Artur Landsberger
Haß
Artur Landsberger

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Zwanzigstes Kapitel.

Wie Ilse von Dr. Hempel Abschied nahm.

Als Ilse am nächsten Tage bei Günther war, sagte sie:

»Ich komme heute zum letzten Male!«

Er sah sie an und schwieg. Nach einer Weile nickte er und sagte:

»Das ist recht von deinem Vater, daß er mit dir fortgeht.«

»Das ist es nicht,« erwiderte Ilse. »Auch denke nicht etwa, weil ich nicht mehr die Beherrschung aufbringe. Ich bin ganz ruhig, seitdem ich fühle, daß ich dir auch jetzt etwas sein kann. Von Tag zu Tag bin ich ruhiger geworden. Und nun gar, seitdem ich weiß, daß du zufrieden bist, ist es ganz still in mir geworden. Das sollst du wissen, Günther, und es mir glauben.«

»Ich glaube es dir. Und doch habe ich dir schon alle Tage sagen wollen, du solltest deinen Vater bitten, irgendwohin, weit fort mit dir zu gehen, wo du möglichst nichts hörst von dem, was hier vorgeht. – Sieh mal, zu wissen, daß ich ganz ruhig und zufrieden bin und bis zur letzten Stunde durch dich glücklich war, das muß auch dich glücklich machen. Alle Tage nahm ich mir vor, es dir zu sagen und redete mir zu und bin weiß Gott doch nicht schwachmütig. – Aber glaubst du, ich brachte es fertig? Immer sagte ich mir: das nächste Mal. – Siehst du, Ilse, darum ist es gut, daß du nun kommst und es mir sagst. Deinetwegen. Aber auch für mich. Es wird doch leichter für mich sein, dich fort zu wissen.«

»Wenn es dich erleichtert, – du weißt ja, Papa tut alles, um was ich ihn bitte. Wir sprechen jetzt zwar nicht viel miteinander; aber wir verstehen uns doch. Und daß ich so sein kann, wie du mich siehst, Günther, danke ich nur ihm. Merkwürdig aber, es ist, als wenn er in jedem Augenblick wüßte, was ich fühle. Was er dann sagt – oft ist es nur ein Wort –, aber es hat immer den Ton, der mir gut tut.«

»Ja, darauf kommt alles an im Leben zweier Menschen, den Ton zu finden, in dem der andere fühlt. Dazu gehört ein so feines Gefühl, daß selbst die Liebe es nur selten aufbringt. Denn wo das ist, da muß alles, auch das Kleinste, ineinanderstimmen. Und so, Ilse, war es bei uns.« – Er beugte den Kopf zur Seite und sah sie nicht an. – »Wenn ich wüßte, du könntest das noch einmal finden, – Ilse! wenn ich dich glücklich wüßte! – Versprich mir, daß du dem Zufall nicht ausweichst, wenn er sich dir noch einmal bietet. Es gibt mehr Menschen wie ich. – Ein Mann, der dich glücklich macht, glücklich in dem Sinne, in dem wir es fassen, für den opferte ich selbst die Erinnerung an dich, die ja doch das einzige ist, was mir nachher bleibt, wenn ich hinter diesen Mauern sitze.«

»Ich kann es dir ruhig versprechen,« erwiderte Ilse, »denn was du sagst, kann es nicht geben. Dazu müßte ich erst ein anderer Mensch werden.«

»Das sollst du nicht,« erwiderte Günther.

Ilse drückte ihm die Hand.

»Auch darfst du nicht glauben, daß es Papas Wunsch ist, wenn ich heute zum letzten Male bei dir bin.«

»So?« sagte er erstaunt, »ich nahm es an und fände es nur natürlich, wenn es so wäre.«

»Nein, das hätte Papa nie von mir verlangt; heute so wenig wie in Jahren. Auch wenn er es sich vielleicht wünschte, daß ich irgendwann einmal darüber hinwegkäme.«

»Dann ist es also dein eigener Wille, und du tust es aus Rücksicht auf mich? – meiner Ruhe wegen?«

»Nein,« sagte Ilse, »ich habe nicht an dich dabei gedacht, oder doch nicht in erster Linie. Aber jetzt sehe ich, wie schlecht das von mir war; denn ich hätte es mir längst sagen müssen, daß es für dich besser wäre. Du brauchst deine Energie und darfst sie jetzt – jetzt am allerwenigsten – auf mich verschwenden. Denn ganz so stark bist du wohl nicht und so in dein Schicksal ergeben wie während der Stunde, in der wir zusammen sind. Ich fühle ja, was es dich kostet an Kraft und Nerven.«

Und sie mußte daran denken, daß sie ja selbst den ganzen Tag über und die halbe Nacht nichts weiter tat als sich auf diese eine Stunde vorbereiten.

