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24. Ein Geständnis

Niemand hätte in dem Manne mit dem zerzausten Kopf- und Barthaar, mit dem zerlumpten und zerfetzten, mit getrocknetem Schlamm förmlich überzogenen Anzug, den sonst so eitlen Lord Westerly erkannt, und doch war er es.

Er saß in dem Häuschen des Bootes, welches eben in einen Seitenarm der Dschamna einbog, neben einem Weibe, in welchem wir Phöbe wieder erkennen.

Westerly hatte ihr eben seinen Plan, oder vielmehr seinen ihm gegebenen Befehl, auseinandergesetzt, wie er an einer passenden Stelle das Boot verlassen und sich dann mit den verfolgten Engländern und Sepoys in Verbindung setzen wolle. Dann solle diesen Zeit gelassen werden sich zu sammeln, und sei dies geschehen, dann werde er, Westerly, ihren Aufenthaltsort verraten, sie sollten umzingelt und bis auf die niedergemacht werden, an deren Gefangenschaft den Rebellen viel gelegen war.

Dafür, daß Lord Canning den Feinden in die Hände fiel, bevor die Metzelei begann, war schon gesorgt, denn seine Person mußte unbedingt geschont werden. Das Boot hatte ja den Zweck, ihn abzuholen.

Westerly tat natürlich, als handle er ganz nach eigenem Gutdünken und aus eigenem Antriebe, weil er eben auf Seite der Indier stände, und Phöbe widersprach ihm nicht.

Dann aber nahm das Gespräch eine ganz andere, für Westerly verblüffende Wendung.

»Wenn ich Sie nun bäte,« sagte Phöbe lächelnd, »Sie sollten mich als Gehilfin bei Ihrem gefahrvollen Unternehmen verwenden, würden Sie mir diese Bitte abschlagen?«

»Sie scherzen!«

»Es ist mein Ernst. Ich möchte Sie begleiten!«

Erstaunt sah Westerly sie an.

»Aber aus welchem Grunde denn nur?«

»Nehmen Sie an, nur meine bekannte Lust an Abenteuern triebe mich dazu.«

Westerly warf ihr einen mißtrauischen Blick zu.

»Ich bitte Sie, Mylord,« fuhr Phöbe schnell fort, »glauben Sie ja nicht, ich sei Ihnen als Spionin, als Aufpasserin zugesellt worden.«

»Wirklich nicht?«

»Ich schwöre es Ihnen. Ich würde Ihnen dann nicht so offen das Geständnis machen, und glauben Sie etwa, man würde zu solch einem Posten ein Weib erwählen?«

»Das ist allerdings wahr. Aber warum wollen Sie mich begleiten?«

»Eben, um bei dieser abenteuerlichen Fahrt zugegen zu sein. Ich möchte – ich will es offen bekennen – mich gern in Ihrer Nähe befinden.«

Westerly fühlte sich geschmeichelt, er ergriff ihre Hand. »Dennoch, liebe Phöbe,« sagte er, sie zum ersten Male so vertraut anredend, »es kann nicht sein! Bedenken Sie auch, daß die Reise durch Dschungeln, Sümpfe und dichte Wälder geht?«

»Ich habe es bedacht.«

»Daß ich tagelang herumstreifen, Hunger und Durst leiden muß, ehe ich die Engländer treffe, beständig den Angriffen wilder Tiere ausgesetzt bin?«

»Gern will ich alles ertragen – in Ihrer Gesellschaft.«

»Hm, sehr liebenswürdig! Es wäre schön, wenn wir so einige Tage zusammen lebten, vielleicht beeilte ich mich gar nicht so sehr, die Verfolgten zu finden, sondern suchte mir erst ein idyllisches Plätzchen unter Palmen. Aber wirklich, Phöbe, es geht nicht, ich kann's nicht zulassen.«

»Warum nicht?«

»Ihre Haarfrisur, Ihre Tracht ...«

»O, wenn's weiter nichts ist,« lachte Phöbe, »in einer halben Stunde will ich so aussehen, als ob ich mich tagelang in den Dschungeln umher getrieben hätte, ich will gar keinem Menschen mehr ähnlich sehen. Wir würden ein schönes Paar abgeben. So, wie wir jetzt sind, passen wir auch gar nicht zusammen.«

»Sie wissen alle Widersprüche zu beseitigen, nur meinen letzten nicht.«

»Welcher ist das?«

»Sie sind als offener Feind Englands bekannt, man könnte Sie erkennen. Mich dagegen, wenn ich mich in meinem jetzigen Zustand sehen lasse, hält man unbedingt für einen aus Delhi unter Todesgefahr Entkommenen, aber Ihre Begleitung könnte mir verderblich sein.«

»Auch auf diesen Widerspruch war ich gefaßt. Sie irren nämlich ganz gewaltig, mich kennt niemand.«

»Oho, da bin ich anderer Meinung!«

»Nun, wer sollte mich denn kennen?«

»So zum Beispiel, zum Beispiel ...«

Westerly zerbrach sich förmlich den Kopf.

