Artur Landsberger
Haß
Artur Landsberger

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Vierundzwanzigstes Kapitel

Wie der alte Stoelping zum alten Schott kam

Am nächsten Morgen bat der alte Stoelping den Geheimrat telephonisch um eine Unterredung.

Eine Stunde später saßen die Väter in Schotts Arbeitszimmer. Der Geheimrat bot seinem Gast eine Zigarre an; dann sprachen sie von ihrem Beruf und ihren Pflichten, von ihrem Werdegang und ihrer Jugend, bis sie auf den europäischen Krieg zu reden kamen, den beide, Stoelping als Rittmeister bei den 7. Husaren, Schott als Oberleutnant bei den Oldenburger Dragonern, mitgemacht hatten.

Sie redeten sich, wie immer, wenn zwei Veteranen von 1915 auf diesen Krieg zu sprechen kamen, warm und tauschten Erinnerungen über Erinnerungen aus. Und als sie feststellten, daß sie bei Masuren in derselben Division gestanden und gesiegt hatten, da drückten sie sich die Hände und umarmten sich wie zwei Jugendfreunde, die sich längst aus den Augen verloren hatten, die aber bei der ersten Begegnung gleich wieder den alten Herzschlag spürten und glaubten, es sei erst gestern gewesen, daß sie sich zum letzten Male gegenübersaßen. Und von selbst schwand der förmliche Ton; zwei Kameraden saßen sich gegenüber.

Als die Zimmeruhr schlug, fuhren beiden auf und stellten fest, daß sie beinahe zwei Stunden lang zusammen saßen.

»So haben wir die Zeit verplaudert, lieber Freund,« sagte Stoelping, »ohne von dem zu sprechen, was mich zu Ihnen führt! – Meine Frau und ich sind sehr entzückt von Ihrer Tochter und billigen nach jeder Richtung die Wahl unseres Sohnes.«

»Auch ich habe allen Grund, zufrieden zu sein,« erwiderte der Geheimrat. »Ihre Familie gibt mir die Gewähr, daß der erste Grundsatz: Art zu Art, erfüllt ist. Das ist immerhin eine gewisse Garantie dafür, daß derselbe Geist in beiden Häusern herrscht. Und darin liegt, wenn zwei Menschen nicht zu verschieden voneinander sind, meines Erachtens schon immer die Grundlage für gegenseitiges Verständnis, ohne das ein Zusammenleben intellektueller Menschen ja unmöglich ist.«

Das, was der Geheimrat da sagte, ließ nicht gerade auf große Liebe von seiten Ilses schließen, dachte Stoelping, und er erinnerte sich der Wahrnehmungen seiner Frau, die er in den Worten des Geheimrats bestätigt fand.

»Ich glaube, auf seiten meines Sohnes doch für mehr und, wie mir scheint, für das Glück zweier Menschen Wesentlicheres, als nur für die gleiche geistige und gesellschaftliche Sphäre einstehen zu können. Ich habe den Eindruck, daß seine Gefühle für Ihre Tochter tief und aufrichtig sind; und zwar habe ich ganz bestimmte Gründe, das zu glauben.«

»Das freut mich zu hören,« erwiderte der Geheimrat, der klug genug war, um aus Stoelpings Worten einen leisen Vorwurf herauszuhören. »Meine Tochter besitzt alle Eigenschaften, einen Mann, den sie achtet, glücklich zu machen. Sie ist gut und klug, und das scheint mir für das Glück einer Ehe wichtiger als die sogenannte große Liebe, die oft auf ganz falschen Vorstellungen beruht – sowohl was den Gegenstand der Liebe anbelangt, wie die Ehe selbst – und von der, wenn die Feiertagsstimmung erst dem Alltag weicht, meist nicht viel mehr übrigbleibt als ein lebenslänglicher Katzenjammer.«

»Darin stimme ich Ihnen durchaus bei,« sagte der alte Stoelping, »und kann Ihnen, der ich sein Vater und Vorgesetzter in gleicher Person bin, versichern, daß mein Junge nicht nur gescheit ist, sondern auch Herz hat; nie ist mir das deutlicher geworden als gerade jetzt, bei dieser Ehe. Ich weiß nicht, ob Sie seine Ambitionen kennen; er will zur Diplomatie, und es war immer seine Absicht, sich durch Heirat den Weg in die diplomatische Karriere zu bahnen. Da er alle Vorbedingungen erfüllt, so brauchte er sich nur umzutun – Gelegenheit gab es genug; das Haus jedes Ministers steht ihm offen. – Wenn er trotzdem die Tochter eines Gelehrten wählt, so ist das ein Zeichen dafür, wie stark sein Herz bei seiner Wahl beteiligt ist.«