Günther schwieg. Nach einer Weile sagte er:

»Da du es fühlst, so will ich nicht widersprechen. Ja! es ist wie du sagst. Wenn du nicht wärst, fiele es mir leicht, mich in mein Schicksal zu ergeben und Verzicht zu leisten. Mit allem habe ich mich abgefunden, selbst mit dem Kummer meiner alten Mutter! Sie hat ihr Leben hinter sich – und glaubt an Gott! – Aber das Leben vor sich und das Glück in Händen haben, wie ich, so greifbar vor sich« – und er streckte die Arme nach ihr aus – »Gott im Himmel ja, ich bringe die Kraft nicht auf, es leicht zu nehmen.«

»Zwing' dich nicht! laß dich gehen!« bettelte Ilse und schlang die Arme um seinen Hals. »Beherrsch' dich nicht länger! gib dich wie du bist. Ich bin nicht schwach, Günther, ich ertrag's – und dann denke: ich habe ja so viel Zeit – und kann mich schonen – und habe den Vater, der für mich sorgt – und deine Mutter, die mich tröstet, alle Menschen habe ich – und du hast nichts! Niemanden! als nur mich! und mich zum letzten Male!« – sie nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände und drückte ihn an sich –, »so, wein' dich aus, Günther, sieh, wir sind gewiß immer stark und hart mit uns gewesen und haben uns nie wie verliebte Leute gebärdet – laß dich einmal gehen! ein einziges Mal wollen wir weich mit uns sein! und unseren ganzen Jammer hinausschreien!«

Da zwang sich Günther nicht länger, schmiegte sich fest an Ilse und schrie seinen Schmerz heraus! Sie lagen sich in den Armen und schluchzten – und sahen nicht, wie Stoelping, der an einem angelehnten Fenster der Halle stand und alles mit anhörte und alles mit ansah, ihnen jetzt den Rücken wandte, mit der Hand ein paar Tränen aus den Augen wischte und in starker Erregung hinten im Gange verschwand.

»Was geht nur mit mir vor?« sagte Stoelping vor sich hin, als er seine Tränen bemerkte und fühlte, daß er sich schämte, sie belauscht zu haben.

»Nein! diese Menschen!« sagte er laut vor sich hin und schloß sich in sein Zimmer ein. –

Draußen in der Halle lagen sich Ilse und Günther noch immer in den Armen.

»So!« sagte Günther nach einer Weile, nahm Ilse bei beiden Händen und sah ihr fest in die Augen: »Und nun werden wir noch mal so stark sein!«

»Ich bin es!« erwiderte Ilse.

»Und darum sollst du nun, ehe du von mir gehst, alles wissen – auch das letzte. Höre alles an und erwidere nichts. Du wirst es im Augenblick nicht übersehen und es daher vielleicht morgen anders beurteilen als heut. Ob du es dann billigst oder verwirfst – auf alle Fälle wirst du es begreifen, und das ist alles, was ich will! – Dann habe ich keinen Wunsch mehr. Also höre!

»Ich habe dir viel von dem Friedensbund erzählt und von seinen Erfolgen seit seiner Gründung im Jahre 1916. Seine größten Erfolge sind nach außen nicht in die Erscheinung getreten, wenigstens nicht als Werk des Bundes, wenn die Segnungen seines Wirkens auch Millionen Menschen zugute kommen. Der Bund hätte seine Methode preisgeben müssen und hätte sie damit für alle Zukunft ihrer Wirkung beraubt. Was die über die ganze Erde verbreiteten Riesenorganisationen des Friedens zutage fördern, ist nichts als Theorie; die Arbeiten, Schriften, Beschlüsse und Veranstaltungen all der unzähligen Vereine, der parlamentarischen Konferenzen, des Internationalen Friedensbureaus, der Gesellschaften der Friedensfreunde, die Liebesbeteuerungen Besuche machender und Besuche erwidernder Monarchen, die Friedensreden der sie begleitenden Minister, die Freundschafts- und Verbrüderungsschwüre wallfahrender Korporationen von Industriellen, Parlamentariern und Oberlehrern, – das alles mag ein amüsanter Zeitvertreib für die Beteiligten sein; aber alles, was dabei herauskommt und was damit erreicht wird, das ist in dem Augenblick, wo es zwischen zwei Völkern zu einem ernsten Konflikte kommt, von der Riesenwoge nationaler Begeisterung hinweggefegt wie ein Strohhalm.

Auch aus Barmherzigkeit, wie Christus wollte, wird der ewige Friede nie zustande kommen. Denn die Unbarmherzigkeit der Menschen hat mit dem Wachsen des Kapitalismus, der die nächsten Jahrhunderte die Welt regieren wird, Schritt gehalten. Die Religion der Barmherzigkeit aber ist die Religion der Armut. Mit ihr also ist es für heute und morgen und für die nächsten Jahrhunderte nichts. Hingegen hat in demselben Maße, in dem die rohe Gewalt im Werte gesunken ist, die Achtung vor der Macht des Geistes zugenommen. Und das ist der Gedanke, von dem der Friedensbund ausgeht. Denn warum soll der Satz, der längst für den einzelnen gilt: Es ist widersinnig, die Entscheidung über strittige Punkte der Kraft der Muskeln zu überlassen! nicht eines Tages auch für ganze Völker gelten? Die Welt ist ja nicht nur von Gurkhas, Hindus und Engländern bevölkert. Diesen Zeitpunkt beschleunigen helfen, nicht etwa ihn herbeiführen, ist die Aufgabe des Friedensbundes, wie er nach außen in die Erscheinung tritt.

Für ein solches Programm aber hätte ich nie meinen Beruf aufgegeben, nie meine Kraft, geschweige denn mein Leben eingesetzt. Aber es gibt neben diesem Bunde eine Gemeinschaft, die nur die wenigen kennen, die zu ihr gehören. Sie hat keinen Namen und keine Gesetze und besteht eigentlich nur durch den Willen und die Herzen weniger, die eine große Liebe für die Menschen und ein großes Mitleid mit ihren Schmerzen haben. Barmherzige Brüder könnte man sie nennen, wenn nicht der Wille zur Tat in ihnen so stark wäre, daß sie vor nichts, selbst vor dem Äußersten nicht zurückschrecken, wenn es gilt, der Menschheit zu helfen.