»Vielleicht Leutnant Carter?« kam sie ihm zu Hilfe.

»Richtig, Eugen! Der kennt Sie von Wanstead aus.«

»Der liegt verwundet in Delhi.«

»Und wenn er genesen ist?«

»So wird er getötet, falls er nicht zu den Indiern übertritt, was er jedenfalls tut. Nein, nein, mit so etwas können Sie mir nicht kommen. Und wenn wirklich jemand wüßte, daß ich mit den Rebellen harmoniere, so würde dies doch nichts schaden, denn ich werde mich ganz unkenntlich machen. Überdies liegen bei Ihnen auch Verdachtsgründe vor.«

»Bei mir, dem Lord Westerly?«

»Denken Sie an Reihenfels!«

»Bah, wer weiß, wo er steckt! Ich fürchte ihn nicht; er sollte nur wagen, gegen mich aufzutreten.«

»Denken Sie an Charly!«

»Wer ist das?«

»Der Diener Mister Woodfields. Er ist in Delhi geblieben.«

»Hahaha, was kümmern mich solche Burschen? Die sind überhaupt alle tot. Torheit, vor denen fürchte ich mich nicht!«

»Eine ebensolche Torheit wäre es, wenn ich ein Erkanntwerden fürchtete. Haben Sie nicht gemerkt, daß ich den Spieß nur herumgedreht hatte? Ich komme mit Ihnen.«

»Nein, Sie dürfen es nicht,« sagte Westerly entschieden. »So angenehm mir Ihre Gesellschaft auch sonst ist, in diesem Falle muß ich auf sie verzichten. Sie wären mir nur hinderlich.«

Ruhig stand Phöbe auf und trat vor ihn hin.

»Und ich sage Ihnen, ich gehe doch mit!« sagte sie fest. »Wollen Sie mich zur Mitnahme zwingen?« lächelte Westerly.

»Zwingen nicht. Ich verlasse einfach das Boot, wenn Sie es verlassen, und gehe dahin, wohin Sie gehen.«

»Dann müßte ich eben Anordnungen treffen, daß Sie mit Gewalt an Bord zurückgehalten würden.«

»Bei wem würden Sie dies veranlassen?« fragte sie spöttisch.

»Bei dem Bootsführer; er ist Kapitän der Sepoys.«

»Mein gnädiger Lord, Sie haben diesem Kapitän gar nichts zu befehlen!«

»Er wird die Zweckmäßigkeit meiner Wünsche einsehen und Sie zurückhalten.«

»Auch dafür habe ich schon gesorgt. Wenn Sie den Kapitän fragen wollen, so werden Sie zu Ihrem Staunen erfahren, daß er die strenge Weisung erhalten hat, sich nicht im mindesten um mein Tun und Lassen zu kümmern. Ich bin hier vollkommen Herrin meines Willens, viel eher stehen Sie, geehrter Lord, unter dem Befehle des Bootsführers.«

Westerly wurde verblüfft.

»Wenn es freilich so ist!« murmelte er.

»Es ist so, und Sie können nichts daran ändern. Aber, Mylord,« Phöbe legte ihm die Hände auf die Schultern und schaute ihm lächelnd ins Auge, »ich möchte Ihnen meine Begleitung durchaus nicht aufdrängen, vielmehr bitte ich Sie nochmals recht herzlich, mich mitzunehmen.«

»Da ich Ihnen die Begleitung nicht verweigern kann, so soll sie mir sehr angenehm sein.

Wirklich, schöne Phöbe, ich freue mich äußerst darauf, mit Ihnen allein durch die Dschungeln zu streifen. Ich kalkuliere, es werden für mich einige herrliche Tage, und ich will dafür sorgen, daß es uns an nichts gebricht. Nur um eins möchte ich Sie fast bitten.«

»Und das wäre?«

»In dieser Toilette zu bleiben.«

»Das geht auf keinen Fall!« lachte Phöbe. »Die Engländer würden schön staunen, mich mitten in der Wildnis in einem frisch gewaschenen Tropenkleid zu finden. Ich eile, mich umzuziehen, Ihrem Anzuge entsprechend. Sie wissen: Gleich und gleich gesellt sich gern!«

»Doch nicht zu Ihrem Nachteil!« rief Westerly ihr nach.

