Artur Landsberger
Haß
Artur Landsberger

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Achtzehntes Kapitel.

Wie der junge Stoelping eine Verbindung mit Ilse herstellte.

In den nächsten Tagen war Stoelping in mehreren Prozessen beschäftigt und hatte daher keine Zeit, über die Fortführung seiner Untersuchung »in Sachen Hempel« nachzudenken. Auch aus taktischen Gründen rührte er nicht daran und sah wohlbedacht auch von jeder weiteren Vernehmung Hempels ab. Dagegen ließ er Ilse Schott, die schon am nächsten Morgen um eine Unterredung mit Hempel bat, die der Referendar ihr in Abwesenheit Stoelpings verweigern mußte, zu sich bitten, entschuldigte sich, daß er in der Fülle der Geschäfte vergessen habe, dem Referendar Anweisungen zu geben – in Wahrheit hatte er es absichtlich unterlassen – und bat sie, sich so oft sie wolle, und wenn sie das Bedürfnis dazu fühle: alle Tage, an ihn zu wenden. Auch wenn es sich um etwas anderes als gerade um einen Besuch bei Dr. Hempel handle, stehe er ihr jederzeit mit Auskunft und Rat zur Verfügung.

Ilse vergaß in solchen Augenblicken, daß Stoelping der Gegner Hempels war – so faßte Stoelping wenigstens die Situation, die sich ohne sein Zutun erst verschob, als sein Interesse für Ilse merklich zunahm. Da kam es denn vor, daß er eines guten Eindrucks auf Ilse wegen dann und wann sogar auf Chancen verzichtete, die sich ihm Hempel gegenüber boten. Und Ilse empfand dann beinahe freundschaftlich für Stoelping, der einen Händedruck oder dankbaren Blick in solchem Falle für Zuneigung nahm.

Dreimal war Ilse in dieser Woche bei Hempel gewesen. Der hatte dann möglichst vermieden, von sich zu sprechen. So oft sie anfing, sein Schicksal zu behandeln, hatte er ihr versichert, daß er sich mit allem abgefunden habe und zufrieden sei. Die Größe, die sie in diesen Tagen aufbringe, die Ruhe und Entschlossenheit, mit der sie ihm zur Seite stände, mache ihm sein Los zu einem Martyrium, das er stolz trage, ja nicht einmal mehr missen möchte. Wäre sie anders, brächte sie die Kraft nicht auf, und würde er sehen, daß sie unter seinem Schicksal zusammenbräche, er wäre verzweifelt. Aber die Sicherheit und Ruhe, mit der sie sich in Unabwendbares schicke, stehe ihm immer vor Augen und lege sich wie ein ewiger Frieden über seine Seele. So kröne ihre Liebe das Werk, für das er gelebt habe und nun, wenn es sein müsse, gern alles auf sich nähme.

Das etwa war der Sinn seiner Worte, mit denen er sie zu beruhigen suchte.

Den Ausbruch ihres Schmerzes sah er nicht! Wenn sie zu Haus vor seinen Briefen oder seinem Bilde, wie vor den Erinnerungen eines Toten saß und laut aufschrie, oder wenn sie vor ihrem Bette kniete und die gefalteten Hände ineinander preßte und betete:

»Gib mir auch morgen wieder die Kraft, Gott, nur die eine Stunde, die ich bei ihm bin. Nachher, da will ich alles leiden, nur ihn laß nicht sehen, wie ich mich quäle.«

Und jeden Tag, wenn sie zu ihm ging, nie ohne eine Blume, war es ihr, als wenn sie einen Toten besuchte. Sie stand und zitterte und biß die Zähne aufeinander und redete sich zu. Aber jedesmal, wenn sich die Tür auftat, hatte sie das Gefühl, als öffne sich ein Grab; ihr wurde schwarz vor den Augen, sie zitterte, und der Referendar stützte sie dann immer und legte sie Hempel in die Arme; dann erst ging er.