»Auch ich kann Sie versichern, daß meine Tochter nicht, wie die meisten jungen Mädchen, die Ehe wie eine Überraschungen und Amüsement versprechende Reise in ein Land antritt, zu dem ihr der Zugang bisher verschlossen war. Sie weiß vielmehr ganz genau, daß sie Ihrem Sohne gegenüber Pflichten übernimmt.«

»Ich bin davon überzeugt. Der Grund, aus dem ich zu Ihnen komme, ist denn auch ein anderer. Ich habe lange gezögert, da ich nicht wußte, auch jetzt noch nicht recht weiß, ob ich ein Recht – Sie werden im Gegenteil vielleicht sagen, daß ich sogar die Pflicht habe –, Ihnen eine Eröffnung zu machen, die vielleicht alle unsere Berechnungen über den Haufen wirft.«

»Sie machen mich neugierig,« sagte der Geheimrat.

»Zuvor müssen Sie mir versprechen, und zwar ohne Rücksicht darauf, wie Sie sich entscheiden, daß mein Sohn von dem, was ich Ihnen jetzt sagen werde, nichts erfährt.«

Er streckte dem Geheimrat die Hand hin, der schlug ein.

»Es handelt sich um nichts Geringeres als um die Herkunft meines Sohnes. Wenngleich ich damals alle Formalitäten so erledigt habe, daß weder mein Sohn noch sonst jemand jemals zu erfahren braucht, was sich vor 25 Jahren zugetragen hat, so läßt es mir doch jetzt, wo er im Begriff steht, sich mit Ihrer Tochter zu verloben, keine Ruhe. Es mag eine Dummheit, vielleicht sogar ein Verbrechen an ihm sein,« – er zog die Schultern in die Höhe –, »möglich, sogar wahrscheinlich! – ich kann mir nicht helfen: es drängt und muß heraus.«

»Was bedeutet denn das?« fragte der Geheimrat, »ich verstehe kein Wort.«

»Also, hören Sie. Ich hatte damals, als der europäische Krieg ausbrach, einen Jungen . . .« Und nun erzählte er den ganzen Hergang, bis zu der Stunde, wo der vierjährige William Smith als Sohn in das Haus der Frau von Stoelping kam. Und er schloß:

»Ich bekenne ohne weiteres, daß diese Eröffnung wichtig genug ist, um auf Ihre und Ihrer Tochter Entschlüsse einzuwirken.«

Der Geheimrat hatte den Alten, ohne ihn auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen, angehört. Jetzt saß er vornübergebeugt, den Kopf in die Hand gestützt, tief in Gedanken.

»Also Engländer väterlicher- und mütterlicherseits,« sagte er halblaut vor sich hin, und laut fügte er hinzu: »Sie verdienen alles Lob für das, was Sie aus ihm gemacht haben.«

»Meiner Frau gebührt das, nicht mir,« erwiderte Stoelping.

»Und er ist nie durch Zufall oder ein Papier oder einen Bekannten darauf aufmerksam gemacht worden?«

»Dafür hab' ich gesorgt. Durch besondere Beziehungen habe ich erreicht, daß er mit allen Rechten an die Stelle meines verstorbenen Sohnes Willi getreten ist, dessen Namen er auch trägt. Der Engländer William Smith existiert nicht mehr, auch nicht in England. Zwei Vettern in London, die darum wissen, sind abgefunden und haben auf jeden weiteren Anspruch verzichtet. Ich habe gerade noch dieser Tage, als mir mein Sohn von seinem Heiratsprojekt erzählte, an meinen Anwalt in London geschrieben, er soll sich auf der Präfektur nochmals davon überzeugen, daß kein Mann namens William Smith, der mit meinem Sohn identisch ist, mehr in den Büchern geführt wird.«

»Sie glauben also, daß ihn die Wahrheit arg erschüttern würde? Ich habe gerade den Eindruck, daß er Mannes genug ist, um die Wahrheit zu ertragen!«