»Sie sollen zufrieden mit mir sein!«

Dieses Gespräch ward in der Morgenstunde geführt, als das Boot schon eine ganze Nacht unausgesetzt unterwegs gewesen war. Man befand sich bereits mitten zwischen Wäldern, Dschungeln und sumpfigen Niederungen. Nur einmal war man auf einen Trupp Indier gestoßen, von Bluthunden begleitet, die auf die Versteckten Jagd machten.

Als Phöbe wieder erschien, hätte Westerly sie kaum erkannt. Sie hatte das Aussehen einer zerlumpten, mit Schmuck behangenen Zigeunerin angenommen, welche einst das Ballkleid einer vornehmen Dame geschenkt bekommen hatte und dieses nun so lange trug, bis es in Fetzen vom Leibe fiel. Die Schmucksachen waren übrigens echt. Da sie das Haar, welches jetzt lose herabhing, sonst hoch frisiert hatte, so war schon dadurch ihr Aussehen ein ganz anderes geworden.

»Sie müssen verzeihen, wenn ich Ihnen an Originalität noch nicht ähnele!« lachte sie. »An der ersten Sumpflache, auf die wir stoßen, werde ich dies ergänzen.«

»Und für wen wollen Sie sich ausgeben?«

»Sie sagen ja, Sie seien auf der von einer englischen Familie arrangierten Festlichkeit gewesen. Nun, so war ich eben auch mit dort, und es gelang mir durch Ihre kräftige Unterstützung, zu entkommen. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Sie mit einem Schuß sechs Indier töteten, einem das Schwert entrissen und mit diesem auf einen Hieb drei Indiern die Köpfe spalteten. Wie soll ich mich nennen? Schlagen Sie einen eleganten Namen vor.«

»Auf jeden Fall müssen Sie eine Engländerin sein. Sie sprechen ja auch das Englische perfekt. Sagen wir also: Miß Evelyn Padders.« »Padders klingt häßlich, Dorington schlage ich vor. Dann nenne ich mich lieber Missis, mein heißgeliebter Mann ist auch getötet worden, ich sah, wie ihn die Indier vom Dache des Hauses stürzten, wie sein Kopf auf dem Straßenpflaster zerschmetterte.«

»Gut, also Missis Evelyn Dorington!«

Der Bootsführer trat zu ihnen und sagte, das Boot nähere sich jetzt der Stelle, wo Aleen, Westerlys Diener, den Generalgouverneur gefangen auszuliefern versprochen hatte. In einer Stunde würden sie dort sein.

»Ich bin begierig zu erfahren,« meinte Westerly, »ob der Bursche sein Versprechen hält.

Es scheint mir fast unglaublich, doch er schien seiner Sache ganz sicher zu sein.«

»Wie lange ist Aleen schon Ihr Diener?« fragte Phöbe.

»Schon lange Jahre! Er ist treu und zuverlässig.«

»Er hat ein seltsames, scheues Wesen. Mit einem Fremden läßt er sich gar nicht ins Gespräch ein.«

Phöbe hatte schon wiederholt versucht, mit dem fremden Diener Westerlys Bekanntschaft anzuknüpfen, aber alle ihre Versuche, sein Vertrauen zu gewinnen, waren an seiner Einsilbigkeit und seinem Mißtrauen gescheitert, und Phöbe hütete sich, merken zu lassen, daß ihr an seiner Freundschaft etwas gelegen war.

»Ja, er scheint eine böse Tat auf dem Gewissen zu haben!« entgegnete Westerly. »Doch was kümmert mich das? Wenn er mir nur ergeben ist! Ich glaube, ich könnte von ihm verlangen, was ich wollte, er würde es ohne Zögern tun.«

»Sie kennen sein Vergehen?«

»Nein.«

»Aber Sie haben ihn merken lassen, daß Sie darum wissen?«

Westerly sah sie überrascht an.

»Woher vermuten Sie das?«

»Sehr einfach, weil ich es auch so machen würde. Es ist sehr gut, wenn man einen Menschen an sich gekettet hat, von dem man ein Geheimnis weiß, oder dem man doch glauben macht, man wisse darum, d. h. man darf sich dabei nicht der Gefahr aussetzen ...«

Das Gespräch fand eine jähe Unterbrechung.

Eine Salve knatterte, an Deck fielen die Ruderer von den Bänken, die indischen Krieger brachen zusammen. Wehrufe erschollen auf dem Boot, am Ufer dagegen Kommandos und Kampfgeschrei.

»Wir werden überfallen!« rief der Bootsführer, stürzte hinaus und brach sofort von einer Kugel getroffen, zusammen.

