Artur Landsberger
Haß
Artur Landsberger

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Zweiter Teil

Erstes Kapitel.

Wie es zwanzig Jahre später bei Stoelpings aussah.

»Donnerkluck!« rief Generalstaatsanwalt von Stoelping, setzte mit einem Ruck die Tasse auf den Tisch, griff nach dem Brief, der ausgebreitet neben ihm lag, schob ihn dicht vors Gesicht, las ihn noch einmal, schüttelte den Kopf und wiederholte:

»Donnerkluck!«

»Was ist?« fragte seine Frau, – »etwas Unangenehmes?«

»Ich muß nach Paris! noch heute! sofort!« – und er stand auf und goß im Stehen den Tee herunter.

»So laß dir doch wenigstens Zeit zum Frühstück,« drängte Frau Ella.

»Ich habe keine Zeit,« erwiderte Stoelping und stellte die Tasse auf den Tisch. »Wann kommt Willi vom Fliegen?«

»Wie jeden Morgen! um acht!«

Der alte Stoelping sah nach der Uhr:

»Es ist bereits zehn Minuten drüber.«

»Verzeihung,« sagte verlegen der Diener, der ein paar Schritte hinter dem Frühstückstisch stand, »ich hatte vergessen – der Herr Staatsanwalt läßt sich entschuldigen – er probiert heute einen neuen Apparat und wird daher erst um viertel neun zurück sein.«

»Schon wieder einen neuen Apparat?« sagte der Alte verärgert. »Dabei habe ich ihm erst vor ein paar Wochen gesagt, man kauft sich nicht Apparate wie Pferde, solange die Steuer auf Luxusflugzeuge derart hoch ist.«

»Ich gebe zu, es ist unmodern,« erwiderte Frau Ella – »aber mir wäre auch lieber, er ließe das Fliegen. Für mich gab es nichts Schöneres, als im Auto durch die Welt zu reisen. Es hatte etwas so Behagliches und Beruhigendes, auch wenn man nur sechzig Kilometer in der Stunde vorwärts kam. Was lag daran? Man ließ sich eben Zeit und hatte den doppelten Genuß vom Leben. Vor allem hatte man etwas von der Gegend, durch die man fuhr. Heute, in den Flugzeugen, sieht man überhaupt nichts mehr.«

»Du bist und bleibst eben eine Idealistin!«

»Mit welchem Zuge fahren der gnädige Herr?« fragte der Diener, der inzwischen die für plötzliche Reisen stets fertig gepackten Koffer bereitgestellt hatte.

»Das hängt davon ab, wann mein Sohn nach Haus kommt. Auf alle Fälle aber muß ich heut abend noch in Paris sein.«

»Dann müßten der gnädige Herr die Züge 11 Uhr 10 oder 11 Uhr 27 benutzen.«

»Geht nicht einer kurz nach 3?« fragte der Alte.

»Jawohl! 3 Uhr 8; aber der fährt nicht durch, sondern hält in Köln und braucht beinahe zwölf Stunden bis Paris.«

»Danke!« erwiderte Stoelping, – »das ist für Leute, die viel Zeit haben und gern Eisenbahn fahren. Also 11 Uhr 27! Wann ist der in Paris?«

»7 Uhr 45.«

»Gut! – Meine Mappe bitte!«

Der Diener reichte sie ihm. Stoelping entnahm ihr einige Schriftstücke, die er auf dem Frühstückstisch ausbreitete, durchsah und unterschrieb.

»Das Telephon!« rief er dem Diener zu. Der stellte es auf den Tisch, und Stoelping telephonierte, ohne die Arbeit zu unterbrechen.

»Bitte Paris. Hotel Meurice.«

Die Telephonistin wiederholte.

»Donnerkluck! wie lange dauert denn das!« rief Stoelping, ohne von den Akten aufzusehen.

»Aber du hast ja kaum die Verbindung genannt,« beruhigte ihn Ella.