Sieh, jeder Gedanke, wenn zu seiner Ausführung später auch Millionen gehören, ist in dem Kopf eines Menschen entstanden. So auch jeder Krieg. Es wäre für den Historiker eine interessante Arbeit, den eigentlich Schuldigen für jeden Krieg, oder besser: den eigentlich Verantwortlichen – denn es gibt Kriege, die durchaus geführt werden müssen, auch wenn es keine Abwehrkriege sind –, herauszufinden; den, in dessen Kopf die Idee dieses bestimmten Krieges entstanden ist. – Nun ist nicht etwa immer der Erreger derjenige, der die Fähigkeit, die Macht oder auch nur den überzeugten Willen hat, die Idee zu fördern oder gar sie in die Tat umzusetzen. Es kann ein harmloser Leitartikler, ohne daß er ahnt, was er damit anrichtet, vielleicht nur wegen eines interessanten Vorsatzes für einen Artikel, mit dem Gedanken spielen. Der Artikel fällt, aus bloßem Zufall, einem Diplomaten in die Hände. Der denkt ihn weiter und hält auch die Fäden in der Hand, um ihn fortzuspinnen. Er trägt ihn gesprächsweise in Kreise, die politischen Einfluß haben, und in denen er nun von selbst fortwuchert und immer weitere Kreise zieht. Seinetwegen bildet sich schließlich eine Partei. Und während es anfangs für den Diplomaten vielleicht nur ein Gedanke war, mit dem er kaum ernstlich einen Begriff verband, eine Liebhaberei, mit der er nur spielte, allenfalls ein Traum für seinen Ehrgeiz, an dessen Verwirklichung er ernstlich niemals dachte, so ist es nun plötzlich ohne seine Absicht und ohne sein Zutun ein Programm geworden, auf das Tausende schwören, und das er nun öffentlich vertreten und für das er Gründe suchen muß. Und von da bis zu dem Augenblick, in dem er in der Verwirklichung des Programms, das Krieg bedeutet, die Aufgabe seines Lebens sieht, ist oft nur ein Schritt.

Du ahnst nun gewiß schon, worauf ich hinaus will. Unsere Gemeinschaft ersehnt zwar als höchstes und gleichsam als Endziel aller Kulturarbeit den ewigen Frieden. Sie ist sich aber bewußt, daß es angesichts der kulturellen Rückständigkeit der meisten Völker bis dahin noch gute Wege hat. Infolgedessen ist die Gemeinschaft, der national gesinnte Männer aller Nationen angehören, weder eine Gegnerin des Militarismus, in dem sie bei dem gegenwärtigen Kulturniveau der Völker viel weniger eine Kriegsgefahr als eine Sicherung des Friedens sieht, noch will sie bei Ausbruch eines Krieges etwa zur Renitenz auffordern oder gar während der Feindseligkeiten den Frieden predigen. Ihre Tätigkeit ist vielmehr lediglich eine präventive.

Gefahren wittern, rechtzeitig vorbeugen, Mittel und Wege finden, um einen Krieg zu verhüten! Möglichst schon in einem Stadium der ersten Verstimmung, wo irgendwo ein Anzeichen darauf hindeutet – oft ist es nur ein Wort oder eine Gebärde –, da setzen wir ein. Es sind Diplomaten, Politiker, Gelehrte aus fast allen Städten Europas, die sich während der Arbeiten des Internationalen Friedensbundes ohne Aufforderung und ohne Statuten im Laufe der Zeit von selbst zu dieser Gemeinschaft zusammengefunden haben. Es ist eine im stillen wirkende internationale Friedenspartei. Eine Art Notwehr, gegen die in jedem Lande mehr oder weniger einflußreiche Kriegspartei. Es ist ein Krieg in Permanenz, den wir gegen Kriegshetzer führen, ohne daß sie von uns als Organisation eine Ahnung haben. So ist uns mancher Minister – manchmal erst nach jahrelanger Arbeit – zum Opfer gefallen oder hat, unserem unsichtbaren Drucke folgend, infolge von Umständen, die wir herbeiführten, seinem Glauben nach freiwillig abgedankt. Auch hat man gefährliche Kriegshetzer in wirtschaftliche Positionen gebracht und sie damit politisch desinteressiert. Wie überhaupt oft schon in der Stellung der Frage: Warum treibt der oder jener zum Kriege? auch schon die Antwort darauf liegt: Wie treibt man ihm den Gedanken aus?

Als der spätere Minister Kowalski noch reaktionärer Abgeordneter der Duma war, wurde ihm das Verschulden der Pogroms in Mirgorod, Priluki und Woronesch nachgewiesen. Er hatte sich aber nicht mit der Anzettelung begnügt, sondern sich selbst an den Menschenschlächtereien beteiligt. Wenngleich Pogrome und deren Verhütung nicht eigentlich Angelegenheiten unserer Gemeinschaft sind, so beschäftigten wir uns doch schon damals mit der Persönlichkeit dieses Ehrenmannes und stellten zahllose von ihm begangene Grausamkeiten fest, die man fast alle auf sadistische Veranlagung zurückführen konnte. Ende April 1938 wurde Kowalski Zivilgouverneur von Kiew; am 5. Mai desselben Jahres war der berühmte Kiewer Pogrom, bei dem Kowalski in dem Blute von 14 000 unschuldigen Judenweibern und Judenkindern waten konnte. Der Petersburger Professor Kinski, der auch zu uns gehörte, hat unter seinen Dokumenten einen Brief Kowalskis vom 5. Mai 1938 aus Kiew, der mit den Worten beginnt: »Es ist eine Lust zu leben!« Als Professor Kinski seine Materialsammlung gegen Kowalski beendet hatte und im Begriffe stand, sie der Regierung vorzulegen, wurde er eines Morgens tot in seinem Bette aufgefunden. Das Material war verschwunden.

