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13

Nach einer Stunde verschied der Priester. Kapitän Burte war nicht zugegen, später nahm er alles zu Protokoll; jetzt stand er auf der Brücke und lotste den Eisbrecher durch die Rinnen. Der Erste Offizier befand sich am Ruder, das Eis krachte gegen die Stahlwände, das Schiff fuhr mit geringer Kraft. Reling und Deck überzogen sich schnell mit Eis. Am Heck kamen Spritzer über, das Wasser gefror noch in der Luft zu Eis. Sault St. Marie versank achteraus, es lag in Eis und Schnee und war nicht mehr zu erkennen. Allein ein hoher Schornstein ragte zum Himmel, in der eisigen Luft bebte er hin und her und es war nur ein Streifen im Eis, nichts mahnte an menschliche Wohnungen.

Die Rinnen wurden immer enger, das Eis begann zu pressen, das Schiff schraubte sich eine Meile zurück und ging mit äußerster Kraft voraus. Jetzt hob sich der stumpfe Bug aus dem Wasser, das Heck sank noch tiefer.

Dünner, feuriger Rauch quoll aus dem Schornstein und aus dem Bunker strömte eine hitzige Luft empor, welche das ganze Schiff mit Eisflocken überzog. Mit dumpfem Getöse bebten die Schiffswände, der eisige Fahrtwind schnitt durch die offenen Gänge. Die kurze Meile flog ab, der Bug klatschte auf das Eis und schob und preßte es, und wie Schüsse knallten die wankenden Eisblöcke aufeinander.

In diesen Minuten starb der Priester. Jens meldete es dem Ersten Offizier, Kapitän Burte blickte starr über Backbord in das brodelnde Eis. Er ging am Stock, sein elender Körper steckte in Watte und Fellen, seine Lippen lutschten an einem braunen Opiat.

Gegen Mittag wurde das Eis dünner, streckenweise saugte der Eisschlamm die Fahrt ab, das ganze Schiff lag in einem Wirbel von werdendem Eis. Die offene See war in Sicht, voraus lag ein großer Segler im Eisschlamm, bis an die Masten war er mit Eis überzogen. Es war nur eine Wache an Bord, die Mannschaft war über das Eis nach Sault St. Marie gezogen.

Die Schrauben warfen den Eisschlamm in die Luft. Es brodelte und gurgelte um das Schiff, der Seewind pfiff über den trägen Schlamm, und noch immer spiegelte sich die offene See voraus.

Kapitän Burte ließ sich von zwei Mann über Deck zur Steuermannskajüte führen. Er wollte den toten Priester sehen.

Wer erschoß ihn? forschte der Kapitän und sah dem Toten ins Gesicht. Wer ihn erschoß, fragte ich!

Der blonde Priester saß neben der Leiche und las immer noch die Sterbegebete, obgleich alles lange vorüber war.

Der Schuß galt mir, sagte Jens. Der Mörder war mein Gastgeber. Es war der Fischer Stamer, der ihn erschoß.

Stamer? murmelte Burte und beugte sich über den Toten. Er sagte: Ein schönes Gesicht … er hat einen starken Bartwuchs. Wir wollen ihn noch scheren lassen, dann über Bord mit ihm.

Dem freundlichen Priester erstarben die Worte, er blickte auf und sagte: Er hat seine Passage bezahlt, Kapitän. Nehmen Sie ihn mit nach Buffalo.

Nein, sagte Burte, ich bin nicht so verrückt. Er starb an Bord, ich wußte nichts von dem Schuß, keiner weiß davon, ich habe auch keine Totenkammer an Bord. Im Logbuch werde ich ihn als Todkranken führen, den ich aus Gnade aufnahm, verstanden! Ich vertrage bei meinem elenden Zustand keine Verhöre. Er war Priester, also ist er sowieso bei Gott. Basta!

Kapitän, bat Jens, behalten Sie ihn an Bord!

Wie, erwiderte der Kapitän, Sie wollen mir Vorschriften machen! Sie haben keine Passage bezahlt, ich nehme Sie statt der Leiche mit, das macht sich wett, haha! bedanken Sie sich bei ihm, geben Sie ihm die Hand!

Und Burte begann einen Psalm zu singen, leise und mit einem weinerlichen Schlucken in der Kehle, er zog die Silben lang … An den Wassern der Erde, sang er, tropfen, tropfen die Tränen … ein ungereimtes, merkwürdiges Zeug. Sein Gesicht war schmerzlich verzogen, offenbar wollte er sich selber zu Tränen rühren.