»Jede! nur nicht die! das haben wir mit unserer Erziehung, die natürlich alle angeborenen Eigenschaften zu bekämpfen und restlos auszumerzen suchte, erreicht. Es vergeht nicht ein Tag, an dem er nicht stolz sein Deutschtum betont und gleichzeitig sein ›Gott strafe England‹ betet. Unser ganzes Leben war nur ein Zittern, er könnte jemals etwas von seiner Herkunft erfahren. In dieser Besorgnis haben wir schon oft versucht, gegen seinen Haß anzukämpfen; er ist zu tief, zu überzeugt – er wird zeit seines Lebens unverändert bleiben.«

»Wie in uns allen,« ergänzte der Geheimrat. »Und wenn Ihre Sorgfalt hier wirklich mit Erfolg alle angeborenen Eigenschaften unterdrückt hat – in seinem Unterbewußtsein leben sie gewiß fort; denn sie liegen im Blute und lassen sich vielleicht zurückdrängen, nie aber ausmerzen.«

»Ins Gegenteil kehren lassen sie sich,« widersprach Stoelping, »das ist es ja, was wir bei unserem Sohne alle Tage wahrnehmen können.«

Der Geheimrat schüttelte den Kopf.

»Das liegt doch wohl anders,« sagte er. »Aber ein Verdienst für Ihre Frau und Sie ist es darum doch – nicht zuletzt natürlich auch für Ihren Sohn. Wenn ich mir vorstelle: was muß der Ärmste an sich gearbeitet haben, um als Engländer so zu werden, wie er heute ist.«

»Ich kann also annehmen, daß Ihre Entscheidung dadurch keine Veränderung erfährt?« fragte Stoelping.

»Wenn es mir gelingt zu vergessen, was Sie mir da eröffnet haben, und was ich – ich sage es ganz offen heraus – lieber nicht gehört hätte, dann ja. Den Gedanken, einen Engländer zum Schwiegersohn zu haben, würde ich, glaube ich, nicht ertragen.«

»So wenig, wie ich den Gedanken in bezug auf meinen Sohn ertrüge. Aber ich versichere Sie, daß er mir nie kommt, in Jahren nicht ein einziges Mal. Und so wird es auch Ihrer Tochter gehen. Wenn etwas ihr auffällt, dann wird es seine ungewöhnlich starke Abneigung sein gegen alles, was englisch ist.«

»Trotzdem wird man es ihr jetzt, nachdem ich es weiß, sagen müssen,« erwiderte der Geheimrat. »Auch kann ich Ihnen nicht verhehlen, lieber Freund, daß es mich, je mehr ich darüber nachdenke, um so bedenklicher stimmt. Schließlich handelt es sich ja nicht nur um meine Tochter – man muß auch weiter denken –, der Gedanke, daß meine Tochter Kinder von einem englischen Vater zur Welt bringt, ist mir kaum erträglich. Ich habe sehr viel Verständnis für einen gesunden Kosmopolitismus, aber unter Ausschaltung Englands.«

»Ich gebe Ihnen mein Wort, daß Ihnen das niemand mehr nachfühlt als mein Sohn! Und wenn Sie mit Ihrer Tochter davon sprechen, dann bitte, heben Sie das alles so stark wie möglich hervor. Glauben Sie mir, was Sie nach dieser Richtung auch sagen werden, wird zu wenig sein.«

»Vielleicht ist es besser, Sie sagen es ihr selbst – und zwar jetzt gleich, in meiner Gegenwart.«

»Ich bin gern bereit dazu.«

»Nur eine Bedingung muß ich stellen. Ich habe Ihnen, ohne zu wissen, um was es ging, versprochen, daß ich schweige. Von meiner Tochter dürfen Sie das nicht fordern; vielmehr muß sie als die Nächstbetroffene, das Recht haben zu entscheiden, ob Ihr Sohn mit dieser Lüge in die Ehe gehen soll.«

Stoelping erschrak.