Zwei Jahre später ist Kowalski Minister. Nun beginnt die Tätigkeit unseres Bundes. Als Minister begnügt sich Kowalski nicht mehr mit Pogromen; jetzt hat er die Macht, Kriege anzuzetteln! Mit Bulgarien mißglückt's, da es uns gelingt, einflußreiche russische Kreise, von denen Kowalski weiß, daß sie seine Stellung erschüttern können, von seinen Intrigen zu überzeugen. Und obschon die Situation kaum noch haltbar scheint, ist er es jetzt selbst, der einlenkt und auf Grund geschickt geführter Verhandlungen die Spannung behebt. Der friedliebende Zar zeichnet ihn daraufhin aus und stattet ihn auf seinen Wunsch hin mit weitgehenden Vollmachten für Finnland aus, das, wie er behauptet, im stillen den Anschluß an Schweden vorbereitet. Es gelingt ihm auch, der Organisation dieser Bewegung auf die Spur zu kommen. Zu ihrer Unterdrückung vom Zaren mit diktatorischer Gewalt ausgestattet, wird innerhalb dreier Monaten nicht nur an über 4000 Finnen das Todesurteil vollstreckt, sondern durch seinen Nachweis, daß die Fäden der Verschwörung nach Schweden hinüberreichen, die Situation zwischen Rußland und Schweden unhaltbar.

Als uns eben mit ungeheuren Opfern der Nachweis gelingt, daß diese ganze schwedisch-finnische Organisation ein Werk Kowalskis ist, und sein Sturz unmittelbar bevorsteht, wird eines Tages in Kristiania der russische Gesandte ermordet. Ein äußerst geschickter Gegenzug des uns überlegenen Kowalski. Die unmittelbare Folge ist bei der aufs höchste gereizten Spannung der Ausbruch des Krieges, durch den sich Kowalski abermals im Sattel hält. Nach der ersten großen den Schweden günstigen Schlacht richtet der ausgezeichnete König von Schweden vom Schlachtfelde aus spontan an den Zaren ein Telegramm: »Mein Verantwortungsgefühl vor Gott und meinem Volke zwingen mich, angesichts der Toten, die das Schlachtfeld decken, Eurer Majestät nochmals den Vorschlag zu unterbreiten, in einen Frieden zu willigen, der neben dem Status quo Sicherheiten für die ruhige Zukunft meines Landes bietet.«

Der Zar stimmt zu; es kommt zu einem Waffenstillstand, im Verlaufe dessen Verhandlungen in Paris gepflogen werden. Die drohen, trotz Deutschlands Intervention, an der Renitenz des russischen Bevollmächtigten zu scheitern. Der russische Bevollmächtigte aber ist niemand anders als Kowalski. Millionen von Briefen, Bittschriften und Gesuchen treffen täglich für die Friedensunterhändler aus aller Welt in Paris ein. Im Namen der Menschlichkeit fordert die Presse der ganzen Welt, daß Rußland dem großmütigen Rat des Schwedenkönigs folge. Millionen Mütter, Frauen, Kinder der Krieg führenden Länder betteln in rührenden Worten: Schonet unsere Kinder, Männer, Väter! Aber Kowalski erwidert dem schwedischen Minister grinsend: »I was, Soldaten sind dazu da, um erschossen zu werden!« Und in den Nachtlokalen des Montmartre verkündete er ruhmredig beim Champagner den Kokotten ›C'est ma guerre!

Hier war ein Fall gegeben, wo der Bund, wenn überhaupt seine Existenz noch eine Berechtigung haben sollte, eingreifen mußte. Alle Mittel, die man Kowalski gegenüber zur Anwendung gebracht hatte, blieben ohne Erfolg. Da trat in Berlin der Ausschuß zusammen. Fünfundzwanzig Männer waren es, Deutsche, Schweden, Franzosen, Österreicher, Russen, Italiener, – keiner, der nicht in der Politik, Wissenschaft oder Industrie eine hohe Stellung bekleidete, keiner, dem sein Vaterland nicht höher als sein Leben stand. Alle aber als Menschen von demselben Gefühl durchdrungen, daß hier ein Personalkrieg schlimmster Art, koste es, was es wolle, verhütet werden müsse. Du weißt, wie der berühmte Pazifist Courcelles durch meine Abhandlung über Carl Hauptmanns »Krieg« auf mich aufmerksam wurde, mich ins Vertrauen zog und trotz meiner Jugend in den kleinen Kreis aufnahm. Courcelles war es auch jetzt wieder, der kurz ein Bild von der Persönlichkeit Kowalskis entwarf und ihn an der Hand des gesammelten Materials als den Typ des sadistischen Massenmörders brandmarkte. Nachdem alle gangbaren Mittel, ihm sein verbrecherisches Handwerk zu legen, erschöpft seien, habe sich der Ausschuß darüber schlüssig zu werden, ob man zu ›ungewöhnlichen‹, von der Not diktierten Mitteln greifen wolle. Und nachdem er in lebendigen Farben ein Riesengemälde des Jammers, der durch diese Kreatur über Hunderttausende von Familien hereingebrochen sei und über weitere Hunderttausende hereinzubrechen drohe, entworfen hatte, fragte er noch einmal: ›Können wir vor Gott und unserem Gewissen jedes Mittel verantworten, durch das die Welt von diesem Ungeheuer befreit wird?‹ Ein laut jubelndes, einstimmiges ›Ja!‹ war die Antwort.

