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7. August

Die Reisegesellschaft war von Mirat aus mit der Bahn in Delhi eingetroffen, und an der Station wurde sie schon, zur nicht geringen Verwunderung aller, von Dick empfangen.

Ihre erste Absicht war gewesen, wie in allen Städten, die sie schon passiert, so auch in Delhi, Erkundigungen einzuziehen, die sie vielleicht auf eine Spur nach dem Felsentempel gebracht hätten, also die Behörden und besonders zu England haltende Indier zu befragen, ferner sich Geleitbriefe geben zu lassen; doch eine lange Erzählung Dicks, welche im Hause des alten Reihenfels stattfand, brachte zuerst die größte Aufregung, besonders bei Lady Carter, dann eine vollständige Umänderung der bisher gefaßten Pläne hervor.

Dick erzählte dabei nur seine Erlebnisse, die wir erfahren werden, soweit wir sie noch nicht kennen. Kiong Jang fügte einige Erklärungen hinzu, und die Folge war, daß eine Teilung der Gesellschaft stattfand.

Mister Woodfield, seine Schwester, Kiong Jang und Dick wollten nach einigen Rasttagen weiterziehen, um, wie bisher, ziemlich planlos nach einem Anhaltepunkte zu suchen, wo der Felsentempel der Thags liegen könnte, in dem Nancy gefangengehalten wurde. Kiong Jang versicherte fest, er würde den Weg schon noch finden. Nur einen Baum, einen Strauch oder einen Felsen müsse er sehen, der seine Erinnerung wecke, dann würde er direkt den Weg zurücklegen, den er damals bei seiner Flucht genommen, und dieser würde ihn nach dem Felsentempel führen.

Lady Carter, Reihenfels, Hira Singh, Jeremy, Charly, August und Hedwig dagegen wollten in Delhi bleiben, aus einem Grunde, dessen Erklärung im Laufe der Erzählung stattfinden wird.

Nach kurzem Aufenthalte im Hause Reihenfels' sollte nunmehr die Übersiedelung des zurückbleibenden Teils nach einer unbewohnten aber möblierten Villa erfolgen, die dem englischen Gouvernement gehörte.

Lord Canning selbst hatte Reihenfels dieses Haus sofort zur Verfügung gestellt, Lady Carter seiner Teilnahme versichert und seinen baldigen Besuch versprochen.

Auch der Teil der Gesellschaft, welcher weiterreiste, wollte die Rasttage in dieser geräumigen Villa verbringen.

Ferner hatte Lord Canning darauf bestanden, daß Lady Carter nicht ohne Schutz zurückbleibe, wenn Reihenfels und seine Begleiter abwesend waren – was oft in Aussicht stand – eine Ordonnanz in Person von Jim Green war nach der Kommandantur abgegangen, und gleichzeitig, als unsere Freunde in der Villa einzogen, nahm auf Befehl des Kommandanten auch Eugen mit seinen beiden Burschen und noch zwei anderen treuen, eingeborenen Dienern – jeder Offizier hält sich in Indien einige Diener – dort Quartier.

Für Eugen hatte dieser Befehl natürlich nichts Unangenehmes enthalten, mit jubelnder Freude hatte er ihn begrüßt, und zwischen Mutter und Pflegesohn hatte das herzlichste Wiedersehen stattgefunden. Emily vergaß für eine Stunde ihr Leid, das sowieso schon der frohesten Hoffnung zu weichen begann. Die freundliche Franziska, Oskars älteste Schwester, hatte es sich nicht nehmen lassen, an der Einrichtung der lange leerstehenden Villa selbst die letzte Hand anzulegen, und als die Gesellschaft mit ihrem wenigen Gepäck einzog, fand sie ein gemütliches Heim vor.

Am glücklichsten war August, daß er nicht weiterzureisen brauchte, sondern hier verweilen konnte. Eine herrliche, bequeme Zeit stand ihm in Aussicht, er gedachte sie zu genießen und Delhi und ganz besonders die sich bietenden Vergnügungen recht gründlich kennen zu lernen.

Außerdem war mit ihm noch eine Wandlung vorgegangen. August hatte plötzlich begriffen, welche wichtige Rolle er eigentlich spiele, ja, vielleicht die wichtigste, er ließ sein mürrisches Wesen fahren – er brauchte sich auch nicht mehr über Reisestrapazen zu ärgern – und trug seine Nase noch einmal so hoch. Seit ihm die Augen aufgegangen waren, wie unentbehrlich er Reihenfels war, gab er sich nur noch nach langem Bitten zu einer Dienstleistung her, er wollte selbst den Herrn spielen. Höchstens Reihenfels gegenüber benahm er sich etwas unterwürfig, aber auch noch vertraulich genug, und dieser ließ sich von dem in seinem Brote stehenden Diener viel bieten.

Jetzt war für August wieder eine Gelegenheit da, zu zeigen, daß er kein Diener, sondern ein wichtiges Mitglied der Gesellschaft sei.

Die Villa war bis auf wenige Personen verlassen. Mister Woodfield war mit seinen beiden Gefährten nach dem Gouvernementsgebäude gegangen, um sich Geleitsbriefe ausstellen zulassen, Eugen und alle seine Diener und Burschen, auch Jeremy, räumten in der alten Wohnung zusammen, und so befand sich nur noch eine dienende Person im Hause, Hedwig, die aber schon von Emily gebraucht wurde.

Miß Woodfield machte als fürsorgliche Schwester die Koffer des Bruders zur baldigen Reise zurecht.

Miß Woodfield brauchte also Hilfe, Hedwig war von Emily engagiert, an Reihenfels, der einen Plan zeichnete, durfte sie nicht denken, und so blieb nur August übrig.

Sie suchte diesen und fand ihn in seinem elegant ausgestatteten Dienerzimmer in einem Lehnstuhl sitzend, beide Beine auf den Tisch gelegt und damit beschäftigt, die Anfangsgründe des Zigarettendrehens zu erlernen. Einige unförmliche Wülste, wie geborstene Würste aussehend, lagen schon vor ihm auf dem Tisch.

Erst blieb Miß Woodfield, über seine sonderbare Haltung überrascht, mitten in der Stube stehen.