Die Bootsmannschaft war auf einen Kampf nicht im mindesten vorbereitet. Man sah das Ufer von Gewehren starren, man erkannte Engländer und Gurgghas, darunter Dollamore, der sich eben, das blanke Schwert in der Faust, ins Wasser warf, und in panischem Schreck dachte jeder nur an Flucht.

Das Boot fuhr dicht am Ufer, ein Sprung, und sie waren drüben und verschwanden im Schilf – der Anblick Dollamores wirkte auf alle wie ein Schreckgespenst.

Einen Augenblick zauderten Westerly und Phöbe. Da sahen sie unter den Angreifern auch Lord Canning, und ohne an das Mitnehmen einer Waffe zu denken, schlossen sie sich den Flüchtlingen an.

Phöbe folgte ihrem Gefährten; mit Aufbietung aller ihrer Kräfte gelang ihr der Sprung ans Ufer. Sie hätte ihn sonst nicht fertiggebracht, aber der Gedanke, daß sie Westerly verlieren könne, gab ihr die Schnellkraft einer Gazelle.

In wüstem Durcheinander brachen die feigen Indier durch die Binsen- und Bambusrohre, nicht anders glaubend, als einige hundert Feinde säßen ihnen dicht auf den Fersen.

Dann zerstreuten sie sich. Der eine lief schneller als der andere, der eine drang links, der andere rechts vor, einige stürzten oder verwickelten sich in Schlingpflanzen.

Zu letzteren gehörte auch Phöbe. Sie sah Westerly, an dessen Seite sie sich bis jetzt gehalten, sich weiter und weiter entfernen. Sie wagte nicht, ihn beim Namen zu rufen, so viel Geistesgegenwart besaß sie doch, aber wie eine Verzweifelte riß sie an den grünen, zähen Strängen, wodurch sie sich nur immer fester verwickelte.

Ein Messer besaß sie nicht, um sich losschneiden zu können; wie Westerly, so war auch sie in der ersten Bestürzung ohne Mitnahme einer Waffe geflohen.

Schließlich sah sie sich allein und verlassen. Das Brechen in dem Bambusrohr war verklungen, hinter ihr erschollen Ruderkommandos; das Boot war also besetzt worden und nahm seine Fahrt wieder auf.

Als Phöbe jetzt mit Ruhe versuchte, sich aus den Banden der Schlingpflanzen zu befreien, gelang ihr dies sofort. Sie dachte nicht daran, zurückzugehen und sich der neuen Bootsbesatzung als ebenfalls Verfolgte auszugeben. Sie beschloß vielmehr sofort, mit aller Energie den Versuch zu machen, Westerly wieder aufzufinden.

Wie sie, die in der Wildnis ganz Unerfahrene, dies eigentlich bewerkstelligen könne, wußte sie allerdings nicht.

Ziellos begann sie umherzuwandern, und es war ein mühseliger Weg. Die Dornen hielten sie am Kleide fest und zerrissen das schon absichtlich zerfetzte noch mehr. Oft sank sie bis an die Knie in Morast ein; nur mit aller Anstrengung gewann sie durch Rückwärtsgehen wieder festen Boden, und nicht lange dauerte es, so war ihre Kleidung wirklich so mit Schmutz bedeckt, wie sie es im Scherz hatte machen wollen.

Keiner der mit ihr Geflohenen kam ihr wieder zu Gesicht, ebensowenig Westerly. Die Indier waren in ihrem Heimatland und wußten schon den Weg nach Delhi zu finden, sich überhaupt zu helfen. Aber was stand Phöbe bevor, wenn sie keinen Ausweg aus dieser Wildnis fand? Durst litt sie nicht, Wasser, wenn auch natürlich schales und ungesundes, war genug vorhanden, doch bald mußte sich der Hunger einstellen. Zwar wuchsen an Büschen und Sträuchern genug Beeren und größere Früchte, doch Phöbe kannte sie nicht und fürchtete, sich mit ihnen zu vergiften.

Endlich fand sie eine Kaktushecke mit reifen, birnengroßen Früchten bedeckt. Ehe sie diese jedoch essen konnte, mußten sie von ihrer stachligen Umhüllung befreit werden, und Phöbe gab bald den Versuch auf, denn die Stacheln dieser Früchte sind hundertmal spitzer als Nähnadeln und auch noch mit Wiederhäkchen versehen.

Als sie eine kreischende, langbeschwänzte Affenschar sich um große, rote Strauchfrüchte streiten sah, durfte sie von diesen ohne Mißtrauen essen.

