Artur Landsberger
Haß
Artur Landsberger

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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Wie Frau Ella das wahre Gesicht ihres Sohnes sah

Der alte Stoelping ging an diesem Abend seiner Frau aus dem Wege. Er wußte, daß sie aufsaß und voll Unruhe auf seine Rückkehr wartete; denn von dem Ergebnis dieser Unterredung hing für ihren Sohn – was sie mehr fühlte, als daß sie es wußte – viel, wenn nicht alles, ab.

Mit der Art, wie der Geheimrat und vor allem Ilse seine Eröffnung über Willis Herkunft aufgenommen hatte, war er zufrieden – und durfte es sein. Er berichtete telephonisch seiner Frau, sie könne sich ruhig schlafen legen, es habe sich alles ohne Verstimmung und leichter, als sie es erwartet hätten, erledigt. Ilse sei völlig ruhig, und sie solle es auch sein; auf ihn solle sie nicht warten, er bliebe in der Stadt und käme erst spät nach Hause.

Frau Ella atmete auf und zog, wie immer, wenn sie in guter Stimmung war, den alten Diener ins Gespräch und erzählte ihm, daß nun bald viel Leben ins Haus kommen werde.

»Dacht' ich's mir doch,« erwiderte der Diener, »daß irgend etwas im Hause vorgeht. Umsonst läuft doch der junge Herr nicht, statt zu schlafen, die halben Nächte lang in seinem Zimmer umher. Und während er früher, wenn ich des Morgens 'runter kam, meist schon an seinem Schreibtisch saß, schläft er jetzt so fest, daß er nicht wach zu kriegen ist.«

»Ist es möglich!« rief Frau Ella erregt. »Und das haben Sie mir nicht längst gesagt? Dagegen muß etwas geschehen; damit richtet er sich ja zugrunde.«

Der Diener lächelte.

»Gnädige Frau können unbesorgt sein, so sind alle Männer, wenn sie verliebt sind. Da wird nur immer gedacht und gedacht – zum Schlafen hat man da keine Ruhe. – Aber gegen Morgen, da ist man dann wie zerschlagen und stände am liebsten überhaupt nicht auf.«

Frau Ella hatte ihrem Diener zugehört, als wenn es die tiefste Weisheit wäre, die er zum besten gab. Längst quälten sie Zweifel, ob das Gefühl ihres Sohnes für diese Ilse auch wirklich tief genug für eine Ehe war. Ihr schien er stiller, ernster, in sich gekehrter als damals, als er mit seinen Gedanken bei Miß Harrison war. Freilich, wie schnell war das vorübergegangen! Fast zu schnell, so sehr sie es an sich gewünscht hatte. Und sie dachte damals, daß er in diesen Dingen doch recht oberflächlich, wenn nicht überhaupt eines tieferen Gefühls unfähig sei. Die schwere, versonnene Art, in der er jetzt umherging, als Liebe zu deuten, war ihr nie eingefallen. Und als der alte Diener jetzt sagte:

»Alles habe ich dem jungen Herrn zugetraut, aber daß er eines Tages sein Herz entdecken würde« – er schüttelte den Kopf –, »das habe ich nicht für möglich gehalten!«

Da dachte Frau Ella: Selbst er fühlt also, wie wenig Herz der Junge hat. Und weniger mit Rücksicht auf ihn als in Gedanken an Ilse Schott, deren nicht eben frohes Bild ihr Tag und Nacht vor Augen stand, ging sie jetzt trotz der späten Stunde am Arm des Dieners, den sie mehr stützte als er sie, zu ihm hinauf und blieb vor der Tür seines Arbeitszimmers stehen. –

Stoelpings Zimmer war halbdunkel, auf dem Schreibtisch, der einem Riesenberg von Akten glich, brannte eine elektrische Lampe. Die Fenster waren geschlossen, die schweren Vorhänge zugezogen. Stoelping saß, über die Akten gebeugt, las und blätterte; hin und wieder macht er sich Notizen. Aber schon nach ein paar Augenblicken lehnte er sich in seinen Sessel zurück, stützte den Kopf in die Hand, vergaß die Akten und dachte an Ilse. Oft zehn Minuten lang, bis er sich gewaltsam aus seinen Gedanken riß, sich wieder nach vorn über die Akten beugte, verzweifelt den Kopf schüttelte und ein anderes Aktenstück aufschlug. Das wiederholte sich einmal, ein zweites Mal und in Abständen, die immer kürzer wurden, stets von neuem, bis er sämtliche Akten schließlich beiseite schob, aufsprang und im Zimmer umherging.