Daß nur noch ein direktes Verhandeln mit Kowalski in Frage kam, und daß, wenn man im Guten nichts erreichte, Gewalt sprechen mußte, wußten alle. Aus sprach es keiner. Aber die Bestimmtheit und der heilige Ernst, der auf den Gesichtern aller dieser Menschen lag, zeigte, daß jeder von ihnen in dem Bewußtsein voller Verantwortlichkeit bereit war, die Mission zu erfüllen. Ein letzter Versuch, auf sein Gewissen und damit auf seine Entschließungen einzuwirken und ihn zur Demission zu bestimmen, wurde beschlossen. Mit ihrem vollen Namen deckten alle eine Anklageschrift, in der seine Schandtaten knapp und scharf benannt und mit Beweisen belegt wurden. Diese Anklageschrift sollte den Regierungen aller Länder und sämtlichen Pressebureaus, falls er sich weigerte, abzudanken, unverzüglich übermittelt werden. Versagte auch das, dann blieb als letztes noch immer Gewalt. Zehn Seiten stark war die Schrift, die wir verfaßten; aber was sie enthielt, glich einem Dokument des Teufels, der seine größten Schandtaten zu einem Ruhmesblatt flocht. Wo noch der Rest eines menschlichen Gefühls sich regte, da mußte es sich beim Lesen in Wut und Haß entladen; wen es gar anging, den mußte ein derartiges Entsetzen vor sich selbst packen, daß er in dem aussichtslosen Bestreben, vor sich selbst zu fliehen, dem Wahnsinn verfiel, falls er es nicht vorzog, rechtzeitig Hand an sich zu legen.

Wem sollte die ›schwere, aber heilige Mission‹ – wie Courcelles sich ausdrückte – zufallen? Jeder einzelne erklärte sich, falls ihn die anderen für geeignet und würdig hielten, dazu bereit. Jeder von ihnen hatte zu Hause Frau und Kind; aber statt daß das Bedenken und Rücksicht bewirkte, befreite es im Gegenteil in Gedanken an die Millionen anderer Väter, Mütter und Kinder, denen man diente, nur das Gewissen. Man loste. Der berühmte zweiundfünfzigjährige Pariser Akademieprofessor Gaston Rémond zog als Fünfter den Zettel mit dem kleinen Kreuz; alle anderen Zettel waren unbeschrieben. Courcelles übergab ihm die Schrift. Wir drückten ihm der Reihe nach die Hand. Keiner sprach mehr ein Wort. Wir gingen auseinander.

Am übernächsten Tage hatte ich im Pariser literarischen Verein einen Vortrag zu halten. War es mehr als natürlich, daß ich Rémond, der noch am selben Abend nach Paris fuhr, meine Begleitung anbot? Er war mein Lehrer. Ich habe während meiner Pariser Semester wie ein Kind in seinem Hause verkehrt. Ich kannte seine Frau, seine Kinder, sein Herz. Wußte, daß er seit Jahren tief in einer großen Arbeit steckte, die ihrem Abschlusse nahe war. War es da schwer, sich in die Gemütsverfassung Rémonds zu versenken? Er empfand meine Gesellschaft als eine Wohltat, und war froh, einen Vertrauten zu haben, mit dem er über alles sprechen konnte. Er war gefaßt und entschlossen; aber aus der Frage: ›Glauben Sie, lieber Doktor, daß er sich unterwerfen wird?‹ – die alle Stunde wiederkehrte, entnahm ich, daß er nun zum mindesten nicht resigniert war.

Ich glaubte es nicht! Und so kurz vor der Entscheidung, wo es in Eile Vorkehrungen treffen und Entschlüsse für alle Fälle fassen hieß, hielt ich es für gewissenlos, ihn in seinem falschen Glauben zu bestärken. Ich sagte ihm also, was ich dachte. Je näher wir Paris kamen, um so unruhiger wurde er. Ich brachte das Gespräch auf alles mögliche, obschon ich genau wußte, daß Gehirn und Nerven ausschließlich auf einen Gedanken reagierten. Ich gab meine Versuche, ihn abzulenken, schließlich auf, als er mir auf eine wissenschaftliche Frage, von der ich wußte, daß sie sein Interesse hatte, und die man sonst nur anzudeuten brauchte, um ihn leidenschaftlich zu erregen, erwiderte:

›Der zweite Schuß gilt selbstverständlich mir!‹

›Ausgeschlossen‹ rief ich und sprang auf. ›Das wäre ein Verbrechen, das Sie an sich, an der Wissenschaft, an Ihrer Frau und Ihren Kindern, vor allem aber an unserer Sache begingen! Wir vertreten, was wir handeln. Jeder von uns wird vor Ihre Tat treten und sie decken. Man wird Ihnen den Prozeß machen, gewiß! Aber man wird Ihre Gründe hören und Sie freisprechen! Und mehr als das, Sie werden den Dank der ganzen gesitteten Welt ernten.‹

›Nein,‹ erwiderte Rémond, ›dadurch, daß wir uns zu Märtyrern machen, schaden wir der Sache. Nur solange unser Wirken denen, gegen die es sich richtet, unsichtbar bleibt, werden wir Erfolge haben.‹

Ich sah das ein; das bedingte jedoch nicht, daß ich seinen Entschluß billigte, der mir nur im Falle eines Gewissenskonfliktes berechtigt schien. Der aber lag nicht vor. Und ich war sehr froh, ihn davon überzeugen zu können, noch ehe wir in Paris waren.