Übrigens belästigte sie der Hunger noch nicht, vielmehr nur eine große Müdigkeit. Doch sie wagte nicht zu ruhen, sie wollte immer weiter, sie wollte auf Menschen stoßen, und waren es auch Engländer. Dann hätte sie eben die Rolle gespielt, die sie mit Westerly ausgemacht hatte.

Wo mochte dieser jetzt wohl sein? Sie dachte nur noch wenig an ihn, eine heimliche Angst schnürte ihr das Herz zu. Sprang ein Hirsch oder eine Gazelle vor ihr auf, so dachte sie gleich an den Überfall eines Raubtieres, und wie lange würde es noch dauern, so fiel sie einem solchen zur Beute! Schon einmal hatte sie das bunte Fell eines Panthers durch die Zweige schimmern sehen und sich schnell und leise, immer rückwärts gehend, entfernt.

Phöbe wußte auch, daß sich auf dieser Seite des Flusses gar keine Flüchtlinge aufhielten.

Sie befanden sich alle jenseits desselben. Ja, wenn Phöbe drüben gewesen wäre, dann hätte sie schon Menschen getroffen – Engländer oder Indier, sie wollte sich beiden Teilen als Freund legitimieren.

Vielleicht hätte sie es gewagt, den Fluß zu durchqueren, aber diese schauderhaften Krokodile! Plötzlich vernahm Phöbe Stimmen. Sie blieb stehen, lauschte und konnte deutlich englische Worte vernehmen.

»Jetzt vorsichtig, daß die Rinde am unteren Ende nicht splittert,« sagte eine tiefe Stimme in warnendem Tone.

Ein Krachen erfolgte, als würde ein starker Ast abgebrochen. »Es ist gut gegangen, dem können wir uns anvertrauen,« fuhr dieselbe Stimme fort.

»Na, na, wenn wir nur nicht mit dem Dinge umkippen,« sagte jemand anders; »das mußt du mir erst einmal vormachen, wie man darauf hinüberrutscht!«

»Wir steigen alle beide darauf.«

»Um des Himmels willen, auf diese zerbrechliche Nußschale? Nee, ich habe keine Lust, den Krokodilen mit meinem Fleisch den Magen vollzupfropfen.«

»Wenn ich mich hineinsetze, wirst du sehen, daß dieses Boot noch viel mehr tragen kann als zwei Mann. Denkst du, ich mache zum ersten Male solch ein Rindenboot? Da sollst du erst nach Kanada kommen, dort fahren wir in solchen Nußschalen, wie du sagst, Wasserfälle hinunter, und sie halten doch.«

»Aber in Kanada gibt es keine Krokodile!«

Phöbe brauchte nur einige Schritte zu machen, so stand sie am Flußufer, und wie sie sich etwas vorbeugte, konnte sie zwei Männer sehen, die eben ein selbstgefertigtes Boot in das Wasser hinabließen.

Es bestand aus der abgeschälten Rinde eines weidenähnlichen Baumes und sah allerdings sehr zerbrechlich aus.

Sie kannte beide Männer, den einen sogar von Wanstead aus. Es waren Charly und August, die auf dem Rindenboot über den Fluß setzen wollten. Beide sahen durchaus nicht strapaziert aus, im Gegenteil, wohlgenährt und frisch und schienen ganz guter Laune zu sein.

Wohin sie zu gehen beabsichtigten, wußte Phöbe natürlich nicht. Sie hütete sich, von ihnen gesehen zu werden, denn sie hatte erfahren, was für ein scharfes Auge diese Pelzjäger besaßen. Waren sie doch seinerzeit der Spur der schwarzen Maske vom Steinbruch bis zum Hause Francoeurs gefolgt und hatten die schwarze Maske, obgleich sie sie noch nie gesehen, doch sofort als den erkannt, der den Mordanschlag auf Woodfield gemacht hatte.

Augenblicklich waren diese beiden für Phöbe die schlimmsten Feinde; denn daß sie mit den Engländern in Verbindung standen, wahrscheinlich für sie Späherdienste verrichteten, war kein Zweifel.

Als sich Charly zuerst in das Fahrzeug setzte, sah es allerdings ganz gefährlich aus. Die eine Seite sank tief unter, und es lief auch viel Wasser ein.

Sonderbarerweise brauchte es bei August nicht erst langes Zureden, ein Kraftwort ausstoßend, betrat er das andere Ende des Bootes, und mit Hilfe zweier breiten Äste, die als Ruder dienten, hatte es bald das jenseitige Ufer erreicht, ohne daß die Krokodile auch nur die Köpfe gehoben hätten.

Die zwei Männer stiegen aus, ließen das Boot einfach am Ufer liegen und verschwanden im Walde.

