bei den ersten Umarmungen eines Neugebornen in der Seele seiner Mutter erscheinen – wenn Sie die Zunahme dieser Hofnungen und Entwürfe bei dem ersten Lallen, bei den Blicken und Begierden nach Gegenständen um sie, bemerkt und berechnet hätten – o so würde Ihnen mein Geschenk für Nanny nicht so phantastisch vorkommen. –

 

Erinnern Sie sich, daß in einem artigen Dorf in Flandern, sobald ein Mädchen geboren ist, von dem Vater eine Anzal Bäume gepflanzt wird, welche sie mit zum Heurathgut bekommt. Wir lobten diese Gewohnheit – warum sollte die langsame Tapetennäherei zu der Ausstattung meiner vier Jahre alten Tochter zu tadeln seyn? Es gieng wohl noch eine andre Grille mit mir umher, welche ich, wie die erste, Ihrem Urtheil unterwerfe, während ich den Einfall zur Ausführung zu bringen gedenke.

Sagen Sie, liebe Mariane! ob es nicht schön wäre, die Blüten und Blätter unserer Bäume und Gesträuche in einer Einfassung von Stickerei nachzuahmen, so daß man einmal diese Einfassung bei einer einfarbigen Tapete gebrauchen könnte? Man mögte nun dabei meine für Nanny ausgenähten Stühle nehmen, oder, um ein zusammenstimmendes Ganzes zu machen, die Stühle und Kanapees mit Blumenbouquetten sticken. Aber wie weit hat die Phantasie der Mutterliebe mich verleitet, da ich doch in dem Wald selbst so viel mit Ihnen beschäftigt war, und mir vorsetzte, eine kleine Betrachtung über die Wälder abzuschreiben, welche ich so angenehm fand, und wobei mein Oncle selbst mich fragte, ob sie Ihnen wohl bekannt sey, da er, nach Lattens Erzählung von der Gegend Ihres jetzigen Aufenthalts, sich erinnerte, daß schöne Waldungen in der Nähe seyen, und Ihnen also der kleine Auszug gefallen würde. Der mir unbekannte Verfasser sagt:

»Was für sanfte und tröstliche Gefühle erweckt ein schöner Wald! Wollen wir nachdenken, so finden wir dort die Stille und Verschlossenheit. – Sind wir verfolgt, so bietet uns der Wald eine Zuflucht an. – In der Hitze findet man kühlende Schatten; haben wir Ruhe nöthig, so treten wir unter schön verbreiteten Aesten der Eiche weiches Moos zu einem Lager an; durstet uns, so werden wir schon durch die frische Luft des Waldes gelabt, und wir finden gewiß auch eine Quelle; im Hunger geben auch einige unter den vielen Bäumen und Gesträuchen etwas Nahrung. Wird uns die Stille unangenehm, so dürfen wir uns nur wenige Minuten ruhig halten, so werden die Stimmen von tausend Vögeln in kurzer Zeit zu unserer Gesellschaft ertönen.« –