Da meldete sich auch schon Hotel Meurice in Paris, und Stoelping bestellte für den Abend seine Zimmer.

Frau Ella sah alle paar Augenblicke zum Fenster. Wo nur der Junge bleibt! dachte sie. Aber sie sprach es nicht aus und ließ sich ihre Unruhe nicht merken.

Stoelping klappte die Akten zu, warf schnell noch einen Blick in die Zeitung und rief:

»Bravo! Bravissimo! die Sünden der Väter rächen sich!«

»Hat sich England wieder mal in die Nesseln gesetzt?« fragte Frau Ella, die Stoelpings leidenschaftlicher Ton sofort auf die richtige Fährte wies.

»Es hat den Anschein,« erwiderte er. »Es wird die Geister, die es rief, nicht los. Der japanische Fuchs gibt keine Ruhe. Par nobile fratrum. Uns kann's recht sein, wenn sie sich gegenseitig zerzausen. Das trägt mehr als ein gewonnener Krieg und kostet kein Blut.«

»Wo nur der Junge bleibt?« platzte Frau Ella jetzt gegen ihre Absicht heraus. Und Stoelping, obgleich auch er längst ungeduldig war, beruhigte sie und sagte:

»Das ist nicht anders bei einem neuen Apparat! Da geht es nicht auf die Minute!«

Der Diener war wieder im Zimmer.

»Soll ich Plätze besorgen?« fragte er.

»Ja,« erwiderte Stoelping. »Ein Abteil mit Schreibmaschine und Bedienung. Und zwar eine Dame, die auch Englisch stenographiert.«

»Gönn' dir doch wenigstens während der paar Stunden Fahrt mal Ruhe,« bat Frau Ella.

»Neun Stunden still sitzen?« – erwiderte er, – »das ist unmöglich!«

Sie schüttelte resigniert den Kopf und fragte:

»Wann wirst du zurück sein?«

»Ich hoffe mit einer Konferenz auszukommen; bin also auf alle Fälle morgen mittag wieder bei dir.«

Die Hupe eines Kraftwagens tönte vom Park herauf.

»Großer Gott!« rief Frau Ella, sprang auf und lief ans Fenster, – »das ist doch Willis Auto!«

Auch der alte Stoelping fuhr in die Höhe, riß die Balkontür auf und trat auf die Veranda.

Es ist ihm was zugestoßen! dachte er, sprach's aber nicht aus, um seine Frau nicht zu erschrecken, die sich in ihrer Angst weit aus dem Fenster beugte.

Ida, die Zofe, die eben ins Zimmer kam, trat mit ausgebreiteten Armen hinter Frau Ella, um sie festzuhalten, falls sie das Gleichgewicht verlor. Und Johann, der Diener, stürzte die Treppe hinunter in den Park und lief dem Wagen entgegen.

Das offene Auto war noch zwei-, dreihundert Meter von der Villa entfernt, als eine kräftige, helle Stimme zur Villa hinauf laut »Guten Morgen!« rief.

Und Stoelpings erwiderten den Gruß ihres Sohnes, den sie noch gar nicht sahen und nur an der Stimme erkannten, indem Frau Ella mit dem Taschentuch, der alte Stoelping mit der Hand, lebhaft dem heransausenden Auto entgegenwinkten.

Jetzt sah man deutlich Willis hohe, schlanke Gestalt. Er stand aufgerichtet im Wagen und grüßte zu seinen Eltern herauf. Ein Blick auf das ängstliche Gesicht seiner Mutter – und er erriet ihre Besorgnis.

Der Wagen stand kaum, da war er auch schon draußen, an dem verdutzten Diener vorüber, im Hausflur, auf der Treppe – und stand, ehe Frau Ella noch vom Fenster weggetreten war, schon hinter seiner Mutter.

»Wieso – wieso nicht im Flugzeug?« fragte sie, noch immer zitternd und betrachtete und befühlte ihn, um sich zu vergewissern, daß ihm auch wirklich nichts zugestoßen war.