Da es ihn beruhigte, stieg ich gegen meine Gewohnheit im Meurice ab, wo Kowalski wohnte; Rémonds Wohnung lag in der Chaussee d'Antin.

Die Pariser Abendblätter, auf die wir uns, kaum daß der Zug stand, stürzten, brachten die Nachricht, daß die Friedensverhandlungen fortdauerten, ohne daß eine Verständigung nähergerückt sei. Und der ›Matin‹ brachte eine von russischer Seite, also von niemand anders als von Kowalski stammende Notiz, die besagte, daß die Wiederaufnahme der Feindseligkeiten stündlich zu erwarten sei.

Ich kann dir nicht sagen, wie schwer mir der Abschied von Rémond wurde, dem seine Frau und seine drei Kinder in der Bahnhofshalle einen Empfang bereiteten, aus dem die ganze Innigkeit ihres Verhältnisses sprach. Rémond beherrschte sich wie ein Held; aber ich sah doch, wie er zitterte, als er Frau und Kinder in die Arme schloß.

Frau Rémond lud mich für den nächsten Tag zum Essen. Ich wagte nicht, zu ihm aufzusehen und nahm an.

›Kommen Sie! kommen Sie auf alle Fälle!‹ bat er und drückte mir die Hand.

›Ich bin jederzeit für Sie zu sprechen,‹ sagte ich. ›Ich bereite mich auf meinen Vortrag vor und gehe nicht aus dem Hotel.‹

Er verstand mich und dankte mir mit einem Blick, der sein ganzes Herz enthüllte.

Was dann geschah, weiß ich nicht. Ich fuhr ins Hotel, aß auf dem Zimmer, suchte zu arbeiten, war zu unruhig, gab es auf, zwang mich, ein Buch zu lesen, dachte aber immer nur an Rémond, der jetzt vielleicht gerade bei Kowalski war, dessen Zimmer auf demselben Stock am anderen Ende des Flures lagen.

Es war mittlerweile neun. Ich war so unruhig, daß ich aus dem Zimmer ging, den Flur entlang bis zu Ende. Als ich an den Zimmertüren des Ministers war, stockte mir der Atem, mein Herz ging so schnell, daß ich unwillkürlich stehenblieb und hörte, wie ein Diener einem Pagen sagte: Exzellenz hat eine Konferenz und wünscht nicht gestört zu werden. Ob Rémond es war, mit dem er konferierte, wußte ich nicht, wie ich mir denn überhaupt keine rechte Vorstellung davon machen konnte, wie er eine Audienz unter vier Augen mit dem vielbeschäftigten Minister erzwingen wollte. Dann war Rémond auch gewöhnt, daß sich seinem Namen die Türen von Fürsten und Königen öffneten, so war es doch immerhin ungewöhnlich, daß ein Gelehrter bei einem fremden Minister, der in politischen Geschäften in Paris war, eine Audienz nachsuchte.

Ich ging auf mein Zimmer zurück. Ich suchte auf alle mögliche Weise mich zu zerstreuen. Meine Stimmung wurde immer verzweifelter; ich ließ mir Wein aufs Zimmer bringen; ich trank und rauchte, ganz gegen meine Gewohnheit; alle halbe Stunde öffnete ich die Tür und ging auf den Flur. Die Ruhe ringsum war mir unheimlich. Ich hatte das Gefühl, als müßte man Türen schlagen, Menschen kommen und gehen und laut reden hören. Aber alles blieb still.

Als meine Erregung unerträglich wurde, suchte ich mich dadurch auf andere Gedanken zu bringen, daß ich mir meinen Vortrag, den ich morgen halten sollte, ins Gedächtnis rief. Ich kam über den ersten Satz nicht hinaus. Das machte mich wild. Ich stürzte von meinem Sessel auf und war entschlossen, mich selbst zu überzeugen, wo sich der Minister aufhielt und wer bei ihm war. In dem Augenblick öffnete sich die Tür, und Rémond trat herein.

›Großer Gott!‹ rief ich und trat nahe an ihn heran, ›sind Sie es wirklich? Von wo kommen Sie? Sie sehen ja aus wie der Tod.‹

Rémond erwiderte nichts. Er sah mich an, zitternd und verängstigt.

›Sie waren bei ihm?‹ fragte ich ihn.

Er nickte.

›Sie haben versucht, ihn umzustimmen?‹

Er nickte abermals.

›Sie haben ihm die Schrift vorgelesen?‹

Wiederum nickte Rémond.

›Und er hat sich trotzdem geweigert . . .?‹

Rémond nickte mehrmals kurz hintereinander.

Ich zögerte einen Augenblick – trat dicht an ihn heran. –

›Dann haben Sie ihn also . . .?‹ sagte ich, sprach es aber nicht aus; er mußte ja wissen, was ich meinte.

Da schüttelte Rémond den Kopf und sagte:

›Nein!‹

›Nein?‹ rief ich erregt, und er fuhr fort:

›Das ist es eben! ich habe es nicht getan.‹

›Auch nicht versucht?‹ fragte ich ihn.

Wieder schüttelte Rémond den Kopf.