Jens fühlte einen stechenden Schmerz in seinem Fuß, der Schmerz war betäubend und es war seltsam, daß ihn das wehe Gefühl hier an der Bahre überfiel. Er versuchte, den Fuß auf den Tritt der Bahre zu stellen. Burte sah es und schielte auf seinen Fuß. Ja, wart du nur, dachte Jens, ich stelle den Fuß doch auf die Bahre. Er berührte die Bahre mit dem Fuß. Burte unterbrach seinen Gesang, die Bahre wackelte, es war ein leichtes Gestell.

Der Tote fällt, sagte Burte, stellen Sie Ihren Fuß von dem Gestell, Sie wollen ihm wohl noch einen Tritt geben!

Jens zog den Fuß zurück und Burte sagte: Es reicht bei Ihnen nicht zu einer Minute Feierlichkeit, für alles werden Sie noch die Rechnung zahlen müssen!

Jens ächzte, der Schmerz fiel ihn doppelt stark an. Es war keine Feierlichkeit in ihm. Er hatte sich vorgestellt, daß ihn Schmerz und Reue über den Tod des Priesters packen würden, er wollte seinen Kopf beugen, die Tränen sollten ihm fließen, eine Sekunde glühender Innerlichkeit … Der Fuß spielte ihm einen Streich. Dieser Schmerz brachte ihn um seine Selbstbeherrschung und er schrie Burte an: Sie stehen näher am Ende als Sie denken! Bei mir ist es nur der Fuß, der mich drückt.

Ein Fuß kann längere Qualen bringen als ein Magen, erwiderte ihm Burte ruhig. Stellen Sie Ihren Fuß ruhig hoch, ich kann meinen Magen nicht an die Bahre hängen.

In diesem Augenblick kam der Erste Offizier aufgeregt in die Kajüte und sagte: Kapitän, wir steuern den St. Marys River an, das Wasser ist offen.

So steuern Sie ihn an, sagte der Kapitän gleichgültig.

Ich kenne seine Wasserführung nicht, Kapitän.

Sie sind doch Steuermann, was wollen Sie von einem kranken Mann nicht alles wissen! Stören Sie meine Trauer nicht, zum Henker, Sie Grobian!

Der Erste schwieg, er ging aber nicht, er starrte auf die Bahre.

Nach einer Weile sagte Burte: Lassen Sie stoppen, wir wollen ihn über Bord lassen!

Jens stöhnte, er war nicht zu seiner Reue gekommen und nun sollte alles vorbei sein. Er gedachte aber noch den Augenblick zu finden, wenn die Leiche über Bord ging. Ich bin es ihm schuldig, er ist für mich dahingegangen, besser ich läge an seiner Stelle, mir geschähe recht, denn ich bin Bianca ins Garn gegangen, nicht dieser da. –

Das Schiff stoppte, Kapitän Burte ließ sich aber nicht mehr sehen. Die Sonne schien ein wenig, der Maschinist kam mit seinen Männern über die Eisentreppe gepoltert, der freundliche Priester harrte bis zur letzten Sekunde an der Seite seines Freundes aus. Er hatte seine blanke linke Hand auf der Leiche liegen, mit der rechten hielt er sein Gebetbuch. Jens stand zu Füßen der Bahre und seufzte vor Schmerzen. Der Fuß, der Fuß!

Er stand noch lange nachdem an Deck, als der Eisbrecher mit der Strömung schon den Weg durch den St. Marys River suchte. Die drängenden Wasser des großen Sees peitschten das Heck, die See war aufgerührt, winzige Eisschollen trieben vor dem Bug, in einem Strudel jagte alles dem Kanal entgegen. Das weiße Land kam in Sicht, dort durch die klaffenden Strudel und Fontänen wälzten sich die Eiswasser des Gordon-River heran, einige Meter über dem Wasser lag ein Schneewirbel. Jens wankte zur Steuermannskajüte, sie war verschlossen. Er ging zum Niedergang und setzte sich auf die unterste Stufe; in der heißen Luft begann er zu husten, er hatte keine Gedanken im Kopf und schnitt das Schuhleder über seinem schmerzenden Fuß auf.

Da erschien der freundliche Priester am Niedergang und rief ihn von oben an: Der Kapitän gab mir den Schlüssel zur Steuermannskajüte, erweisen Sie mir die Freude und wohnen Sie bei mir!

Jens lächelte nach oben, er hatte alles gehört und die Güte des Priesters zog süß durch seine Ohren. Er antwortete stockend: Ich kann es nicht annehmen!