»Das ist eine schwere Forderung, Herr Geheimrat. Wie schwer sie ist, kann nur beurteilen, der sich, wie ich, 25 Jahre lang bemüht hat, ihm das zu ersparen.«

»Natürlich gilt das nur für den Fall, daß sich meine Tochter darüber hinwegsetzt. Tritt sie, was ich beinahe annehme, auf Grund Ihrer Eröffnungen zurück, so wird sich für ihren Rücktritt ein anderer Grund finden lassen.«

»Da weiß ich, bei aller Sympathie für Ihre Tochter, fast nicht, was ich wünschen soll,« sagte der Alte. »Denn es läßt sich einfach nicht voraussehen, wie mein Sohn auf diese Eröffnung reagieren wird.«

»Dasselbe gilt für meine Tochter. Denn wenn ich auch sonst immer weiß, wie etwas auf sie wirkt – in diesem ungewöhnlichen Falle habe ich nicht einmal eine Vermutung.«

Er rief den Diener und ließ Ilse zu sich bitten.

Im selben Augenblick öffnete sich auch schon die Tür, und Ilse trat ins Zimmer. Der alte Stoelping stand auf und ging ihr entgegen.

»Herr von Stoelping kommt deinetwegen,« sagte der Geheimrat.

Ilse tat durchaus nicht erstaunt.

»Sie wissen also . . .?« fragte sie.

»Ja, mein Fräulein, und ich möchte Ihnen sagen, auch im Namen meiner Frau, wie sehr wir uns der Aussicht freuen, Sie als die Braut meines Sohnes . . .« und dem alten Stoelping schien es, als wenn in diesem Augenblick ihre Hand, die er eben zur Bekräftigung seiner Worte fester drücken wollte, zu zittern begann, ». . . bei uns aufnehmen zu dürfen.«

Er ließ die Hand jetzt los, die sie schnell zurückzog, und wartete auf eine Antwort. Aber Ilse stand unbeweglich und sah ihn an, als warte sie, daß er noch etwas sagen würde.

Eben wollte der Geheimrat das Schweigen, das immerhin peinlich war, brechen, als Ilse den Vater ansah und in einem Ton, in dem weniger Angst als frohe Erwartung lag, fragte:

»Ist es so weit, Vater?«

Der alte Stoelping, der sie mißverstand oder – da er ja die Abmachungen seines Sohnes nicht kannte –, mißverstehen mußte, erwiderte:

»Ich freue mich sehr, daß Sie den Augenblick herbeiwünschen, uns werden Sie jederzeit willkommen sein.«

»Sie sind sehr liebenswürdig,« erwiderte Ilse, »aber das hängt ja wohl von Ihrem Sohne – oder doch von Umständen ab – ich meine von seiner amtlichen Tätigkeit; er hatte ja, glaub' ich, noch einen Prozeß, der ihn in Anspruch nahm, und den er erst zu Ende führen wollte!«

»So ist er!« sagte der alte Stoelping, »gewissenhaft bis zur Pedanterie. Als wenn so ein Prozeß einem davonliefe!«

Aber Ilse verteidigte ihn.

»Sie tun ihm unrecht. Wenn jemanden ein Vorwurf trifft, so bin ich es. Wirklich, er nimmt jede Rücksicht auf mich, und ich habe allen Grund, ihm dankbar zu sein.«

Der Geheimrat machte dem Gespräch ein Ende.

»Herr von Stoelping hat dir etwas Ernstes zu sagen,« wandte er sich an seine Tochter, »höre ihn ruhig an. Sage nicht ja, nicht nein; denn du wirst im Augenblick gar nicht imstande sein, die Bedeutung abzuschätzen. Das will in Ruhe überlegt und in all seinen Folgen bedacht sein.«

Ilse, die nur einen Gedanken hatte, dachte sofort an Günther. Wenn er etwa die Abmachungen seines Sohnes kannte und nun kam, um ihr auseinanderzusetzen, was sie längst wußte: daß das nicht ginge, daß er sich strafbar mache, daß es ihre Pflicht sei, ihn davon zurückzuhalten, daß auf diese Weise statt eines Menschen drei unglücklich würden – sie war entschlossen, allen Einwürfen, die gewiß logisch und verständig und berechtigt waren, damit zu begegnen, daß sie erklärte: Ich habe sein Wort! Schriftlich habe ich es! Und wenn er Ehre im Leibe hat, dann muß er es halten!