Ich schwieg. Nach einer Weile fragte ich:

›Was soll nun werden?‹

Er zog die Schultern hoch und sagte:

›Ich weiß es nicht!‹

›Wie hat er's aufgenommen?‹ fragte ich ihn.

Und nun erzählte Rémond, der Minister sei erfreut gewesen, einen Mann von seiner Bedeutung kennen zu lernen. Rémond habe ihn unterbrochen und ihm erklärt:

›Ich komme nicht als Gelehrter zu Ihnen, sondern um als Mensch zum Menschen zu reden.‹

Und der Minister habe erwidert:

›Darf ich Sie dann bitten, das Gespräch bis nach Erledigung meiner hiesigen Mission zu vertagen?‹

›Um diese Mission eben handelt es sich,‹ habe er zur Antwort gegeben, die Schrift herausgeholt, sich vor ihn hingestellt und mit dem Vorlesen begonnen.

›Nach dem ersten Abschnitt,‹ fuhr Rémond in seinem Bericht, den er in seiner Erregung außer Atem und wortweis hervorstieß, fort, ›hielt ich inne, um die Wirkung zu sehen; denn ich begriff nicht, daß ein Mensch das über sich mit anhören konnte, ohne aufzuspringen und mir an den Hals zu gehen. Der Minister saß da, sah zu mir auf, verzog keine Miene und sagte bestimmt, aber höflich:

›Bitte, fahren Sie fort!‹

Und ich las weiter und fühlte, wie meine Stimme zitterte und an Stellen, wo die Anklagen stark und bestimmt wie Keulenschläge niedergingen, in die Höhe ging und sekundenweis aussetzte.

Der Minister rührte sich nicht, und ich sah deutlich, daß seine Sicherheit und Ruhe nicht geheuchelt oder erzwungen war.

Ich war zu Ende, auf alles gefaßt, bereit, zu handeln, wenn es nötig wurde.

›Würden Sie mir die Schrift mal auf einen Augenblick gestatten,‹ bat der Minister, als handle es sich um einen x-beliebigen Artikel, der ihn nichts anging.

Ich reichte ihm automatisch das Blatt, er sagte: ›Danke!‹ blätterte und machte sich ein paar Notizen.

›Darf ich Sie bitten, sich nunmehr zu entschließen?‹ forderte ich in einem Tone, der bestimmt und dringend war.

Er überhörte es, oder er tat doch so.

›Hm,‹ sagte er nach einer Weile in ruhigem, nachlässigem Tone und reichte mir mit einer leichten Verbeugung die Schrift zurück, ›was die russischen Herren angeht, die es für klug befanden, zu unterzeichnen, so dürfen Sie Ihren Freunden sagen, daß die noch im Laufe des morgigen Tages verhaftet werden.‹

Ich fühlte, ich wurde blaß und wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück.

›Im übrigen bin ich Ihnen dankbar, lieber Professor, daß Sie mich aufgeklärt haben. Ich begreife nun manches, wofür ich bisher keine Erklärung hatte.‹ – Er war so unverändert im Ton und Wesen, daß ich nicht wußte, ob das sein Ernst oder Verstellung war. ›Wirklich! einen wertvollen Dienst haben Sie mir geleistet . . . Und was die Verhandlungen mit Schweden anbelangt,‹ dabei stand er auf, ›so will ich Ihnen verraten, daß die Feindseligkeiten morgen wieder aufgenommen werden. Ihr Bericht dürfte daher durch die Ereignisse überholt sein, zum mindesten aber an Interesse verloren haben. Gestern noch hätte er vielleicht einiges Aufsehen gemacht.‹

Er verbeugte sich und ging aus dem Zimmer; ich stand wie festgenagelt, ohne ein Wort zu erwidern, wohl fünf Minuten lang und starrte zur Tür, durch die er gegangen war, ohne die Kraft zu haben, mich fortzubewegen oder auch nur die Hand aus der Tasche zu ziehen, in der mein Revolver steckte. – Und nun,‹ endete Rémond und sah mich verzweifelt an, ›bin ich hier.‹

Ich sah in diesem Augenblick neben der Gefahr für unsere russischen Freunde und die Gefährdung unseres Bundes nur eins: den durch Rémond, also durch uns alle mitverschuldeten Neuausbruch des Krieges, zu dem Kowalski nun doppelt drängte, weil er damit der Anklage Aufmerksamkeit und Wirkung nahm. Das im letzten Augenblick noch zu verhindern, war der natürliche und einzige Gedanke, der mich jetzt trieb.

Ich schob Rémond einen Sessel hin, goß ihm Wein ein, den er hinunterstürzte, trank selbst, goß ihm wieder ein und trieb ihn mit allen Mitteln des Herzens und des Intellekts, sich zu besinnen, sich zusammenzureißen und seine Pflicht zu tun!

Ich sah, wie ich ihn aufrührte und erregte.

›Noch ein Glas!‹ sagte er, stand auf, drückte mir feierlich, als wenn er mir ein Gelöbnis ablegte, die Hand und ging hinaus. –

Ich stand noch auf demselben Fleck, das Gesicht zur Tür, den Arm noch ausgestreckt und fühlte noch deutlich den Druck seiner Hand, als er über und über mit Schweiß bedeckt ins Zimmer stürzte und sich mir an den Hals warf. In der Hand hielt er den rauchenden Revolver.

Er hatte ohne Überlegung und ohne Vorsicht gehandelt – unter meiner Suggestion – der Täter war ich.