Seine Karriere retten, ohne Ilse zu opfern – das war der eine und einzige Gedanke, der ihn fortgesetzt beschäftigte und ihn zu jeder anderen Arbeit unfähig machte.

Erwägungen diplomatischer Art gab es in Fülle, aus denen man einen politischen Prozeß, der, ohne Unruhe und Aufsehen zu erregen, nicht zu führen war, unterdrückte, wenn man seines Ausgangs nicht sicher war. Diese Erwägungen in geschickte Form zu kleiden, fiel ihm nicht schwer. Er brauchte den Stellen, die für ihn in Frage kamen und Bedeutung hatten, nicht einmal die Erfolge seiner Untersuchung zu verheimlichen. Er konnte sie bis ans Ende aufzählen, sie in ein für ihn günstiges Licht rücken und ausführen, daß ihm der Beweis beinahe restlos, jedenfalls aber so weit wie überhaupt nur möglich gelungen sei. Ob freilich der Rest der Arbeit, der nicht ihm, sondern dem Gericht in der öffentlichen Verhandlung vorbehalten blieb, von diesem auch wirklich geleistet werden würde, entzog sich seiner Beurteilung. Um das zu beantworten, müsse er nicht nur den Geist der Kammer kennen, sondern auch die Zusammensetzung der Geschworenenbank. Und wenngleich er mit ziemlicher Sicherheit einen Erfolg verbürgen könne, so sei doch zu erwägen, ob es angesichts der Nachteile eines immerhin möglichen Freispruchs, die in keinem Verhältnis zu dem Vorteil einer Verurteilung ständen, politisch nicht klüger wäre, eine Affäre, an die kein Mensch mehr dachte, ruhen zu lassen. Und nun folgten die politischen Erwägungen, auf die er seinen ganzen Scharfsinn verwandte, und die ihm den willkommenen Anlaß gaben, seine diplomatischen Fähigkeiten ins Licht zu rücken.

Nach zwei Tagen und drei Nächten, die er auf diese Arbeit verwandte, hatte er nun das bestimmte Gefühl, daß sie ihm gelungen war. Und er schloß sein Exposé mit den Worten:

»Nach alledem erfordert es die politische Klugheit, den Beklagten, ohne Rücksicht auf die geleistete Arbeit und das zusammengetragene Material, wenn er auch noch so schwer belastet erscheint, auf Grund mangelnden Beweises außer Verfolgung zu setzen.«

Seit vorgestern lag das Exposé, das über zwanzig Oktavseiten stark war, auf seinem Schreibtisch. Gestern schon wollte er damit zum Minister. Er hatte das Schriftstück schon in der Tasche – in der Haustür kehrte er um, ging wieder auf sein Zimmer, schloß sich ein, las und änderte, gab sich Rechenschaft über den Eindruck, entschied sich wieder für die erste Fassung, und wenn er es dann in ein Kuvert getan und sich eine Zeitlang gezwungen hatte, an etwas anderes zu denken, dann schoß ihm plötzlich der Gedanke durch den Kopf, das Schriftstück zu zerreißen und alles seinen natürlichen Gang gehen zu lassen.

Er sah seinen Aufstieg vor sich, fühlte sich schon in der Rolle, die er im politischen Leben spielen würde; er stellte sich vor, wie er die Kollegen ausstach und schließlich auch den Minister in den Schatten stellte, um dann eines Tages an seine Stelle aufzurücken. Er besaß das Zeug dazu, er wußte es; die Fähigkeiten und auch die Rücksichtslosigkeit, ohne die sich selbst das starke Talent nicht durchzusetzen vermochte. Und es gab dann Augenblicke, in denen er nicht begriff, daß er auf diese Chance ohne Not verzichten sollte.

In dieser Stimmung ging er eben wieder in seinem Zimmer umher und quälte sich, als die Tür, die heute unverschlossen war, aufging und Frau Ella zu ihm ins Zimmer trat.

Stoelping erschrak.