Welch ein langer Brief, zu welchem mich der gute Schultheiß führte! – Und ich erinnere mich nun, daß Sie immer etwas von unsern Kindern wissen wollen. – Die meinigen gehen und hüpfen, dünkt mich, ihren Weg recht artig fort; denn der Himmel verhüte, daß wir ja nie fordern, daß sie unsere gemessenen Schritte nehmen sollen. – Ich fragte Julie nach ihren Kindern, und sie erzählte mir einen Auftritt, der Ott und seinem ältern Knaben eigen war. Sie erinnern sich des jungen Engländers, der nur das lernen wollte, was man ihm mündlich erzählte, und nie etwas annahm, was er aus Büchern bemerken sollte. Otts älterer Bube und das Mädchen wollen aus keinen Büchern lernen, die für Kinder geschrieben sind, und fordern, man solle sie andre Sachen lehren, als dies, was Kinder wissen. – Nach diesem Sinn sagte der kleine Ott seinem Vater: »Geben Sie mir das Buch, in welchem Sie lesen, ich mag das von den kleinen Buben nicht!« Ott gab ihm das Buch, aber es war Latein, da konnte der Junge nichts lesen, und brachte es wieder. Ott sagte ruhig: »Das ist wahr, die Sprache hast du noch nicht gelernt.« Nun fordert der eigensinnige Knabe ein großes deutsches Buch von seinem Vater. Er bekommt auch eins, und setzt sich hin, zu lesen. Ott läßt aber eines seiner Kleider und ein Paar von seinen Schuhen bringen. Indem hatte die Langeweile den Buben schon angewandelt, da er las, und nichts verstehen konnte. Nun muß er sich ausziehen, und den Rock und die Schuhe des Vaters anpassen, auch sich, alles Sträubens ungeachtet, hinsetzen und lesen. Nun fallen ihm die großen Schuhe von den Füßen, und seine Arme reichen nicht durch die Ermel des Kleids; doch muß er einigemal die Schuhe wieder aufheben, anziehen, und fortlesen. Anfangs lachte er; sein Vater blieb ruhig an seinem Schreibtisch; dann bekam der Bube Widerwillen an dem Buch, und Ungeduld über das Beschwerliche der weiten Kleidung. Ott sah nicht um sich, und seine Kinder wissen, daß, wenn er sie schon mit einem Buch um sich duldet, sie ihn nicht unterbrechen dürfen, so lange er die Feder in der Hand hat. Sie denken wohl, daß er diesesmal lange schrieb, und aufmerksam fortarbeitete, bis der Junge herzlich seufzte: »Ach Papa!« Mit Güte fragte Ott: »Fehlt dir was, August?« »Nein, Papa, ich bin nicht krank, aber Ihr Rock ist so schwer, und die Schuhe sind so gros, ich verliere sie immer, sehen Sie nur: Sie haben ja größere Füße als ich.«

»Das weis ich wohl; ich habe diese Kleider auch nicht getragen, wie ich so klein war als du bist: aber meine Kleider und meine Bücher gehören zusammen. Du willst keine Bücher, die für dich taugen; ich gab dir ein großes, und die Kleider dazu: nun sind dir diese beschwerlich! – Hat dir aber das Buch Vergnügen gemacht? Erzähle mir was davon!«

»Ach Papa! ich habe gelesen, aber ich verstehe nichts!«

»Wiederhole es noch einmal, vielleicht verstehst du dann etwas, und gewöhnst dich auch an den Rock.«

Mit diesen Worten fieng er wieder an zu schreiben, und der Bube mußte wieder schweigen und stille sitzen. Indem schlug aber die Stunde, wo Ottens Kinder immer vor dem Essen mit einander herumspringen. und August ergriff diese Gelegenheit, sich zu befreien.

»Papa! darf ich jetzo mit Salie in den Garten?«

»Ja gehe hin!«

»Aber geben Sie mir meine Schuhe und Rock, ich kann in diesen nicht gehen.«

»Ich glaube es. Wie steht es denn mit dem Buch?«

»Ach ich weis nichts daraus!«

»Das glaube ich auch, so wie ich nun weis, daß mein August viel später, als andre Jungen, gros und klug seyn wird, weil er ausser der Ordnung gehen will: denn jeder von den Kleinen, die du verachtest, wird mehr wissen und liebenswerther seyn, als du; sie werden besser wachsen und munterer seyn, weil sie Gottes Ordnung folgen, der dem Geist der Kinder, wie ihrem Leib, einen kleinen Anfang gab, und dann ihren Fleiß mit Kenntnis und Wachsthum segnet. Aber wer als Knabe die kleinen Bücher nicht liebt, wird die großen nie kennen lernen.« –

Nun war August beschämt und verwirrt, bat aber um seine Kleider, und versprach, in kleinen Büchern fleißig zu seyn; und Ott zeigte ihm die Reihe der Bücher, welche er durchgehen müsse, bis er das lesen könne, was er forderte.

Verzeihen Sie, liebe verdienstvolle Erzieherinn anvertrauter Kinder, diese Erzählung. Sie dient immer zu einem Merkstab, Kinder zu bemessen und zu leiten, wie auch über die verschiedene Art nachzudenken: wie Fehler der Kleinen und ihrer Führer zu berichtigen sind; denn so viel ich weis, ist ein Hofmeister bei Ihren Nepoten. August Ott ist durch die Langeweile und den Ernst des Vaters, ohne daß er eigentlich verspottet wurde, ganz geändert; denn das Mittel: Kinder auch durch Domestiquen ausspotten zu lassen – ist bei Anlage starker Charaktere gefährlich. – Adieu Beste! Mein Mann bringt Fremde in den Saal; ich muß gehen.


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