»Aber, August, wo haben Sie denn das gelernt? Das tut doch kein anständiger Mensch!«

»Zigaretten drehen? Dann ist Ihr Herr Bruder auch ein unanständiger Mensch, denn der dreht sich seine Zigaretten auch selbst.«

»Ich meine, daß Sie beide Beine auf den Tisch legen.«

»Ach so! Das ist dem Tisch ganz egal, der geniert sich deshalb nicht, wie mein Bruder sagt.«

»Aber es ist unästhetisch, unanständig!«

»Ich hab's in England, in Ihrer Heimat gelernt. Da setzen sie sich oft so hin.«

»Nur Menschen, die gar keinen Anstand haben. Ich hielt Sie für einen gut erzogenen Mann.«

»Danke sehr, Miß! Mache mir aber nicht viel aus dieser Schmeichelei. Wo ich das gelernt habe, da verkehrten nur die feinsten Herren Londons und die feinsten Damen, und sogar diese legten manchmal beide Beine auf den Tisch – es war in der Alhambra.«

»Schweigen Sie.« rief Rachel empört, denn ihre Ohren waren sehr empfindlich. »Kommen Sie, Sie müssen mir helfen, den Koffer Mister Woodfields zu packen.«

Die alte Dame hatte eine etwas knurrende Stimme, ihre Aufforderung klang daher wie das Kommando eines Offiziers.

August rührte sich nicht.

»Das hat sich jetzt bei mir ausgemußt,« entgegnete er gleichgültig. »Packen Sie die dreckige Wäsche nur selber zusammen, ich mache meine Finger nicht schmutzig.« Dabei blieb er. Rachel konnte ihm zürnen, befehlen oder ihn bitten, August weigerte sich, hilfreiche Hand anzulegen. Er fuhr ruhig fort, wurstähnliche Zigaretten zu fabrizieren.

Mit dem Schritt eines Dragoneroffiziers verließ die alte Dame das Zimmer und kehrte gleich darauf in Begleitung von Reihenfels zurück. Dieser blieb im Türrahmen stehen.

»August, du hast nichts für mich zu tun,« sagte er ruhig, »du kannst deshalb Miß Woodfield beim Einpacken behilflich sein.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, begab sich der junge Gelehrte darauf in sein Arbeitszimmer zurück. August aber sprang mit einem Satze auf und pflanzte sich vor die alte Dame hin.

»Also klatschen können Sie auch!« rief er erbost. »Das hätte ich Ihnen, weiß Gott, nicht zugetraut. Denken Sie ja nicht, ich helfe Ihnen, weil Mister Reihenfels es mir befiehlt, befehlen lasse ich mir überhaupt nichts. Ich will ihm seine Bitte nur nicht abschlagen, weil er mir einen Gegendienst tun soll. Na, also mal los, fix, nur immer fix! Wir hätten schon längst fertig sein können.«

Der Gegendienst, den August von seinem Herrn noch heute zu fordern gedachte, war die Zahlung eines Vorschusses, denn sein Geldbeutel war erschöpft, und auch in Delhi bekommt man nichts ohne Geld. Dies war der Grund, warum August seinen Herrn nicht erzürnen wollte.

Die alte Dame kämpfte ihre Entrüstung über den groben, faulen Diener nieder, indem sie schnell einige Bibelsprüche murmelte, welche christliche Geduld lehren, und dann begann die Arbeit.

Bald jedoch bereute Rachel, August zur Hilfeleistung aufgefordert zu haben. Er faßte alles mit den Fingerspitzen an, wußte alles besser, und seines Räsonierens war kein Ende.

»Ein Paar Unterhosen,« schrie er, als wäre er wütend, warf sie hinter sich und der Dame gerade ins Gesicht.

Jetzt verlor diese aber auch die Geduld.

»Betragen Sie sich nicht so flegelhaft, Sie – Sie – Unmensch!«

»Ich bin weder ein Flegel noch ein Unmensch, das möchte ich mir stark verbitten!«

»Sie haben es mir ins Gesicht geworfen!«

»Ich habe hinten keine Augen.«

»Drehen Sie sich gefälligst um, die Sachen waren schmutzig.«

»Warum hat Ihr Herr Bruder sie denn schmutzig gemacht?«

Rachel murmelte etwas wie ›Unverschämtheit‹, August etwas wie ›alte Schachtel‹, dann wickelte er ein anderes Paar desselben Bekleidungsgegenstandes zusammen, faßte das Bündel mit den äußersten Fingerspitzen und reichte es Rachel mit einer tiefen Verbeugung hin.

»Ein zweites Paar Unterhosen, welches schmutzig zu machen Ihr Herr Bruder die Güte gehabt hat,« sagte er dabei.

»Sie sind ein ganz impertinenter Mensch!« fuhr Rachel auf. »Bedienen Sie sich wenigstens in meiner Gegenwart keiner unanständigen Worte. Das kann ich verlangen.«

»Nanu, was habe ich denn nun wieder verbrochen? Ich war doch die Höflichkeit selbst.«

»Das sind Unterpantalons, höchstens Unterbeinkleider, verstehen Sie?«

August erwiderte nichts. Er faltete ein Hemd auseinander, besah es aufmerksam von allen Seiten und reichte es ihr dann mit der Bemerkung: »Ich habe die Ehre, Ihnen einen Unterrock Ihres Herrn Bruders geben zu dürfen. Er hatte die Freiheit, ihn etwas lange zu tragen. Hier noch ein Unterrock. Wieviel Unterröcke trägt eigentlich Ihr Herr Bruder? Wohl ein halbes Dutzend?«

So ging es weiter, bis Rachel ihn bat, sich zu entfernen, wozu jetzt aber August keine Lust zeigte. Endlich kamen Mister Woodfield und seine beiden Gefährten, worauf er sich schleunigst zurückzog. Seine Stelle nahm der höflichere, weit phlegmatischere Charly ein.

Dick nahm erst seine Pelzmütze, die er auch im heißen Indien trug, ab, wischte sich mit einem Nachthemd den roten, haarlosen Kopf und suchte dann seinen Bruder auf. Er fand ihn, wie er am Fenster stand und einem phantastisch geputzten Mädchen Kußhändchen zuwarf, das vom Fenster des gegenüberliegenden Hauses aus die Villa musterte.