Sie tastete dann mit ihren Händen seinen Körper ab, als wollte sie sich überzeugen, daß er lebte; dann schlang sie die Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn. Er sprach starke, mutige Worte, und sie hörte ihm zu; es dauerte nicht lange, dann war alles still und ruhig in ihr. Und die starke Zuversicht und Ruhe, die von ihn ausging, wirkte in ihr nach; oft Stunden lang, in denen sie ruhig und beinahe heiter war.

In der Verfassung sah sie meist Stoelping, der ihr immer, wenn sie von ihrer Begegnung mit Hempel kam, auf dem Flur oder unten in der großen Halle begegnete und sie ins Gespräch zog.

Eines Tages kam Ilse gerade hinzu, als Stoelping einen älteren Mann, der um Strafaufschub bat, weil Frau und Kind sonst hungern müßten, hart anfuhr:

»Das kümmert uns nicht! Sie treten morgen an, sonst werden Sie geholt!«

»Darf man wissen, was der arme Sünder verbrochen hat?« fragte sie.

Stoelping, der sie nicht hatte kommen sehen, war im ersten Augenblick verlegen:

»Sie sind's, mein Fräulein!« sagte er, wandte dem Mann den Rücken und reichte ihr die Hand.

»Darf man's nicht wissen?« wiederholte Ilse.

»Aber ich bitt' Sie,« erwiderte Stoelping, »seien Sie froh, daß Sie sich mit dem Schmutz nicht zu befassen brauchen. – Ich hätte Sie übrigens gern einen Augenblick gesprochen.« – Dann wandte er sich zu dem alten Mann und sagte:

»Also verstanden, morgen früh!«

Ilse ließ Stoelping stehen und ging auf den Mann zu.

»Auf wie lange müssen Sie von Hause fort?« fragte sie.

Der alte Mann verstand sie nicht.

»Ein Jahr? – Sechs Monate? – oder wie lange?« fragte Ilse.

»Acht Monate, dabei bin ich . . .«

Stoelping war hinzugetreten.

»Aber so lassen Sie doch!« bat er Ilse.

Sie achtete nicht auf Stoelping, bat den Mann um Namen und Adresse und sagte in freundlichem Tone:

»Sie können morgen in aller Ruhe Ihre Strafe antreten; für Ihre Frau und Ihr Kind wird gesorgt, bestens gesorgt! Sie können beruhigt sein!«

Sie reichte ihm die Hand. Dem Alten traten die Tränen in die Augen. Er wollte ihr die Hand küssen, aber sie zog sie zurück.

»Aber das nächste Mal, da geschieht nichts! da gehen Frau und Kind elend zugrunde! Also bessern Sie sich!«

»Mein Wort!« rief der Alte, »ich – ich bessere mich! – Nie wieder rühr' ich was an, was mir nicht gehört! schon – schon –« und er wies schluchzend auf Ilse – »Ihretwegen nicht –« und man las förmlich in seinen Augen, wie dieser Vorsatz sich in ihm festsetzte.

»Sie wollten mich sprechen?« wandte sich Ilse jetzt an Stoelping.

»Wenn Sie auch für mich einen Augenblick übrighaben?« sagte er gekränkt.

»Aber gewiß! nur schien mir, daß mich dieser Ärmste im Augenblick nötiger brauchte.«

Sie gingen in Stoelpings Arbeitszimmer.

Auf Stoelpings Aufforderung setzte sich Ilse, dann nahm auch er Platz.

»Ich habe eine Bitte,« begann Stoelping.

»Sie ist von vornherein erfüllt, falls es in meiner Macht steht.«

»Sie sind sehr gütig,« erwiderte Stoelping.

»Ich schulde Ihnen so viel Dank, daß ich über jede Gelegenheit froh bin, die sich mir bietet.«

Er wehrte ab.

»Nicht aus Dankbarkeit, wenn ich bitten darf –« sagte er, »was ich will, ist einfach ein Appell an Ihr gutes Herz.«

Ilse zuckte leicht zusammen; ihm entging das nicht, absichtlich wiederholte er:

»Ich möchte Ihr gutes Herz gern in den Dienst einer guten Sache stellen.«

»Bitte!« sagte Ilse.

»Es gibt einen Fürsorgeverein für entlassene Strafgefangene.«

»Ich kenne ihn!« erwiderte Ilse.