Phöbe wartete einige Zeit. Als die Schritte schon lange verklungen waren, schlich sie sich am Ufer entlang, bis sie an das Boot kam, das vom Strom wieder herübergetrieben war, und benutzte es so, wie sie es vorhin gesehen hatte.

– – – – – – – – – – – – – – – –

Wie Phöbe, so hatte sich auch Westerly vollständig in der Wildnis verirrt. Er konnte aus dem Stande der Sonne nur ungefähr beurteilen, wo Delhi lag, und er beschloß die Richtung dorthin einzuschlagen. Traf er unterwegs auf Engländer, um so besser.

Er sah sich ebenfalls nach einer Gelegenheit um, den Fluß zu passieren, und fand nach langem Suchen auch eine solche. Zwei Bäume standen sich gegenüber, streckten je einen Ast über das Wasser, so, daß sie sich hoch oben in der Luft berührten.

Bei einiger Gewandtheit konnte man diese schwebende Brücke wohl benutzen, und da Westerly einst ein guter Turner gewesen war, so zögerte er nicht, die Kletterpartie zu unternehmen.

Das Herz schlug ihm doch ängstlich in der Brust, als er hoch oben auf dem schwankenden Aste saß und unter sich im Wasser die Krokodilsköpfe sah, die gierig nach der seltenen Beute äugten. Doch er gelangte glücklich auf den anderen Ast und rutschte am Stamm hinunter aufs jenseitige Ufer. Nun wollte er längs des Flusses weiterwandern, er mußte ihn nach Delhi bringen. Wo er sich gegenwärtig befand, davon hatte er keine Ahnung.

Die Sonne stand hoch; sie ließ giftige Dünste aus dem Morast steigen, und Westerlys Glieder drohten, ihm den Dienst zu versagen.

Plötzlich machte er einen weiten Satz vom Flusse ab, denn neben ihm war ein merkwürdiges Klappern ertönt. Er kannte dies Klappern, es waren die Kiefer der Krokodile, wenn diese eine Beute im Auge haben und vor Begierde erbeben.

Er sah auch einige der scheußlichen Ungetüme sich bewegen; schwerfällig krochen sie an das Ufer heraus.

Aber das Krokodil fühlt sich auf dem Lande nicht sicher; beim Anblick des Menschen sucht es, wenn es mit dessen Feuerrohr schon Bekanntschaft gemacht hat, sofort wieder das Wasser zu gewinnen. So drehten sich auch diese mit einer Schnelligkeit, die man den plumpen Leibern gar nicht zugetraut, um und eilten dem Wasser zu, wo sie verschwanden.

Wer sich aber jetzt dem Wasser näherte, der erhielt sicher einen Schlag von dem Schwanz eines Krokodils, wurde herabgeschleudert und von dem Rachen des Tieres aufgefangen.

Westerly blieb stehen; denn er sah zwischen den Büschen einen braunen, nur mit einer Hose bekleideten Menschen liegen, anscheinend tot.

Er ging etwas näher hinzu und erkannte in dem Toten zu seinem Erstaunen Aleen. Eine Kugel war ihm durch die rechte Brust gedrungen, er hatte viel Blut verloren und lag bewegungslos da. Der Spaziergang der Krokodile hatte seinem Leichnam gegolten.

Westerly fühlte nicht den geringsten Schmerz, als er vor der Leiche seines Dieners stand, im Gegenteil, er empfand eine Erleichterung. Als er sich umblickte, sah er an einem Palmbaum Stricke hängen, daneben ein Hemd und Waffen liegen, und schloß ganz richtig, daß hier der Platz war, wo Lord Cannings Gefangennahme erfolgt war; er hatte sich aber wieder befreit und Aleen dabei seinen Tod gefunden.

Gott sei Dank, daß dieser tot war! So hatte Westerly den Mitwisser einer geheimen Schandtat verloren.

Ohne sich noch einmal umzublicken, ließ er die Leiche hinter sich liegen. Mochten die Krokodile sich an ihr delektieren.

Die in ihrer Absicht schon einmal gestörten Tiere warteten lange, ehe sie sich der Beute wieder näherten, doch kaum erscholl das Geheul eines Schakals, ein Zeichen, daß auch ein anderer hungriger Gast Witterung von der Leiche bekommen hatte, als sie eilends das Wasser verließen und dem Toten zustrebten.

Aber nochmals wurden sie verscheucht, denn wieder knackte es in dem Bambusrohr, und ein menschliches Wesen trat heraus. Diesmal war es ein Weib – Phöbe.

Auch sie sah den Leichnam, die Krokodile, und erschrocken wollte sie den Rückzug antreten. Aber wie gebannt blieb sie stehen.