Der Geistliche kam die Stufen herab, er sah den aufgeschnittenen Schuh und den geschwollenen Fuß. Kommen Sie! murmelte er, mein Freund hat ein gutes Öl in seinem Koffer. Ich werde Ihnen den Fuß einreiben! –

Und mit dem ersten Tropfen Öl, der auf seinen Fuß fiel, kam auch seine Reue. Als es dunkelte, kroch er zum Heck und starrte in das strudelnde Wasser. Alles ist in einem, dachte er und beugte sich mit dem Munde zu den Decksplanken und küßte das Eis. Es war ihm zu Sinnen, als flossen alle Wasser der Welt in diesem einen Punkt zusammen. Er schluchzte, die Trauer drückte ihn zu Boden.

 

Der Erste Offizier hatte das Kommando übernommen, Kapitän Burte sank ganz in sich zusammen, und der Erste wollte nach Buffalo und nicht nach Quirie, das in der südlichsten Ecke des Huron-Sees liegt, er mied die Macinack-Inseln und jagte unter Volldampf in den St. Clair-River. Hier kannte er sich aus, er zählte die hundert Inseln in seinem Kopf auf, er kannte die schmale Straße durch den seichten St. Clair-See. Zwei Mann warfen durch das dünne Eis Tag und Nacht das Lot, der Erste balancierte auf der Brücke, er hatte es eilig, Burte in Buffalo an den richtigen Arzt zu bringen. Noch waren die Wasser des Erie-Sees nicht erstarrt, das Eis aber schob sich von Norden vor, die Küsten schlossen sich ganz. Wie aber wird es sein, wenn der Erie-Kanal und der Buffalo-Creek im Eis gerinnen. Dann liegt der Eisbrecher im Kampf mit den Schollen und Burte muß über das Eis nach Buffalo getragen werden. Feuer auf! Die Kohlen wurden knapp, das Schiff war leichter geworden und lag über der Kiellinie, es hatte aber seine Geschwindigkeit um drei Knoten erhöht. Jens kroch durch die Bunker und maß die Kohlen. Er legte dem Ersten seine Rechnung vor, in drei Tagen mußten sie sich durch den Erie-Kanal schleusen oder sie lagen im Eis vor Buffalo fest. Der Erste sagte: Schweigen Sie Burte gegenüber – ich sollte nach Quirie, aber sagen Sie selbst, in Quirie wäre Burte gestorben.

Burte weiß, daß Sie nach Buffalo steuern.

Er weiß es. Aber er schweigt aus Klugheit. Er schiebt mir alle Schuld in die Schuhe. Wir hatten Order gehabt, in Quirie zu überwintern. Gehen Sie und unterhalten Sie den Kapitän mit Ihren Schnurren.

Ich gebe keine Schnurren zum besten, entgegnete Jens scharf.

Aber um des Himmels willen, was tun Sie denn den lieben langen Tag in seiner Kajüte!

Sie sollten westlicher steuern, sagte Jens, wir kommen früh genug in den Eisschlamm.

Woher haben Sie Ihre Kenntnisse? Gibt Ihnen Burte insgeheim Unterricht?

Jens schwieg von seinen Kenntnissen. Er wartete, bis der Erste das Ruder umlegte, danach ging er zur Kapitänskajüte.

Der Priester befand sich in der Kajüte. Er hatte ganz und gar Besitz ergriffen von Burtes Seele. Mit seinem freundlichen Gesicht bestrickte er alle, seine Füße steckten in großen Pelzschuhen, seine Sohlen knarrten und allein, daß seine Stiefel knarrten, war genug Lebensöl für Burte, er schielte auf die knarrenden Stiefel, deren schweres Leder in Falten lagen. Er lispelte: Ehrwürden, welche Güte in Ihren Schuhen liegt!

Die Güte kommt von Gott, sagte der Priester einfach. Es sind Ihre kranken Augen, die ein Geheimnis in den Falten meiner Stiefel suchen.

Burte widersprach leise. Dieselbe Güte liegt in Ihren Händen, Sie haben dicke Buddhafinger. Ich habe einen Buddha gesehen, der hatte auch Ihr Gesicht.

Sie irren, Burte, entgegnete der Priester freundlich, Buddha ist ein großer Gott, Sie lassen sich irre führen in Ihrer Krankheit, meine Finger sind sehr sterblich.

Hm, sagte Burte, was macht der Erste? steuert der Esel westlicher?

Jens zeigte ihm den Kurs auf, den das Schiff nahm und Burte versank in Schweigen. Nach einer Zeit fragte er Jens: Wie steht es mit Ihrem Fuß? Springt die Sehne noch über?

Nein, sagte Jens gerührt, daß sich einer nach seinem Fuß erkundigte. Die Sehne springt nicht mehr, sie ist steif.

Dann werden Sie hinkend bleiben, jammerte Burte.