Trotz des vielen Weines war mein Verstand klar; ich überlegte scharf alles, was nun geschah.

Eine Stunde später lag Rémond in seiner Villa Rue Chaussée d'Antin in seinem Bett. Er selbst sagte mir, als ich ihn am nächsten Vormittage aufsuchte: ›Und wenn Sie mich unter meinem Eide fragen, ob das, was ich in dieser Nacht erlebte, wirkliches Geschehen oder nur ein Traum war – ich wäre um die Antwort verlegen.‹

Am nächsten Morgen wurde der Kammerdiener des Ministers verhaftet; auf die Feststellung hin, daß er die Nacht bei einer Grisette auf dem Boulevard Rochechouard zugebracht hatte, und daß außerdem der Schuß eines geräuschlosen Revolvers selbst vom Nebenzimmer aus nicht zu hören sei, wurde er schon am Nachmittag wieder auf freien Fuß gesetzt.

Ich hielt abends – erleichtert, nicht beschwert – meinen Vortrag; denn die Verhandlungen, die an Stelle des ermordeten Kowalski auf telegraphische Verständigung hin mit dem Zaren der russische Botschafter in Paris führte, hatten nachmittags um 6 bereits zu einer vollkommenen Verständigung geführt. Die Kriegsgefahr war beseitigt, der Waffenstillstand definitiv, der Friede gesichert! –

Das, Ilse, ist mein Geständnis – und nun urteile du, ob ich danach noch ein Recht auf deine Liebe hatte.«

»Du hast getan, was du tun mußtest! – Ein Verbrechen wäre es gewesen, wenn du anders gehandelt hättest.«

»Ich danke dir!« sagte Günther und drückte ihr die Hand.

»Und Rémond? – ist er zur Ruhe gekommen?« fragte Ilse.

»Ein paar Monate lang hatte er mit seinen Nerven zu tun – dann ist er ein anderer Mensch geworden, heiter und um Jahre jünger. Und wenn einer seine Werke lobt, dann antwortet er: ›Das alles ist nichts. Das einzige Werk, auf das ich stolz bin, und das man erst in Jahrhunderten würdigen wird, das kennt ihr alle nicht!‹«

»Er hat allen Grund, stolz zu sein,« erwiderte Ilse. »Aber du auch! Du mehr als er!«

Man sah, wie glücklich ihn das machte.

»Daß du das sagst,« erwiderte er, »wo du der einzige Mensch bist, der darunter leidet.«

Nach einer Weile sagte Ilse:

»Du mußt sehr glücklich sein!«

»Jetzt, wo du es weißt, ja! – Und nie ist ein Mensch stolzer und freier vor seine Richter getreten als ich.«

Ilse sah, wieviel stärker er war als sie. Gewiß, auch sie war stolz auf ihn und seine Tat, aber das vermehrte nur die Schmerzen, die sie in dem Gedanken litt, ihn nun für immer verlieren zu müssen.

Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen, um jetzt, als er sie zum letzten Abschied in die Arme schloß, gefaßt zu scheinen.

Er war fester und zuversichtlicher als zuvor und schien beinahe glücklich. Sie aber biß die Lippen aufeinander, schritt wankend den Gang entlang, hielt sich mühsam aufrecht, und erst als sie glaubte, daß er sie nicht mehr sehen konnte, lehnte sie sich an die Wand, führte die Hände vor das Gesicht und schluchzte laut auf:

»Großer Gott! das ertrag' ich nicht!«

*

Stoelping war nach einer Weile wieder auf den Flur getreten. Mit anderen Gefühlen, schien ihm, wartete er heute darauf, daß Ilse von ihrer Begegnung mit Hempel kam.

Hielt sich bisher – worüber er sich genau Rechenschaft gab –, das Interesse, das er an ihr als Menschen hatte und für das Sympathie wohl kaum mehr die richtige Bezeichnung war, mit dem Interesse, das sie ihm in prozessualer Hinsicht bot, die Wage, so war es nun fast ausschließlich der Mensch, dessentwegen er jetzt voller Unruhe auf dem Korridor stand und sie erwartete. Und es war nichts anderes als Eifersucht, die ihn quälte, als Viertelstunde um Viertelstunde verging, ohne daß Ilse kam. Mehrmals überlegte er, ob er nicht auf Grund seiner Befugnis einfach dazwischentreten und der Unterhaltung ein Ende machen solle. Sein Instinkt bewahrte ihn davor.

Endlich sah er am Ende des Ganges einen Schatten, der langsam näher kam, und als er in der Helle eines Fensters war, erkannte er deutlich, daß sie es war. Leicht nach vorn gebeugt, ohne nach rechts oder links zu sehen, glitt sie mehr vorwärts, als daß sie die Füße setzte.

Stoelping ging ihr entgegen.

Sie sah ihn nicht.

»Ist Ihnen was?« fragte er und trat ihr in den Weg

Sie fuhr erschrocken auf, sagte »wie?« und sah jetzt erst, daß es Stoelping war.

»Bitte lassen Sie mich!« sagte sie bittend und doch bestimmt

Er trat zur Seite, und sie glitt, wieder nach vorn gebeugt, an ihm vorbei, den Gang entlang und verschwand durch die Tür, die auf die Straße führte.

Stoelping stand und sah ihr nach.

Er überlegte.

Sollte er ihr ein Geständnis abgelegt haben? schoß es ihm sofort durch den Kopf – und im selben Augenblick stand auch schon wieder das Interesse für den Prozeß bei ihm im Vordergrunde.

 


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