Jener Indier dort war kein Toter, er bewegte den Arm; unwillkürlich machte Phöbe einen Schritt vorwärts, und schleunigst ergriffen die Ungeheuer die Flucht, dem sicheren Wasser zu.

Ja, der Mann lebte, er bewegte sich und stöhnte. Als Phöbe sah, daß ihr von den Krokodilen hier auf dem Lande keine Gefahr drohte, eilte sie zu dem Verwundeten, von einem momentanen Gefühl dazu getrieben, und auch sie erkannte zu ihrer Bestürzung Aleen.

Er öffnete die Augen; stier blickte er geradeaus, er sah Phöbe noch nicht.

»Wasser!« hauchten seine bleichen Lippen. »Nur einen Tropfen Wasser!«

»Bist du nicht Aleen, Westerlys Diener?« fragte Phöbe.

»Wasser!« war die einzige Antwort.

Wohl lagen vom hohen Fall zersprengte Kokosnußschalen umher. Phöbe hätte mit einer solchen Wasser schöpfen können, aber sie kannte die Gefährlichkeit dieses Wasserschöpfens.

Wagt doch nicht einmal das Wild, nicht der in der Stadt aufgewachsene Hund in jenen Gegenden ohne weiteres am freien Flusse seinen Durst zu löschen. Vorsichtig nähert er sich dem heimtückischen Gewässer, starr beobachtet er die Oberfläche, den Kopf weit vorgestreckt, die Vorderfüße nach vorn gestemmt, zum Sprunge bereit, so trinkt er, und das Wasser braucht sich nur etwas zu kräuseln, so flieht er schon mit mächtigen Sprüngen davon.

Die aus Europa eingeführten Hunde, welche diese Gefahr nicht kennen, fallen in Indien beim Wassertrinken den Krokodilen regelmäßig zur Beute, ebenso wie auch am oberen Nil.

Nur die Alligatoren Amerikas sind weniger zu fürchten.

Glücklicherweise zweigte sich von dem Flusse eine seichte Wasserrinne ab, hier konnte Phöbe ohne Gefahr die Kokosnußschale füllen.

Zum ersten Male verloren Aleens Augen den scheuen Ausdruck, als er in langen Zügen aus Phöbes Hand den Trank schlürfte; mit dankbarem Blicke ruhten sie auf der Samariterin.

»Du hast Lord Canning nicht gefangen?«

»Ich hatte ihn – Dollamore schoß mich nieder,« ächzte Aleen, der vor kurzer Zeit aus langer Bewußtlosigkeit erwacht war und jenen scheinbar kräftigen Zustand erlangt hatte, der dem Tode gewöhnlich vorausgeht.

Phöbe vergaß alles andere, sie wollte von dem Manne noch etwas zu erfahren suchen.

»Aleen, du bist deinem Tode nahe,« sagte sie hastig.

»Vielleicht – bleibe ich am Leben,« ächzte der Mann. »Ich habe eine – zähe Natur – es ist mir gleichgültig – Lord Canning ist mir entgangen – Westerly, der Hund –«

Phöbe horchte hoch auf.

»Was hast du gegen deinen Herrn?«

»Er ist vorhin – vorbeigegangen –er sah mich liegen. er stand hier – ich sah ihn – sah die Krokodile – und konnte mich nicht rühren.«

Schnell holte Phöbe in einigen Schalen Wasser, gab ihm nochmals zu trinken und wusch seine Wunde. Sie wagte nicht, ihn umzudrehen, da aber das Blut auch aus dem Rücken floß, so nahm sie an, daß die Kugel durch und durch gegangen war.

Sie wollte ihn wenigstens noch für kurze Zeit am Leben und bei Bewußtsein erhalten. An seine Rettung konnte sie nicht glauben.

»Aleen, kanntest du einen Mann, der den Namen ›die schwarze Maske‹ führte?« fragte sie bei ihrer Beschäftigung.

»Nein – o, wie das kühlt! Warum hilfst du mir?«

»Ich habe Mitleid mit dir. Oder einen Mann namens Alphons de Lacoste?«

»Nein,« stöhnte Aleen.

»Aleen, ich will dich noch etwas fragen,« sagte Phöbe mit zitternder Stimme.«Schwöre mir bei dem, was dir heilig ist, daß du mir die Wahrheit auf meine Frage sagen willst.«

»Mir ist nichts heilig – doch ich will dir die Wahrheit antworten – du bist mitleidig gegen mich gewesen.«

»Hat dein Herr einmal einen Menschen ermordet?«

»Ich – weiß es nicht.«

»Vielleicht mit einem vergifteten Dolch, dessen leisester Stich schon genügte, den Getroffenen auf der Stelle zu töten?«

Des Indiers Pupillen erweiterten sich, stier blickte er die Fragerin an.