»Was ist?« fragte er, »daß du so spät noch . . .«

»Es ist nichts,« beruhigte sie ihn. »Ich bin allein und wollte dir, bevor ich schlafen gehe, nur gute Nacht sagen.«

Aber Stoelping sah ihr an, daß sie beunruhigt war.

»Wo ist Vater?« fragte er.

»Er ist in der Stadt geblieben. Weshalb weiß ich nicht, auch nicht, mit wem er zusammen ist. Ich weiß nur, daß er nachmittags bei Schotts war . . .«

»Wie?« rief Stoelping interessiert und völlig verändert, »bei Schotts? Warum? Was wollte er da? Was ist mit ihnen? Hat er Ilse gesprochen?«

Frau Ella lächelte zufrieden. Mehr als alle Worte zeigte ihr diese Erregung, wie sehr das Herz ihres Sohnes an dieser Ehe hing.

»Bist du so ungeduldig, es zu erfahren?« fragte sie und sah ihn gütig an.

»Ich bitt' dich,« drängte Stoelping, »wenn irgend etwas sich ereignet hat – nicht wahr, das siehst du ein –, ich muß es doch wissen – ich zuerst. – Wenn sie etwa aus irgendeinem Grunde – man kann ja nicht wissen – vielleicht, daß sie es sich überlegt hat – sie ist ja Herr ihrer Entschließungen – aber ich habe ihr Wort – und wenn sie nicht glücklich ist, nicht wahr, Mutter, so kann sie's doch werden – du mußt ihr das sagen – ich will auch auf alles andere verzichten. Und wenn es vielleicht auch Stunden gibt, wie eben wieder, bevor du kamst, in denen ich anders denke – ich gebe es zu – dagegen kann ich nicht an – es sei denn durch sie. – Siehst du, Mutter, das ist es: in dem Gedanken an sie, da bin ich plötzlich ein anderer Mensch – und fühle, wie du und Vater und ihr alle fühlt – und nicht wie sonst, so häufig, daß ich über mich selbst erschrecke und mich oft schäme und mir sage: warum bist du so und nicht anders!«

»Aber mein Junge,« sagte Frau Ella begütigend und suchte ihn zu beruhigen, »was sind das für Reden! Du arbeitest zuviel, du bist überreizt, du mußt dir mehr Ruhe gönnen. Du machst dich sonst krank.«

»Das wird ja alles anders! verlaß dich darauf – wenn sie erst bei mir ist. Aber erst beruhige mich, Mutter, und sage mir, daß nichts geschehen ist – oder weißt du was? – Hat sich irgend etwas geändert seit gestern?«

»Aber nein!« versicherte Frau Ella, »ich weiß nichts, und ich glaube auch nicht, daß sich was verändert hat.«

Und sie stand vor ihrem Sohn und sah ihn nur immer an und war starr und sprachlos über die Wandlung, die in ihm vorging.

»Aber ruhiger mußt du werden. Weniger Ehrgeiz mußt du haben! Warum muß denn bei dir alles immer schneller gehen als bei anderen Menschen? Zu einem ruhigen, inneren Genießen läßt du es überhaupt nicht kommen. Als ob darin das Glück läge, anderen den Rang abzulaufen und überall der Erste zu sein.«

»Ich bin auf dem Wege dahin, glaub' es mir, Mutter. Das wird nun alles anders werden.«

»Solange du bei uns warst, da ging das; Eltern haben keinen Anspruch auf ihr Kind, wenn es erwachsen ist und in seinem Beruf aufgeht. Aber von dem Augenblicke an, wo du heiratest, da gehört es sich, daß du auch Zeit für deine Frau hast, auch wenn du dadurch ein paar Jahre später dein Ziel erreichst.«

»Und wenn ich es gar nicht erreiche!« erwiderte Stoelping, »ich sagte es ja: ich würde gern auf alles verzichten, wenn ich nur wüßte, daß wir dafür glücklich werden.«

»Wenn ihr euch liebhabt, warum zweifelst du daran?« fragte Frau Ella.