»Ich habe es draußen gelassen, einer Reparatur wegen. Es ist mir nichts passiert. Es geschah beim Landen.«

»Gottlob!« sagte Frau Ella. »Wir dachten schon . . .«

»Du dachtest,« unterbrach der Alte.

»Nun gut,« verbesserte Frau Ella und lächelte, denn sie wußte, daß ihr Mann, wenn möglich, noch besorgter um den Jungen war als sie. »Also ich dachte, dir wäre am Ende etwas zugestoßen.«

»Aber!« beruhigte sie Willi – »in meinem Flugzeug bin ich tausendmal ungefährdeter als auf der Straße unter Millionen Autos.«

»Natürlich,« stimmte der alte Stoelping zu, – »aber du kennst ja Mama; wenn es nach ihr ginge, dann sähe Berlin noch aus wie vor dreißig Jahren, und die Pferdedroschken wären noch heute ein beliebtes Beförderungsmittel.«

»Und trotzdem ist jeder zurechtgekommen,« erwiderte Frau Ella, – »und die Behörden haben genau so viel oder so wenig Mörder dingfest gemacht wie heute.«

»Merkst du, das geht gegen uns,« sagte Stoelping belustigt zu seinem Sohne.

»Und im Grunde genommen hat Mama recht,« erwiderte Willi. »In dem gleichen Umfange, in dem sich unsere Ermittelungs- und Verfolgungsmöglichkeiten erweitert und verbessert haben, sind auch die Möglichkeiten der Verschleierung und der Flucht bessere geworden.«

»Stimmt!« sagte der Alte. »Die Chancen sind, aneinander gemessen, auf beiden Seiten die gleichen geblieben.«

»Und das ist nicht nur bei uns so,« fuhr Willi fort, »sondern in allem anderen auch. Trotz allem Fortschritt, der absolut natürlich das Bild der ganzen Welt verändert hat, ist relativ doch alles beim alten geblieben.«

Frau Ella schüttelte den Kopf.

»Etwa auch die Menschen?« fragte sie. »Das werdet ihr doch kaum behaupten wollen. Kurz nach dem europäischen Kriege, da schien es allerdings eine Zeitlang, als wenn so etwas wie eine allgemeine Annäherung auch zwischen Menschen, die sozial durchaus nicht zusammengehörten, sich vollziehen wollte.«

»Das hatte seinen Grund einfach darin,« erwiderte der Alte, »daß während des Krieges jeder, wenn er den anderen sah, – und wenn es das Fabrikmädchen war, an deren Sechseromnibus die Kronprinzessin vorüberfuhr, – das Gefühl hatte: die denkt an dasselbe wie ich! Das verband! Dieselbe Sorge, dieselbe Hoffnung war in allen. Das dauerte auch nach dem Kriege eine Zeitlang fort.«

»Und sonst sollten wir uns in nichts geändert haben?« fragte Frau Ella nicht ohne Spott. »Zum Schlechten gar nicht?«

»O doch!« erwiderte der Alte. »Wir sind mißtrauischer und wachsamer geworden. Wir sind nicht mehr so gutmütig und leichtgläubig, wie wir früher waren. Der deutsche Michel, den man schon arg zausen mußte, um ihn aus seiner Ruhe zu bringen, existiert nicht mehr. Wir sind behender, beweglicher, mit einem Worte: wir sind amerikanischer geworden.«

Frau Ella wollte gerade Zweifel äußern, ob denn das eine Wandlung zum Guten bedeute. Aber Willi kam ihr zuvor.

»Gottlob!« rief er. »Daher sind wir auch nicht mehr wie früher für alles Fremde empfänglich. Mit dem Erstarken unseres Selbstbewußtseins sind wir kritischer geworden. Wir können heute Wahrheit von Heuchelei unterscheiden. Erst seitdem wir das lernten, können wir hassen. Und nichts verbindet mehr als der gleiche Haß.«

»Worauf soll denn das wieder hinaus?« fragte Frau Ella ängstlich.