Sie setzten sich, und Stoelping erzählte noch einmal den ganzen Hergang, vom Beginn des Krieges an bis zu dem Tage, wo der elternlose Knabe in sein Haus kam, wie er bei ihnen aufwuchs, unter Leitung der Eltern alles abstreifte, was fremd und nicht deutsch an ihm war; wie sein Charakter sich bildete, und wie er in seiner Gesinnung immer fester wurde, so tief in seinem deutschen Empfinden und so stark in seinem Haß gegen England, daß er ihnen, den Eltern, schon beinahe darin zu weit ging. Und Stoelping versicherte am Schluß:

»Hätte er sich, was ja trotz unserer Erziehung immerhin möglich war, anders entwickelt, so wäre es ein Betrug und ein Verbrechen von mir gewesen, wenn ich ihm die Ehre gelassen hätte, Deutscher zu sein. Ich hätte ihm dann den ganzen Hergang erzählt und ihn dahin zurückgeschickt, wohin er gehörte. Es wäre dann eben ein Engländer mehr, ein Deutscher weniger auf der Welt. – Gewiß, das wäre für mich und vor allen Dingen für meine Frau eine schmerzliche Enttäuschung gewesen, und wir sind beide froh, daß es anders gekommen ist.« – Der alte Stoelping war ordentlich erschöpft, atmete tief auf und sagte:

»So, mein verehrtes Fräulein, das war das, was ich Ihnen von meinem Sohne zu sagen habe. Nun entscheiden Sie, ob Sie, nachdem Sie das wissen, noch glauben, seine Frau werden zu können.«

Ilse begriff nun erst, was in dem jungen Stoelping vorging; und die inneren Konflikte, von denen er in seinem Briefe sprach, und für die sie bisher kein Verständnis gehabt hatte, wurden ihr jetzt klar. Ein aussichtsloser Kampf war das! Denn nur eine verständnisvolle Leitung und selbstlose, opferwillige Hingabe – und die setzte Liebe voraus auf beiden Seiten – konnte die inneren Kämpfe zu dem Ende führen, das er ersehnte. Alles andere mußte versagen; das bewies am besten die Selbsttäuschung des alten Stoelping, dessen fünfundzwanzigjährige Mühen so ohne jeden Erfolg geblieben waren.

Und da Ilse wußte, daß sie ihn nie lieben würde, so wurde sie nachdenklich. Er fing an, ihr leid zu tun. Sie überlegte, ob es nicht gewissenlos von ihr war, daß sie ihm durch diese Ehe für immer die Möglichkeit nahm, ein anderer zu werden. Es war ja nicht ausgeschlossen, daß, wenn sie jetzt zurücktrat, Stoelping eines Tages seine Gefühle einer anderen zuwandte. Vielleicht, daß die dann seine Gefühle erwiderte und bewirkte, was eben nur beiderseitige große Liebe bewirken konnte.

Diese Gedanken beschäftigten Ilse, während der alte Stoelping den Eindruck festzustellen suchte, den seine Erzählung von der Herkunft seines Sohnes auf sie machte. Nicht ein einziges Mal hatte sie ihn unterbrochen, hatte weder Erstaunen geäußert, noch Fragen gestellt. Und als er zu Ende war und sie mit einer gewissen Feierlichkeit fragte, ob sie nach alledem noch glaube, seine Frau werden zu können, da antwortete sie und dachte dabei nicht an seine Abstammung, sondern nur an ihre Verantwortung:

»Sie kennen Ihren Sohn? Ist er wankelmütig? Besteht seinem ganzen Charakter nach die Möglichkeit, daß er sich bald in eine andere verliebt?«

»Ich habe den ganz bestimmten Eindruck, daß er ein Gefühl wie dies nur einmal in seinem Leben aufbringt.«

»Das beruhigt mich,« erwiderte Ilse.

»Beruhigt dich?« fragte der Geheimrat erstaunt. »Wenn du wüßtest, daß ihm ein Verzicht leicht fällt, müßte dich das doch weit mehr beruhigen.«

»Wieso?« erwiderte Ilse und fuhr sich mit der Hand über Stirn und Augen und dachte nach. »Natürlich, du hast ja recht, das wäre ja weit beruhigender . . .« sie sah ihn an. »Du meinst also, ich hätte die Pflicht . . .? Oder wie meinst du das?«

»Wem gegenüber?« fragte der Geheimrat, der natürlich die Gedanken seines Kindes nicht erriet.