»Meinst du, Mutter, daß es davon abhängt? Glaubst du nicht, daß man auch, ohne sich liebzuhaben, zufrieden sein kann?«

»Menschen in eurem Alter?« sie schüttelte den Kopf, »nein! das glaube ich nicht. Aber wie kommst du auf die Frage? Bei euch trifft das doch hoffentlich nicht zu?«

»Gewiß nicht!« erwiderte Stoelping. Und da Frau Ella sich damit nicht zufrieden gab, so setzte er hinzu: »Ich hätte ebensogut fragen können, ob darin, daß man sich liebhat, eine Gewähr liegt, daß man glücklich wird.«

»Liebes Kind,« gab Frau Ella zur Antwort, »in dem, was ich unter Liebe verstehe und von dem Tage an, an dem ich die Frau deines Vaters wurde, darunter verstanden habe, darin scheint mir allerdings eine zuverlässige Gewähr zu liegen, daß man den anderen glücklich macht und selbst glücklich wird.«

»Und was ist das?« fragte Stoelping, »was verstehst du unter solcher Liebe?«

»Das läßt sich schwer sagen, mein Junge, das hat man im Gefühl.«

»Versuch's!« drängte Stoelping seine Mutter.

»Nun, vor allem: dem anderen alles zuliebe tun; darin liegt, scheint mir, das Beste von dem, was man Liebe nennt. Aufrichtig sein und die Kraft haben, Opfer zu bringen, also selbstlos sein! Frage dich, den ich immer für einen Egoisten gehalten habe, ob du glaubst, daß du das könntest.«

Stoelping wurde nachdenklich.

»Alles dem anderen zuliebe tun!« wiederholte er halblaut vor sich hin, »die Kraft haben, Opfer zu bringen – und das, meinst du, wäre ein Prüfstein?«

»Wenn du glaubst, daß du das kannst,« wiederholte Frau Ella, »dann hast du ein Recht auf sie und kannst mit ruhigem Gewissen in ihr Schicksal eingreifen.«

»Und wenn ich das nicht kann?« sagte er nachdenklich, »wäre damit gesagt, daß ich sie nicht glücklich mache?«

»Wenn sie dich sehr liebhat, und du sie sonst nicht kränkst, – vielleicht, daß sie dann doch bei dir ihr Glück findet. Ein anderes freilich, als ich mir denke.«

»Und du als Mutter, was wirst du mir raten,« drang er jetzt mit großer Bestimmtheit in Frau Ella, »wenn ich dir sage, daß ich sie zu meinem Leben einfach brauche, weil sie die einzige ist, bei der ich die Kraft aufbringe, mich von meinen schlechten Trieben freizumachen, gegen die ich ankämpfe, seitdem ich denken kann, und die mir zusetzen, Mutter, und mich quälen und mich vor mir selbst erniedrigen. Ich kann es dir nicht beschreiben, wie – ohne daß ich die Kraft habe, sie zu unterdrücken!«

»Großer Gott! mein armer Junge!« rief Frau Ella entsetzt und außer Atem. »Das ist ja furchtbar! das trifft ja nicht dich, das trifft ja uns! deinen Vater und mich! Wir sind die Schuldigen!«

»Höre mich zu Ende, Mutter. Niemanden trifft die Schuld, weder euch noch mich; so eben bin ich nun einmal; und so geht es mir. Du weißt es nun. Und nun stell' dir vor, daß ich mürbe von all den Kämpfen und verzweifelt plötzlich sehe, daß es eine Rettung gibt: Ilse! – Du als Mensch und Mutter sage mir –« und er faßte sie um die Gelenke, hielt sie fest und sah ihr in die Augen. »Darf ich mich retten, auch wenn ich weiß, daß sie mich nicht liebt, und daß ich sie nicht glücklich mache!?«

Frau Ella hatte das Gefühl, als zöge man sie für ein schweres Verbrechen zur Verantwortung. Ihr war, als müßte sie es laut hinausschreien, daß sie schuldig sei. Hilflos sah sie zu ihrem Sohne auf, der noch immer ihre Arme festhielt und bettelte:

»Rate mir, Mutter, was soll ich tun? Darf ich mich retten?«

Frau Ella starrte ihn an. Ihre Augen standen unbeweglich. Sie sagte nichts. Langsam bewegte sie den Kopf – hin und her.

Nein! – nein! hieß das. Du darfst es nicht.

Da ließ er sie los, warf sich auf die Chaiselongue, vergrub sein Gesicht in die Kissen und schluchzte laut.

Frau Ella trat lautlos an ihn heran. Sie legte ihre Hand auf seinen Kopf und dachte: Es ist das erstemal, daß ich ihn weinen sehe.

 


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