»Nein,« hauchte er dann.

»Nein?« rief Phöbe enttäuscht. »Du weißt es nur nicht.«

Jetzt begann Aleen selbst zu fragen.

»Hatte dieser Mann – einen schwarzen Vollbart – eine Narbe über dem Auge?«

»Ja, ja, er ist es, es ist Alphons de Lacoste.«

..Ich – will es gestehen,« ächzte der Verwundete, »ich fühle doch – meinen Tod kommen – ich, ich habe diesen Mann – mit einem vergifteten Dolche – ermordet – und ihn – in die Themse – geworfen.«

»Du?!«

Phöbe schleuderte die Hand, die sie hielt, von sich.

»Westerly – hat mich erst– dazu aufgefordert,« fuhr er fort. »Gib mir – Wasser!«

Sie gab ihm zu trinken. »Direkt aufgefordert? Warum?«

»Nicht aufgefordert – jetzt weiß ich alles – Westerly ist ein – Schurke – er tat, als wüßte er – von ...«

»Er tat, als wüßte er ein Geheimnis von dir, und hat dich somit gezwungen, ihn zu töten?«

»Ja«

»Er sagte, der Mann wüßte ebenfalls von deinem Geheimnis, von deiner Schuld?«

»Ja, woher weißt ...«

»Ich kann mir alles denken. Er gab also die Veranlassung, daß du ihn tötetest?«

»Ja.«

»Westerly war dabei?«

»Ja.«

»Du warfst ihn auch auf seinen Befehl in die Themse?«

»Ja – er versprach mir – zu schweigen ...«

»O, ich kann mir alles erklären. Was wollte der Mann von ihm?«

»Geld.«

»Er trat drohend auf?«

»Ja.«

»Es ist genug, jetzt weiß ich alles. Nur eins wiederhole nochmals: Westerly war dabei, als du den Mann ermordetest, und du tatest es auf seine Veranlassung?«

»Ja.«

Aleen schien sterben zu wollen. Phöbe würde sonst etwas darum gegeben haben, hätte sie ihn am Leben erhalten können. Sie zürnte ihm nicht, denn sie wußte ganz genau, daß er nur das Werkzeug Westerlys gewesen war. Sie konnte sich auch erklären, wie alles gekommen war. Wenn dieser Mann am Leben bliebe, welche Waffe wäre er für sie gegen Westerly, um so mehr, als er ihn jetzt haßte, ihr dagegen wahrscheinlich ergeben sein würde! Der Sterbende wollte sprechen, er bewegte die Lippen. Phöbe neigte ihr Ohr hinab.

»Ich möchte noch – etwas gestehen,« flüsterte Aleen, »ich habe viele – Morde ausgeführt – aber das ist – noch nicht das – allerungeheuerste – es büßt ein – anderer Mann für mich – denn ich war es – der aus Haß gegen die Engländer ...«

Seine Lippen flüsterten nur noch unverständliche Worte, Phöbe konnte nichts unterscheiden.

»Was hast du getan, Aleen?«

Sie bekam keine Antwort mehr, doch das Leben war noch nicht entflohen.

Da plötzlich sah sich Phöbe von Indiern umringt, die mit drohenden Augen das Weib vor dem Sterbenden betrachteten, denn sie glaubten natürlich, es sei eine der entflohenen Engländerinnen.

Es war Phöbe ein leichtes, sich als Freundin auszugeben, schon die Nennung einiger Namen, eine Anspielung auf die Wichtigkeit ihrer Rolle überzeugten die Indier von der Wahrheit ihrer Angaben.

Ein Mann kniete vor Aleen nieder und untersuchte ihn.

»Vielleicht stirbt er nicht,« sagte er, »wenn er darnach behandelt wird. Aber was sollen wir mit ihm hier anfangen?«

»Ihr müßt ihn nach Delhi zurücktragen.«

»Das ist eine schwere Arbeit, durch die Wildnis.«

»Ihr wißt, dieser Mann darf hier nicht umkommen.«

Nach kurzer Besprechung machten sich die Indier daran, aus Zweigen eine Tragbahre herzustellen, auf welche Aleen nach sorgfältigem Verbinden der Wunde gelegt wurde.

Noch am Abend desselben Tages kam Phöbe wieder in Delhi an. Viele Indier waren unterdessen eingetroffen, die vom Boot entflohen waren, doch nicht Westerly. Es schien, als sei es ihm geglückt, sich mit den Engländern zu vereinigen.


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