Das Mädchen – es war Mirzy – lachte und schnippste dem neuen, rothaarigen Verehrer mit den Fingern zu.

»Ein verdammt hübsches Kätzchen,« sagte August zu Dick; »angezogen ist sie gerade wie so ein Ding, das im Zirkus auf dem Pferde Faxen macht. Ob da drüben wohl solche Vagabunden wohnen? Werde heute abend mal spionieren.«

Er warf wieder Kußhändchen hinüber, das Mädchen wollte sich vor Lachen ausschütten.

»Laß jetzt den Firlefanz,« knurrte Dick, »ich habe mit dir etwas zu besprechen.«

»Gleich, gleich! Die kleine Hexe hat's mir, weiß Gott angetan. Ich hatte nämlich früher einmal, als ich in der Alhambra den Fakir markierte, eine Liebste, die war auch so niedlich angezogen, und überhaupt, gleich, als ich dieses Mädchen sah, mußte ich an meine alte Flamme denken. Herrgott, wenn sie es wäre – nee, es ist ja gar nicht möglich. Na, werde mich heute abend einmal an sie ranschlängeln.«

»Du scheinst ja ein ganz verliebter Schlingel zu sein.«

»Was ist das Leben ohne Liebe?« deklamierte August.

»Es kommt aber nichts dabei heraus.«

»Manchmal doch, wenn das Mädchen nämlich Geld hat. Ich sage dir, Richard, ich habe einmal eine schöne Gelegenheit versäumt, ich hätte jetzt ein sehr reicher Mann sein können.«

»Durch eine Heirat?«

»Ja, das Mädchen war schön zum Ablecken, und der Vater war Kommerzienrat.«

»Kommerzienrat? Was ist denn das?«

»Das ist ein Mann, der so viel Geld hat, daß er nicht weiß, wo er's hintun soll.«

»So, so, das habe ich noch nicht gewußt; und du hättest seine Tochter heiraten können? Kerl, ich glaube, du flunkerst mir etwas vor.«

»Ich hätte sie heiraten können,« versicherte August, »ich liebte sie wahnsinnig. Aber die Sache hatte einen Haken.«

»War sie krank?«

»Kerngesund.«

»Die Eltern wollten wohl keinen Roten zum Schwiegersohn haben?«

»Die Eltern wurden gar nicht gefragt, das Mädchen hatte seinen freien Willen. Nein, es war etwas anderes. Rate nur.«

»Du warst noch zu jung?«

»Ich war alt genug.«

»Habt ihr euch gezankt?«

»Niemals.«

»Na, warum hast du sie dann nicht geheiratet?«

»Weil mich das Mädchen nicht wollte, das war der Haken. Sonst stand unserer Heirat nichts im Wege,« platzte August lachend heraus.

Dick packte ihn am Kragen, schleppte ihn in die Dienerstube und drückte ihn auf einen Stuhl nieder.

»Nun habe ich deine Albereien satt. Hier bleibst du sitzen und hörst mir zu.«

Er setzte sich ebenfalls am Tische nieder, und seine Miene ließ schließen, daß jetzt etwas Wichtiges kommen mußte.

»Wir reisen schon übermorgen von hier weg,« begann er.

»Gott sei Dank!« seufzte August.

»Freust du dich, daß wir uns trennen?«

»Ganz und gar nicht, nur Miß Woodfield behagt mir nicht. Und dann habe ich auch meine Ruhe wieder.«

»Wer weiß, August, ob wir uns noch einmal wiedersehen, und da dachte ich, August, wir könnten erst noch einmal zusammen an die Mutter schreiben. Sie weiß nur, daß wir nach Indien gegangen sind; es war damals ein sehr kurzes Schreiben, das Reihenfels aufgesetzt hatte.«

»Ich hätte es länger gemacht.«

»Kannst du denn schreiben?«

»Aber natürlich,« sagte August gekränkt; »im Briefe schreiben nimmt's niemand so leicht mit mir auf, und was das Richtigschreiben anbetrifft, da bin ich in der Schule immer einer der ersten gewesen. Kannst du's denn nicht?«

Dick betrachtete wehmütig seine klobigen Finger.

»Ich getraue mir gar nicht mehr, so einen Schreibstift in die Hand zu nehmen, von wegen der Blamage. Warum hast du denn damals nicht selbst geschrieben und Reihenfels darum gebeten?«

»Ich hatte etwas anderes zu tun. Also, wir wollen zusammen an die Mutter schreiben? Können wir machen!«

August stand eilfertig auf, um die nötigen Sachen zu besorgen. Dick hielt ihn noch einmal zurück.

»Es ist darum, wir könnten uns doch schließlich nicht mehr sehen, die Sache mit dem Felsentempel ist nicht so einfach, wie ich erst dachte. Aber wie ist es denn mit dem Zusammenschreiben? Da müssen wir beide mit dem Schreibestift schreiben?«

»Dummheit, ich schreibe in unser beider Namen. Nun sollst du erst einmal sehen, was ich kann. Im Schreiben und der sogenannten Orthographie bin ich ein Haupthahn, da kann mir niemand etwas vormachen.«

August begab sich ins Arbeitszimmer von Reihenfels und kehrte mit Tinte, Papier und Federhalter zurück.

»Es ist freilich nur Kopiertinte, sagte Mister Reihenfels, aber mit der könnte man auch Briefe schreiben. Also nun mal los!«

August setzte sich in Positur, Dick stellte sich hinter den Stuhl des Bruders und schaute ehrfurchtsvoll auf das Papier, auf dem die Feder, mit Tinte gefüllt, schon schreibgerecht ruhte.

Drei Minuten vergingen im tiefsten Schweigen, die Feder kam noch nicht in Tätigkeit.

»Los!« sagte Dick und gab dem Bruder einen Stoß in die Seite.

August wandte den Kopf.