»Um so besser! Mein Vater ist Vorsitzender des Vereins, ich bin sein Schriftführer. Aus Gründen, die nichts zur Sache tun, habe ich die Schriftführerin der Abteilung für weibliche Strafgefangene ersucht, ihr Amt niederzulegen. Es erfordert große Umsicht und viel Liebe zu den Menschen – beides haben Sie; wollen Sie mir die Freude machen und das Amt übernehmen? Ich biete es Ihnen hiermit in aller Form an.«

Ilse, die nicht ahnte, daß die Schriftführerin noch im Amte war, und daß Stoelping erst, wenn er Ilses Zustimmung hatte, irgendeinen Vorwand für ihre Amtsenthebung suchen würde, überlegte nicht lange, sondern stimmte freudig zu.

»Sie machen mir mit Ihrem Anerbieten eine Freude, eine große Freude. Und wenn Sie glauben, daß ich imstande bin . . .«

»Ich bin davon überzeugt.«

»Und wenn mein Vater nichts dagegen hat . . .«

»So viel ich weiß, ist Ihr Herr Vater einer der wohltätigsten Männer Berlins.«

»Das ist er, und er ist sehr glücklich, daß ich darin mit ihm so gleich fühle und in vielen seiner Vereine tätig bin. Nur ist er stets in Sorge, ich könnte mich überanstrengen. Ich rede ihm das ja meist aus und sage immer, eine Arbeit, die einem Freude macht, strengt nicht an. Aber ich bin eben sein einziges Kind – Mama lebt auch nicht mehr – da ist es natürlich, daß er ständig in Angst um mich lebt.«

»Ich glaube, Ihr Herr Vater wird Ihnen unter den augenblicklichen Verhältnissen die Bitte, nicht abschlagen.«

»Gewiß nicht,« erwiderte Ilse, »und was mich betrifft, so erkläre ich mich vorbehaltlich seiner Zustimmung gern bereit.«

Sie stand auf und reichte ihm zum Zeichen ihres Einverständnisses die Hand; er schlug ein, und indem er ihre Hand wohl etwas intensiver als nötig drückte, sagte er:

»Sie wissen gar nicht, wie glücklich mich das macht, daß Sie nun mit mir arbeiten werden.«

Ilse zuckte leicht zusammen und entzog ihm die Hand.

»Wieso mit Ihnen?« fragte sie erstaunt. »Ich tue es der Sache wegen, weil ich Mitleid auch mit Menschen habe, die mal straucheln.«

»Ich weiß es!« erwiderte Stoelping. »Auch dieser Menschen wegen freue ich mich; denn – ich sagte es schon einmal – ich kenne Ihr gutes Herz.«

»Woher sollten Sie wohl mein Herz kennen?« fragte sie nicht gerade freundlich.

»Soll ich es Ihnen sagen?« fragte Stoelping.

»Ich bitte.«

»Gestern mittag, als Sie von hier kamen, hatte ich Gelegenheit, Sie zu beobachten.« Ilse wich unwillkürlich einen Schritt zurück. »Sie gingen etwa zwanzig bis dreißig Schritte vor mir. An der Ecke der Emser und Baruther Straße war ein Auflauf. Sie erinnern sich. Irgendeine Frau hatte aus der Auslage eines Gemüseladens einen Kopf Kohl oder etwas Ähnliches entwendet und sollte verhaftet werden. Sie legten sich ins Mittel, zahlten, wahrscheinlich das Zehnfache des Preises, und sorgten dafür, daß man die Frau unbehelligt ließ.«

»So lassen Sie das doch!« wehrte Ilse ab. »Ich kann nicht leiden, wenn andere Leute sehen, was ich tue.«

»Einer guten Handlung braucht sich niemand zu schämen,« erwiderte Stoelping.

»Aber breitzutreten braucht man sie noch weniger.«

Sie verabschiedete sich höflich und ging.

Stoelping stand noch lange in Gedanken. Je öfter er Ilse sah, um so stärker empfand er, daß er sich, wenn er in seinen Gefühlen überhaupt noch wandlungsfähig war, dann nur unter der Einwirkung dieser Frau ändern würde.

 


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