»Das geht alles so durcheinander,« sagte Ilse und war sich klar, daß ihre Verantwortung für Stoelpings Glückseligkeit in keinem Verhältnis zu ihren Pflichten gegenüber Günther stand, für den weit mehr als nur das Leben auf dem Spiele stand. Und so sagte sie denn:

»Herr von Stoelping, es tut mir leid; aber ich habe das Wort Ihres Sohnes; ich habe es schriftlich. Ich bestehe darauf! Und wenn er ein Ehrenmann ist, so wird er es halten.«

Stoelping und der Geheimrat sahen sich an.

»Aber mein liebes Fräulein,« sagte der Alte, »er ist ja weit entfernt, es zu brechen.«

»Nun also!« erwiderte Ilse.

»Ja, aber du bist ja gar nicht im Bilde,« sagte der Geheimrat besorgt, »du bist mit deinen Gedanken ja ganz wo anders! Hier handelt es sich darum, daß Stoelping gar nicht der natürliche Sohn des Generalstaatsanwalts ist; er hat ihn nur angenommen – an Kindes Statt. – Verstehst du das?«

»Das habe ich wohl verstanden!«

»Aber das hast du wohl überhört, daß er seinem Blute nach Engländer ist?«

Überhört hatte sie's nicht; aber sie hatte nicht recht einen Begriff damit verbunden. Eben weil infolge der anderen Bedenken ihr nicht Zeit geblieben war, darüber nachzudenken. Jetzt, in dieser krassen, unvermittelten Form, in der der Geheimrat es vorbrachte, wirkte es stärker.

»Engländer?« wiederholte sie; »der Ärmste! – Aber ganz recht natürlich! Sie sagten es ja! Ich entsinne mich; das gab mir ja erst die Deutung für so vieles, was ich mir nicht erklären konnte.«

Und als der alte Stoelping nochmals beteuerte, daß nichts, aber auch nichts mehr in ihm sei, was an seine Herkunft erinnere, da lächelte sie, schüttelte den Kopf und sagte:

»Da irren Sie, Herr von Stoelping, davon ist noch viel in ihm.«

Als sie aber Stoelpings Entsetzen sah, milderte sie es mit den Worten: »Ich kenne mich übrigens darin nicht aus! Ich war nur ein einziges Mal in meinem Leben, und auch da nur ein paar Stunden lang, mit einer Engländerin zusammen, und zwar in der Dresdener Pension. Sie war, glaube ich, aus Birmingham. Da aber sämtliche deutsche und französische Pensionärinnen für den Fall ihres Bleibens mit Obstruktion drohten, so reiste sie abends wieder ab.«

»Das ist durchaus begreiflich,« meinte Stoelping, »und gerade bei meinem Sohne dürfen Sie bei Gefühlsäußerungen dieser Art auf volles Verständnis rechnen.«

»Du wirst nun also zu entscheiden haben,« sagte der Geheimrat zu seiner Tochter, »ob du glaubst, dich über die Herkunft des Herrn von Stoelping hinwegsetzen zu können.«

»Wenn Herr von Stoelping um seine Herkunft gewußt und sie mir verheimlicht hätte, so wäre das eine Unaufrichtigkeit, mit der ich mich schwer abgefunden hätte. Da er es nicht wußte, heute noch nicht weiß, und es, was ich ihm sehr wünsche, hoffentlich nie erfahren wird, so trifft ihn kein Vorwurf. Und was mich betrifft, – nun, ich werde versuchen zu vergessen, was Sie mir gesagt haben. – Ein bißchen Überwindung mehr – ich weiß ja so nicht, wie ich es ertragen werde!« – Sie erschrak, als sie wahrnahm, daß sie sich vergessen hatte. – »Sie verzeihen, Herr von Stoelping, was ich da sage, das steht natürlich damit in keinem Zusammenhang – ich habe Kummer und viel durchzumachen –, daher kommt es, daß ich zerstreut bin.«

»Kummer?« fragte Stoelping teilnahmsvoll. »Oh, das tut mir leid – und weiß mein Sohn darum?«

»Gewiß! Er steht mir bei – er tut, was er kann – er ist sehr hilfsbereit; wirklich, ich bin ihm dankbar.«

»Ei tut nur seine Pflicht, wenn er alles versucht, um es Ihnen zu erleichtern.«

Ilse lächelte; um ihren Mund lag wieder der schwere, herbe Zug.