»Weißt du keinen Anfang, so ein bißchen elegant?«

»Da ist ja einer.«

»Allerdings, ein großer Klecks.«

Fluchend über den Bruder, dessen Puff den Klecks verursacht hatte, sprang August auf und holte sich von Reihenfels einen neuen Briefbogen.

»Er gab mir gleich ein halbes Dutzend,« sagte er, als er zurückkam, »zur Vorsicht, meinte er.«

Als Dick keinen Rat zu geben wußte, wie der Brief anzufangen sei, machte August einige Gänge durchs Zimmer.

»Der Anfang ist beim Brief das allerschwerste,« erklärte er; »da gibt es noch ganz andere Männer als ich, die müssen sich erst auf den Kopf stellen und mit den Beinen Freiübungen machen, ehe sie den Anfang gefunden haben. Habe ich ihn einmal, dann ist das andere ganz leicht, dann quellen mir die Worte nur immer so aus der Feder.«

»Dann stelle dich erst einmal auf den Kopf,« riet Dick, »ich halte dich, daß du nicht umfällst. Oder hilft's dann nicht?«

»Nicht mehr nötig, hat ihm schon,« entgegnete August triumphierend und begann zu schreiben.

»Liebe Mutter und Geschwister!«

»So, das nennt man die Überschrift, nun kommt das allerschwerste, der richtige Anfang.

Weißt du nichts, Dick?« »Nee, mein Junge. Oder warte mal, wie wäre es denn ...«

»Halt, ich hab's,« schrie August, die Augen auf die Tintenflasche geheftet, »so wird's gemacht.«

Konnten wir bisher nicht den deutschen Dialekt wiedergeben, den August sprach, so soll dieser Brief es tun. Einmal im Zuge, ging das Schreiben schnell vonstatten. Dick schaute dem Schreiber ehrfurchtsvoll über die Schulter hinweg.

»Liebe Mutter und Geschwister!« kratzte die Feder in steifbeinigen Buchstaben aufs Papier. »Ich und Richard, der hier aber Dick heist, sind nun seit zwei Monaten in Indjen und es geht uns sehr gut und ich werde immer dicker, Dick aber nicht, wenn er auch so heist und Hare bekomt er auch nicht wider auf den Kopf, den die Indjaners in Amerika abskalbirt haben und sein Kopf ...«

»Das brauchtest du alles nicht zu schreiben,« sagte Dick mißbilligend, »das ist Unsinn!«

»Die vier Seiten müssen aber voll werden,« entschuldigte sich August und fuhr fort. Bei dieser Unterbrechung hatte er die letzten Buchstaben ausgewischt.

»...und sein Kopf is gerade noch so rot wie früher. Das auswischen müßt ihr entschuldigen, weil es hir in Indjen nämlichst nur Gobirtinte gibt ...«

»Kopiertinte,« unterbrach Dick ihn mit Nachdruck.

August blickte den Bruder erstaunt an. »Nanu, willst du's vielleicht besser wissen?«

»Der Name steht ja an der Flasche: Kopiertinte und nicht Gobir.«

August las und schüttelte den Kopf.

»Dann ist's da falsch gedruckt, mir kann doch niemand was in der Geographie weismachen.«

»Meinetwegen, also gobire weiter!«

»...nur Gobirtinte gibt die auswischen muß, weil sie sonst nichts taugt, wie Herr Reihenfels sagt. Herr Reihenfels läßt euch auch schönstens grüßen unbekannterweiße, er ist ser zufrieden mit mich und kann ohne mir nichts mehr machen weil ich so viel kann. Sonstens geht es uns alle zwei ser gut was wir auch von euch hoffen. Indjen ist ein ser, ser schönes Land man glaubt immer man ist in einem Blumengarten und Abfelsinen tut's hir geben so groß wie eine Kegelkugel aber sie sind dabei ganz weich. Na und dann diese Kerle und Weibsbilder, ihr würdet Maul und Nase aufreisen wenn ihr so was sehn tun tätet ...«

»Tun tätet ist aber nicht richtig!« schalt Dick ein.

»Warum denn nicht?«

»Das klingt ja nicht.«

»So was verstehst du nicht, das sind ja eben die Feinheiten beim Briefschreiben. Lern du mir doch so etwas nicht kennen.«

Dick schwieg beschämt.

»...tun tätet, würdet ihr Maul und Nase sperrangelweit aufreisen ...«

»Das hast du schon einmal geschrieben.«

»Das ist egal.«

»...hier laufen sie manchmal ganz nackgt herum, höchstens mit einer Badehose sogar die Frauen und Mädchens aber Emma braucht nicht zu denken das ich da hinsehe wo ich ihr doch versprochen habe ihr egal treu zu bleiben ...«

»Was ist denn das für eine Emma?«

»Kennst du die denn nicht? Das ist die Tochter vom Böttchermeister nebenan.«

»Was geht das mich an!«

»Dich nichts, aber mich desto mehr. Wir sind zusammen verlobt.«

»...und paßt nur gut auf das Emma keine Fissemadentchen macht und sagt ihr, ich haute ihr die Augen blau und braun, wenn sie mir nicht treu bleiben tun täte. Den Ring habe ich auch noch von ihr und küße ihn jeden Abend wenn ich ins Bett gehn tue, und dann träume ich egal von sie ...«

»Welchen Ring denn?«

»Meinen Ring, den Emma mir gab.« »Du hast ja gar keinen.«

»Natürlich habe ich einen.«

»Wo denn?«

»Ich habe ihn einstweilen in London zum Aufheben gegeben, damit er sich nicht abnutzt.