»In erster Linie natürlich auf England,« erwiderte Willi lebhaft, und zum alten Stoelping gewandt, sagte er:

»Nicht wahr, Vater, wir verstehen uns?«

Der Alte erwiderte nichts.

Aber Frau Ella zitterte, wie immer, wenn von diesem Haß die Rede war. Immer suchte sie dann das Gespräch auf andere Dinge zu bringen.

»Du hattest es doch vorhin so eilig,« sagte sie nicht ohne Vorwurf zu ihrem Mann. »Oder wolltest du Willis Rückkehr abwarten, um mit ihm eine Verschwörung gegen England anzuzetteln?«

»Mutter! Mutter!« foppte Willi belustigt und drohte mit dem Finger, – »mir scheint es manchmal, als wenn du im stillen mit England sympathisiertest!«

Aber Frau Ella ging auf den Scherz nicht ein und sagte ernst:

»Man soll nicht verallgemeinern und soll jeden Menschen nach seiner Gesinnung und seinen Handlungen beurteilen. Es wird, wie überall, auch unter ihnen anständige Menschen geben. Die Abstammung macht es nicht!«

»Darin hat Mutter nicht unrecht,« vermittelte der alte Stoelping, aber Willi widersprach:

»Für seine Abstammung kann man freilich nichts. So wenig, wie man etwas dafür kann, wenn man mit einem Buckel zur Welt kommt. Aber man soll sich bescheiden zurückhalten und sich nicht noch vordrängen, wenn man weiß, daß man moralisch erblich belastet ist.«

»Willi! Willi!« unterbrach Frau Ella entsetzt, »du weißt ja nicht, was du sprichst!«

»Möglich, ich bin da nicht objektiv; – will's auch nicht sein!«

»Maßlos ungerecht bist du! Wie kann ein guter Mensch so hassen! Du hast dich da in etwas hineingeredet. Fühlst du denn gar nicht, wie unwürdig das deiner ist?«

Willi schüttelte den Kopf.

»Nein, Mutter!« sagte er und machte ein ernstes Gesicht, »das sitzt tiefer; das liegt im Blut; das war in mir, ehe ich zur Welt kam. Nicht wahr, Vater, das ist mir von dir überkommen – zehnfach gesteigert! – Und zehnfach gesteigert soll's mal auf die kommen, die nach mir sind.«

»Großer Gott!« rief Ella, »das ist ja furchtbar! Wie ein Wahn ist das, der ihn verfolgt.« Und ganz verängstigt sagte sie zu ihrem Manne: »Wir hatten das bekämpfen sollen. Statt dessen haben wir es unterstützt.«

»Nein, Mutter!« suchte sie Willi zu beruhigen, »dafür seid ihr nicht verantwortlich. Es gibt Dinge, gegen die jede Erziehung machtlos ist. Und wenn ich als Kind von euch fortgekommen wäre und euch nie mehr gesehen hätte, – es wäre nicht um so viel anders.« – Dann legte er zärtlich den Arm um seine Mutter und sagte: »So, und nun habe ich mir wieder einmal Luft gemacht. Und jetzt reden wir von was anderem.«

Frau Ella atmete auf:

»Nie wieder darfst du so sprechen, wenn du mich liebhast.«

Auch der alte Stoelping schien jetzt nachdenklich.

»Über diese Dinge müssen wir einmal in aller Ruhe miteinander reden, wenn ich zurück bin,« sagte er.

»Du reist?« fragte Willi, – »auf wie lange?«

»Nur nach Paris. Aber es ist möglich, daß ich von da aus auf ein zwei Tage nach New York fahre. Das hängt von Ermittelungen in Paris ab. Ich wäre dann erst Mitte nächster Woche zurück. Und darum muß ich dich in eine Strafsache einweihen, die keinen Aufschub duldet.«

Damit verließen Vater und Sohn das Zimmer und gingen in Stoelpings Bibliothek, die zwischen dem Erdgeschoß und dem ersten Stockwerk lag.

 


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