»Glauben Sie? – Ich weiß es nicht. Wer weiß denn überhaupt, ob er recht tut. Es ist sehr schlimm, wenn man jemanden weh tun muß. Ihm fällt es gewiß auch nicht leicht – so wenig, wie mir. Aber wir müssen eben beide! und stehen beide unter einem Zwange – er, wie ich. Wenn Ursachen und Wirkungen auch noch so verschieden sind. Wenn jemand ihm nachfühlt, so bin ich's.«

Der alte Stoelping verstand kein Wort.

»Ja, was geht denn nur vor?« fragte er und sah bald Ilse, bald den Geheimrat an.

»Glauben Sie mir, Herr von Stoelping, nichts, was wir nicht verantworten könnten; er sowohl wie ich. Wir werden zusammengehen, und Sie werden nie über mich zu klagen haben.«

»Ja, ist es denn etwas anderes als Liebe, was Sie zusammenführt?« fragte Stoelping.

»Nein,« erwiderte Ilse und senkte den Kopf, »die Liebe ist schuld daran!«

Der alte Stoelping stand auf und trat vor Ilse hin.

»Ich will nicht in Sie dringen, liebes Fräulein. Aber mir scheint, daß Sie Schweres durchmachen. Ob das mit meinem Sohn zusammenhängt, weiß ich nicht. Auch nicht, ob Ihr Vater darum weiß. Aber wenn Sie fühlen, daß Ihnen die Mutter fehlt, liebes Fräulein Ilse,« – und er legte die Hand auf ihren Kopf, »dann kommen Sie zu uns; es gibt keinen besseren Menschen als meine Frau. Wenn Sie sich quälen und sich nicht mehr zurechtfinden und sich verzweifelt fragen: ›wohin mit meinem Kummer?‹ und Sie dann niemanden haben, der Sie versteht, glauben Sie mir, das Herz meiner Frau, die selbst viel gelitten hat, wird mit Ihnen fühlen.«

Ilse stand auf, ergriff die Hand des alten Stoelping, küßte sie und stürzte, während ihr die Tränen aus den Augen schossen, aus dem Zimmer.

»Ist sie oft so?« fragte Stoelping den Geheimrat.

»Erst in letzter Zeit, es ist das viele Neue, das jetzt auf sie einstürmt. Ich hoffe, sie wird bald zur Ruhe kommen.«

»Was haben Sie für einen Eindruck? Sie kennen sie besser. Wie hat sie es aufgenommen?«

Der Geheimrat zog die Schultern in die Höhe:

»Das läßt sich schwer sagen.«

»Glauben Sie, daß ihre Erregung auch nur teilweise ihren Grund in meinen Mitteilungen hatte?«

»Kaum; mir schien es eher, als wenn sie sich in einer Art Anästhesie befinde. Sobald sie ruhiger geworden ist, werde ich noch einmal mit ihr davon sprechen.«

»Aber schonen Sie sie!« bat der alte Stoelping, »sie scheint ein sensibler Mensch zu sein. Ich möchte nicht gern, daß man ihr mit einer Äußerung, die von uns kommt, weh tut. Wir alle werden jedenfalls jede erdenkliche Rücksicht auf sie nehmen.«

»Ich weiß, Herr von Stoelping, wohin mein Kind kommt, und daß es bei Ihnen gut aufgehoben ist.«

»Ich liebe so fein empfindsame Naturen. Sie haben ein reiches Innenleben. Und für jemanden, der es zu behandeln versteht, kann es die Quelle eines Glücks werden, die das ganze Leben lang ausreicht.«

»Das weiß niemand besser als ich,« erwiderte der Geheimrat.

»Ich kann Ihnen nachfühlen, wie schwer es Ihnen wird, sie fortzugeben.«

»Wenn ich wenigstens wüßte, daß sie glücklich wird.«

»Das kann Ihnen kein Mensch voraussagen. Aber hoffen wir's!« Er drückte dem Geheimrat die Hand und hatte das Gefühl, als wäre er in einem Trauerhause.

Unten vor der Tür nahm er den Hut vom Kopf und holte mehrmals tief Atem, um die Beklemmung loszuwerden. Dann erst stieg er in seinen Wagen, und während der sich in Bewegung setzte, sagte er laut vor sich hin:

»Das habe ich mir einmal anders gedacht!«

 


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