Das braucht aber Emma nicht zu erfahren.«

»Ach so, du hast ihn verkauft?«

»Gott bewahre mich, ich werde den Verlobungsring verkaufen! Versetzt habe ich ihn! Also nun weiter!«

»Sonstens geht es uns aber gut,« fuhr der Brief fort, »und das Essen schmeckt uns beiden hir ser gut. Mit dem Schlafen ist es freilich mau, diweil es hir keine Betten gibt sondern nur Tebbiche, auf die man sich wie die jungen Hunde hinlegt und dann schläft. Aber das Eßen is hir ser gut Reis gibts fast alle Tage und immer wieder anders einmal mit Rosinen und dann wider mit Babrika oder mit Ingwer und immer wider anders und ihr wißt doch das Reis immer meine Leibspeise gewesen is und auch Klöße die es aber hir gar nicht gibt und Fleisch is hir auch in Hülle und Fülle da weil die dummen Kulis (so heißen nämlichst die Kerle mit den Badehosen) gar kein Fleisch nich essen tun und Hühner auch und Tauben und so und Schweine und Schafe und andere Vögel. Sonstens geht es uns aber gut ...«

»Das hast du schon ein paarmal geschrieben.«

»Das muß man auch.«

»Und vom Essen brauchst du auch nichts mehr zu erwähnen.«

»Essen ist und bleibt aber die Hauptsache im menschlichen Leben, und das Trinken und Schlafen dazu!«

»Na, dann schreibe meinetwegen weiter!«

»...und was das trinken anbetrifft kann man sich auch nich beklagen d. h. (das heißt) nur wenn man nich in einer Stadt ist denn wenn man durch die Wälder und die Schunkeln marschirt was oft passirt gibt es nischt anders als schmutziges Pfützenwasser was einen Beigeschmack nach Schlangen und Fröschen hat und Grogodile gibt's hir zehn Ellen lang und eine Riesenschlange habe ich auch schon tot gemacht. Die war gerade so lang wie eure Waschleine aber natürlich viel dicker fast ebenso dick wie sie lang war und daderbei hatte sie das Maul voller Giftzähne und stinken tat sie tun – fui Deibel ...«

»Nun hör endlich auf und komm zur Hauptsache.«

»Was soll ich denn anderes erzählen, als was wir hier erlebt haben?«

»Von unserer Trennung; sowie daß ich weiter reise und du hier in Delhi bleibst.«

»Ach so! Warte mal, da muß ich erst einen sogenannten Übergangspunkt finden. Halt, ich weiß schon!«

»...sonstens geht es uns hir aber ser gut, und wir sind beide ser zufrieden, auch mit unseren Herren, die ganz gut sind nur muß man sie manchmal den Daumen aufs Auge drücken, sonstens hauen sie übern Strang und verlangen zu viel von ein. Nun muß ich euch noch etwas ser, ser trauriges mitteilen, nämlich von Dick der will mit Mister Woodfield und seiner alten Schachtel von Schwester von den ich euch schon geschrieben habe noch weiterreisen weil sie das was sie suchen was ich nich verraten darf noch nich gefunden haben und ich bleibe hir mit meinem Herrn in Delhi und so kommen wir auseinander, was ser traurig ist und worüber ich mir ser härme. Hir in Delhi gibt es viel Buden wo sie Rum und Gonjak und anderen Schnaps ...«

»Ist das etwa der sogenannte Übergangspunkt?«

»Natürlich, das wirst du gleich sehen. Laß mich nur machen, so etwas verstehe ich schon.«

»...und anderen Schnaps verkaufen tun und auch hiesige sogenannte Ligöre wie z. B. (zum Beispiel heißt das) sogenannten Sorbet und so. Aber ihr wißt ja das ich nischt mehr trinken tue seit ich in der Heilsarmee gewesen bin und da halte ich's ... »»So, du trinkst nichts mehr?« sagte Dick. »Du riechst ja jetzt schon wieder nach Kümmel!«

»Das können aber doch die drüben nicht riechen,« schmunzelte August. »...halte ichs jetzt nur noch mit dem Essen und trinke Wasser dazu. Als wir nun heute Morgen bei das Eßen saßen ...«

»Bei dem Essen saßen, heißt es!« bemerkte Dick.

»Mit deinen ewigen Unterbrechungen!« rief August entrüstet. »Du willst mir doch keine Geographie lernen!«

»Es heißt: bei dem Essen, und dabei bleibe ich.«

»So? Wie sagst du denn? Der Hund geht bei das Essen, oder der Hund geht bei dem Essen?«

»August, du magst mir sonst wohl manches weismachen können, weil ich in derartigen Sachen nicht gerade sehr bewandert bin, aber daß es heißt: der Hund geht bei dem Essen, weiß ich ganz bestimmt, und wenn es nicht so ist, dann sollen auf meinem Kopfe augenblicklich grüne Haare wachsen.«

»Das können wir gleich erfahren,« meinte August und stand auf. »Ich werde Reihenfels fragen! Der ist so ein Federfuchser und weiß ganz genau Bescheid. Komm mit, sonst glaubst du es nicht, wenn ich es dir dann sage!«

Dick war's zufrieden. Beide gingen nach dem Zimmer des jungen Gelehrten, August klopfte an und steckte den Kopf durch die Türspalte.

»Herr Reihenfels, Dick will nicht glauben, daß es heißt: der Hund geht bei das Essen!«

»Was sagt er denn?« fragte dieser lächelnd.

»Der Hund geht bei dem Essen! Wie heißt es?«

»Es ist alles beides nicht richtig. Es könnte höchstens heißen: der Hund geht an das Fressen, aber schön klingt das auch nicht.«

August machte die Tür zu und wandte sich mit triumphierender Miene an Dick.

»Na, habe ich's nicht gesagt? Es muß ›das‹ und nicht ›dem‹ geschrieben werden!«

»Mach keine faulen Ausreden,« knurrte Dick, »wir hatten beide unrecht! Aber was Reihenfels sagt, gilt bei mir auch noch nicht als ein Faktum!«

»Ich schreibe eben, wie es richtig ist,« sagte August und schrieb dann im Zimmer, nachdem er die letzten Worte ausgestrichen hatte, weiter: »...Als wir nun heute morgen an das Fressen saßen ...«

»Kerl, du bist verrückt!« schrie Dick.

»Mister Reihenfels hat's gesagt, so heißt es!«

»Aber bei mir vom Fressen zu sprechen, verbitte ich mir!«

»Na na, Richard,« sagte August mit pfiffigem Augenblinzeln, »wenn wir bei das Essen sitzen, schlagen wir beide eine ganz gute Klinge. Vom Essen läßt sich da manchmal gar nicht mehr sprechen. Noch einmal ausstreichen tu ich auf keinen Fall.«

So ging es weiter, sowohl in dem Briefstil, als auch mit Dicks Unterbrechungen, bis endlich August mit einem tiefen Seufzer schloß, »weil er nun nichts mehr zu schreiben wisse.