Der Priester sagte: Das liegt ganz an seinem Willen, er kann den Fußfehler mit seinem Verstand korrigieren.

Burte rieb sich seine dünnen Wangen und sagte: Was aber wird seine Freundin in Buffalo sagen! Wie nannte sie sich?

Jens wurde blaß, woher wußte Burte von seinen Absichten.

Nun? fragte Burte, wie heißt sie?

Cornelia, antwortete er nach der Wahrheit.

Haben Sie eine Heilige im Kalender, Ehrwürden, die Cornelia heißt? Nein! Dann nehmen Sie diesen Tag, feiern Sie ihn als Cornelientag. Welches Datum zeigt Ihr Kalender?

Es ist der fünfzehnte Dezember, Kapitän, sagte der Priester, es blühen keine Cornelien im Winter.

Ein Reminiscere, Ehrwürden, seien Sie barmherzig, fuschen Sie dem Heiligen Vater eine neue Heilige in den Kalender!

Der Priester schwieg zu dem Spott, Jens zeichnete weiter den Kurs des Eisbrechers auf. Sonderbare Stimmungen erhielten Leben in ihm, er hatte ihren Namen genannt und fühlte, daß von ihrem Namen ein Atem ausging, als säße sie neben ihm. Er schloß die Augen, sein Kopf wurde schwer vom Gedenken an sie …

Der Erste kam und meldete, daß zwei Strich nördlich ein Eisbrecher vorüberziehe. Er habe ihn angeflaggt, der Eisbrecher komme vom Erie-Kanal, der Kanal sei eisfrei und der Buffalo-Creek werde offen gehalten.

Burte tat, als höre er es nicht. Der Priester lächelte schmerzlich, er gedachte seines Freundes. Jens aber begann von neuem zu denken; hatte er recht gehört, dann ging alles glatt von statten, seine große Reise nahm ein Ende. Das Schiff lief seine Knoten, in zweimal vierundzwanzig Stunden wird Buffalo sichtbar und ein großer Hafen nimmt den Eisbrecher auf. Das Ende ist da. Es war ein weiter Weg aus dem Gebirge bis hierher, eine unendliche Reise von St. Martin her, einiges liegt dazwischen; ein Hund, der Stone hieß, ein Mann, welcher Stamer hieß und sein Mädchen … ein prächtiges Gefolge. Ein Priester aus der Weißfisch-Bay starb, er liegt auf dem Grund des St. Marys-River und ist bei Gott.

Eine große Reise, ein trübseliges Gefolge zieht mit ihm in Buffalo ein und wenn er vor Cornelia steht, dann weist er mit der Hand nach links von seinem Herzen und wird ihr sagen, dort ging Stone, er erfror, ich habe ihn verbrannt. Du kanntest Stone. Aber sieh, das ist nur einer, der nicht wiederkehrt. Stamer wird auch nicht zurückkehren, es ist mir, als habe er sich auf dem Wege nach seinem Hause … Ich denke es nicht weiter aus, er hatte ohne sichtbaren Anlaß jemanden erschossen, der die Weihen trug. Ich habe ihn todwund getragen, später starb auch er. Da war ein Mädchen, Bianca mit Namen, ihr Vater war ein Geldmensch … Ich vergaß zu sagen, daß Stamer mein Gastgeber war, er hatte eine Tonne Lachs im Haus und eine Liebschaft mit Bianca. Fast vergaß ich den weißköpfigen Adler und den Windbruch. Ja, betrachte nur meinen Fuß … So ist mein Herz voll großer Erlebnisse, zuletzt wohnte ich im ›König von Portugal‹ und ein Fellhändler war mein Nachbar. Wie kann dieser Fellhändler Gott danken, daß er nicht in nähere Beziehungen zu mir trat.

 

So ward es Tag und wieder Nacht, der Priester schnürte seinen Koffer, er hatte jetzt zwei Koffer zu tragen. Die Maschinen arbeiteten leise, Kapitän Burte schlief. Land war in Sicht, eine weiße Dünung hob sich gegen den Horizont ab, Fischkutter waren auf See, dazwischen jagten Räumboote.

Am Abend lag das Schiff vor dem Erie-Kanal, Buffalos Lichter röteten den Himmel. Jens flocht aus Stricken eine Tragbahre für Kapitän Burtes Auszug. Es wurde Nacht, Mann für Mann der Besatzung kam an Deck und spähte gegen den erleuchteten Himmel. Am Morgen schien die Sonne, die Wasser aber waren grau und weiß durchzogen. Der Erste Offizier winkte dem Lotsen ab. Die Stadt dämmerte auf und es war ein Geräusch in der Luft, ein ewiges Summen, ein Geräusch von Menschen …


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