Der Brief hatte ja schließlich den Hauptzweck erfüllt, daß nämlich die in der Heimat wußten, wie August vorläufig in Delhi blieb, Dick dagegen mit seinem Herrn weiter in das nördliche, gebirgige Indien zog.

Als der letzte Punkt gemacht worden war, fragte Dick mit höhnisch lächelnder Miene, wieviel Fehler der Brief wohl enthalten möge, was Augusts höchste Entrüstung hervorrief.

»Fehler? Meinst du geographische oder andere?«

»Was sind denn eigentlich geographische Fehler?«

»Das sind solche, wo ein Wort falsch geschrieben ist, und die anderen, wo die Worte nicht richtig stehen, heißen – heißen – warte mal – ja, die heißen Stengelfehler. Es gibt noch andere Ausdrücke für Fehler, die kenne ich aber nicht, weil ich sie nie mache.«

»Und wieviel hast du denn von den ersten beiden Sorten gemacht?«

»Richard, du willst mich ärgern. Ich sage dir, wenn in dem ganzen Briefe auch nur ein einziger Fehler ist, dann will ich heute abend noch gehangen werden, anstatt drüben mit dem kleinen Kammerkätzchen Bekanntschaft anzuknüpfen.« Damit nahm er den Brief und ging zu Reihenfels, fragend, ob in dem Briefe ein einziger, geographischer Fehler sei. Dick bezweifele seine Kenntnis der deutschen Sprache.

Lächelnd las Reihenfels den Brief.

»Nein, ein geographischer Fehler ist nicht drin,« sagte er dann.

»Na, habe ich's nicht gleich gesagt? Und ist ein Stengelfehler drin?«

»Was ist das, Stengelfehler?«

»Wie, Sie wissen das nicht?«

Reihenfels besann sich.

»Ach so du meinst Stilfehler.«

»Das ist ja ganz egal, Stengelfehler oder Stilfehler. Finden Sie einen?«

»Hm, weißt du, was eine doppelte Verneinung ist?«

»Nein,« entgegnete August nach einiger Überlegung offen.

»Du hast die doppelte Verneinung oft genug angewandt.«

»Was ist denn das?«

»Ich habe jetzt keine Zeit dir dies ausführlich auseinanderzusetzen. Eine doppelte Verneinung bedeutet eine Bejahung. Verstehst du das?«

»Nein.«

»Ich werde es dir später einmal erklären. Betreffs deines Briefes also kann ich dir sagen, daß ich darin keine Fehler nicht gefunden habe.«

»Keinen einzigen nicht?«

»Keinen einzigen nicht.«

Damit war August abgefertigt, und er war stolz auf Reihenfels Gutachten, das er falsch auslegte. Da er aber stehen blieb, mußte er noch etwas auf dem Herzen haben.

»Nun, was gibt's noch?«

»Herr Reihenfels, ich habe kein Geld mehr.«

»Das tut mir leid, ich bin dir nichts schuldig.«

»Ich bitte um einen kleinen Vorschuß.«

»Wozu brauchst du Geld?«

»In Delhi bekommt man nichts umsonst.«

»Aber was willst du dir kaufen?«

»Ich möchte heute abend ausgehen.«

»Das erlaube ich dir nicht!« sagte Reihenfels bestimmt. »Ich bin für dich verantwortlich und gestatte auf keinen Fall, daß du dich während der Nacht in der Stadt umherreibst. In Delhi ist es nicht sicher, es beherbergt allerlei zweifelhafte Elemente, Europäer sowohl als Eingeborene, die das Tageslicht scheuen und erst in der Nacht auf den Straßen und in Spelunken erscheinen. Am Tage magst du wohl einmal allein ausgehen, in der Nacht aber auf keinen Fall, höchstens, wenn die Notwendigkeit es erfordert, in Begleitung eines verständigen, des Landes kundigen Mannes. Du wirst also nicht gehen!«

August verlor den Mut noch nicht.

»Ich hatte aber etwas vor, was für Sie von höchster Wichtigkeit ist. Sie wissen schon, was!«

Reihenfels blickte überrascht auf. Versuchte dieser August mit dem dummen und doch wieder so schlauen Gesicht ihn etwa zu übertölpeln, oder machte er Ernst? »Was denn?«

»Ich weiß doch jetzt, warum ich Sie eigentlich begleiten muß. Denken Sie nur, vorhin steht dort drüben ein Mädchen, aufgeputzt wie eine Theaterpuppe, und ich glaube, mich soll das Mäuschen beißen – die leibhaftige Mirzy, gerade wie damals in der Alhambra.

Es war August allerdings gelungen, Reihenfels' höchste Aufmerksamkeit zu erregen, aber von seinem Ziele entfernte er sich trotzdem.

Reihenfels war vor Überraschung aufgestanden und sah nach dem Hause hinüber, dessen sämtliche Fenster dicht verhangen waren.

»Dort drüben?« stieß er aufgeregt hervor. »Jawohl, in der ersten Etage, am fünften Fenster von links. Es stand vorhin offen.«

»Sie war es wirklich?«

»Ich glaube es wenigstens, sie sah der Mirzy verdammt ähnlich.«

Reihenfels sank wieder auf den Stuhl.

»Warum glaubst du das?«

»Sie war auch mit allerlei Flitterkram aufgeputzt, und das Gesicht kam mir fast genau so vor, als ob es Mirzy gehöre. Die Entfernung ist freilich ein bißchen groß, ich konnte die Züge nicht deutlich erkennen. Wenn Sie mir aber ein paar Groschen geben und mir heute abend das Ausgehen erlauben, dann, dann –«

»Was dann?«

»Dann kann ich ja einmal mich dort herumtreiben und ein bißchen spionieren.«

Reihenfels sah den Diener scharf an. Er durchschaute ihn und glaubte, er suche nur einen Vorwand, sich entfernen zu können.

»Nein, August, du bleibst! Bedenke doch, wenn es wirklich das Mädchen ist – was ich aber kaum glaube – so darf es dich nicht sehen, auf keinen Fall aber darf es merken, daß uns daran gelegen ist, mit ihm in Verbindung zu treten. Du weißt doch, warum!«

»Ach so, das ist wahr!« sagte August und kratzte sich verlegen hinter den Ohren. Seine List war mißglückt.

Eben wollte er den Mund zu einer neuen Frage öffnen, als drüben in dem Hause eine helle, schöne Mädchenstimme das italienische Lied zu singen begann.

»O, mia Venezia bella.«

August war bei den ersten Tönen zusammengezuckt.

»Das ist sie, das ist Mirzy!« rief er dann. »Dieses Lied sang sie gern, ich habe es oft von ihr gehört. Sie war einmal in Venedig engagiert, und da hat sie es gelernt.«

Er sprach so überzeugt, daß Reihenfels nicht an seinen Worten zweifelte. Schnell ging er ans Fenster und zog die Gardinen zu.

»Es ist gut, August, ich danke dir, daß du deinen Dienst so ernst nimmst!« sagte er dann mit tiefer Stimme. »Hat sie dich schon gesehen?«

»Vorhin einmal.«

»Wird sie dich erkannt haben?«

»Ich glaube kaum. Ich warf ihr sogenannte Kußhändchen hinüber, da ist ja nichts weiter dabei.«

»Und sie?«

»Sie lachte und machte es mit den Fingern gerade, als ob sie meine Kußhändchen wegschnippsen wollte.«

»Sie wird dich erkannt haben.«

»Ach wo, Herr Reihenfels, so eine kennt mehr Männer, als ich Haare auf dem Kopfe habe! Was meinen Sie wohl, eine Tänzerin aus der Alhambra! Wenn sie mich wirklich erkannt hätte, dann würde sie sich ganz anders benommen haben, wenigstens etwas erstaunt gewesen sein.«

»Nun, wenn sie dich oder mich auch erkannt hätte, das wäre nicht mehr zu ändern.

Jedenfalls befehle ich dir hiermit, dich niemals mehr um dieses Mädchen zu kümmern; sieh gar nicht mehr hinüber, und triffst du sie, so gehe an ihr vorüber, ohne sie auch nur anzublicken. Dasselbe werde ich tun. Es muß aussehen, als ob sie uns ganz gleichgültig wäre.«

»Schön, Herr Reihenfels – aber, nicht wahr?«

»Was denn?«

»Nun erlauben Sie auch, daß ich heute abend ein bißchen ausgehe? Delhi ist so schön, ach, so sehr schön, und ich glaube, bei Nacht muß es noch viel schöner sein.«

»Nein, heute abend nicht! Alle anderen haben im Hause zu tun, da die Abreise von Mister Woodfield bevorsteht, du kannst keine Begleitung bekommen; sonst würde ich dich wohl gehen lassen. Ein anderes Mal!« August ging mit mürrischem Gesicht hinaus, aber nicht lange dauerte es, so hellte es sich auf. Er suchte Mister Woodfield und fand ihn allein in einem Zimmer.

»Mister Woodfield, wissen Sie, was eine doppelte Verneinung ist?« fragte August.

Der alte Mann sah verwundert auf. Im Englischen gilt in dieser Hinsicht dieselbe Regel wie im Deutschen.

»Ja. Warum denn?«

»Nur so. Ich lerne gern, besonders wenn's nichts kostet. Ist das z. B. eine doppelte Verneinung, wenn ich sage. ich habe keinen Fehler nicht gemacht?«

»Ja, das ist eine, und das heißt dann soviel als du hast einen Fehler gemacht.«

»Ach so, dachte ich mir doch so etwas Ähnliches!«

»Und eine dreifache Verneinung ist wieder eine richtige einfache Verneinung!« fuhr Woodfield in seiner Belehrung fort.

August ließ plötzlich wieder den Kopf hängen.

»Wenn aber nun viermal verneint wird?« fragte er dann mit einem pfiffigen Gesicht.

»Das ist wiederum eine Bejahung, aber so etwas kann wohl überhaupt nicht vorkommen.«

»So, so! Sagt man also viermal nein, so heißt das auch ja!« murmelte August, als er ging, um eine Erkenntnis reicher.

Er fand Charly, wie dieser eben einen Beutel auf dem Tisch liegen hatte und Geld zählte.

Es war August ein leichtes, sich von dem gutmütigen Pelzjäger einige Silberstücke zu borgen, ohne daß er das feste Versprechen einer Rückzahlung zu geben nötig hatte.

Der Abend brach schon an, als August abermals an die Zimmertür seines noch arbeitenden Herrn anpochte. Reihenfels glaubte, August müsse ihn sprechen, und fragte freundlich nach seinem Begehren.

»Herr Reihenfels, erlauben Sie, daß ich heute abend ausgehe?« fragte August.

»Nein!« rief der in seiner Arbeit Gestörte unwillig. »Das ist mein letztes Wort. Belästige mich nun nicht mehr!«

August verschwand und bereitete sich trotz des Verbotes zum Ausgehen vor.

»Er hat viermal nein gesagt, das bedeutet ja!« murmelte er dabei vergnügt. »Wollen kann er also gar nichts, sonst sage ich ihm, er soll besser Deutsch lernen. Ja, ja, es geht doch nichts über Bildung – und Schlauheit!« setzte er hinzu.

Ohne daß jemand etwas wußte, verließ er nach Anbruch der Dunkelheit die Villa und war, als man schlafen ging, noch nicht zurück. Daß er sich heimlich, trotz des Verbotes von Reihenfels, entfernt hatte, wurde bald allen klar. Letzterer war natürlich sehr unwillig darüber.

Man wartete von Stunde zu Stunde, als August aber nicht kam, sagte sein Herr, man solle sich nicht mehr um ihn sorgen. Er sei jedenfalls in Gesellschaft geraten, in der es ihm gefiel, und benutze seine selbstgenommene Freiheit gründlich.

Sei er bis zum nächsten Morgen nicht zurück, so wolle man ihn durch die Polizei suchen lassen; doch stände zu erwarten, daß er morgen in seinem Bett liege, wahrscheinlich mit schwerem Kopf. Die Haustür konnte ihm durch einen indischen Diener auf sein Klopfen immer geöffnet werden.

Der Morgen kam, und August war noch immer nicht da. Dick schwor, an seinem jüngeren Bruder noch ein Exempel zu statuieren. Reihenfels sah ein, daß Zürnen jetzt zwecklos sei, und überlegte, wie er am schnellsten seinen verlorengegangenen Diener wiederfinden könne, entweder durch Benachrichtigung der Polizei, oder, indem er einige Kulis, welche jeden Schlupfwinkel Delhis kannten, auf die Suche schickte.

Er beschloß ersteres und war schon bereit, noch vor dem gemeinsamen Frühstück fortzugehen, als ihm Jeremy meldete, daß Lady Carter ihn unverzüglich zu sprechen wünsche.

Reihenfels erschrak, als er Emily erblickte. Mit einem leichten Morgenrock bekleidet, lehnte sie müde, als wäre sie vollständig erschöpft, im Lehnstuhl; ihr Antlitz war geisterhaft bleich, und ihre Augen blickten hohl.

»Um Gottes willen, Lady, Sie sind krank?« rief Reihenfels erschrocken und ergriff die matt herabhängende Hand, nach dem Puls fühlend. Er glaubte, mit allen in Indien heimischen Krankheiten vollständig vertraut, das gelbe Fieber mache sich bei ihr geltend.

»Ich bin krank,« entgegnete Emily .mit schwacher Stimme. »Ich werde mich sofort erholen, wenn Sie mir die Erklärung geben können, daß ich die erste Nacht in diesem Hause nur geträumt habe.«

»Ein Traum hat Sie geängstigt?«

»Ich möchte, es wäre nur ein Traum gewesen, aber es war keiner. So deutlich, wie ich Sie jetzt vor mir stehen sehe, stand diese Nacht Isabel an meinem Bett, und so deutlich, wie ich Sie jetzt sprechen höre, sprach sie zu mir.«

Reihenfels wurde immer besorgter. Er wäre froh gewesen, wenn er Fieber hätte konstatieren können, aber Emily fieberte nicht im geringsten.

»Sie haben einen einer Vision ähnlichen Traum gehabt?«

»Es war Tatsache, Isabel war bei mir. Ich habe mit ihr gesprochen. Ich wollte mir einreden, ich spräche nur im Traum, heute morgen erkannte ich indes, daß ich mich nicht getäuscht habe.«

»Wie sah sie aus?« fragte Reihenfels, hoffend, in Emilys Angaben eine Unmöglichkeit nachzuweisen.

»So wie früher, nur etwas voller. Sie trug dasselbe Kleid, wie damals auf dem Ball, als der Bruch zwischen uns erfolgte. Sie wiederholte dieselben Flüche, sie schilderte mir, wie diese in Erfüllung gegangen wären, und versicherte, das Schicksal würde nicht eher ruhen, als bis sich auch ihr letzter Fluch erfüllt hätte.«

»Mylady, ich bitte Sie, reden Sie sich fest ein, daß Sie nur geträumt haben!« rief Reihenfels flehend. »Des Menschen Willenskraft vermag Unmögliches zu leisten, sie kann seelische, wie körperliche Krankheiten heilen, und werden Sie von bösen Phantomen geplagt, so müssen Sie, eine Europäerin, in Indien krank werden.«

»Nun denn, so gebe ich zu, daß ich geträumt habe!« lächelte Emily schwach, aber das Lächeln nahm sich wie ein krankhafter, leidender Zug in ihrem Gesicht aus. »So träumte ich denn auch, Isabel legte mir zum Abschied, damit ich nicht an ihrem wirklichen Besuch zweifle, einen Fächer auf mein Bett, jenen Fächer, den sie damals auf dem Balle trug, und welcher in ihrer Hand zersplitterte, als sich Sir Carter verächtlich von der ungetreuen Braut abwendete, ja, ich träumte, sie legte mir diesen Fächer auf mein Bett, und heute morgen, als ich aus dem Traume erwachte, da,« sie nahm vom Seitentischchen einen Gegenstand, »da lag er noch da.«

Jetzt war die Reihe des Erschreckens an dem jungen Gelehrten. Emilys Hand hielt ihm einen kostbaren Elfenbeinfächer hin, dessen Stäbe zersplittert waren.

Er kannte jede Einzelheit aus Emilys vergangenem Leben, beide hatten so oft über das geringste Vorkommnis in demselben gesprochen, damit Reihenfels völlige Klarheit bekam, daß er diesen Fächer sofort erkannt hätte, wenn Emily ihm auch nicht erzählt, von wem sie ihn bekommen haben wollte.

Was für ein Geist war das, der ein sichtbares Zeichen seines Daseins zurücklassen durfte? Noch hatte Reihenfels keine Antwort gefunden, als draußen auf dem Korridor hastiges Laufen erscholl, Türen wurden geworfen, er hörte Dicks zürnende Stimme, seinen Namen rufen, und dann stürzte August in das Boudoir Emilys, warf sich, ohne sich um die Anwesenden zu kümmern, in den neben Emily stehenden Lehnstuhl, streckte beide Beine von sich, ließ die Arme hängen und lehnte den rothaarigen Kopf ungeniert an Emilys Schulter.

Reihenfels war über dieses Auftreten seines Dieners einen Augenblick starr, Emily wußte nicht, was sie denken sollte.

Himmel, wie sah dieser Kerl aus! Seine Schuhe waren mit einer dicken Lehmschicht bedeckt, die Kleider schienen zu verraten, daß ihr Besitzer diese Nacht in einer Kalkgrube geschlafen hatte, und das Gesicht war das eines Mannes, der einen sinnlosen Rausch hinter sich hat und noch nicht wieder zum Bewußtsein gekommen ist. Das Haar stand struppig zu Berge, ein Hut war nicht mehr vorhanden.

Reihenfels glaubte, August sei noch betrunken und simuliere einen Entschuldigungsgrund.

»August,« rief er streng, »du bist betrunken! Was ist das für ein Benehmen? Entferne dich sofort und geh schlafen. Später werden wir uns weitersprechen!«

»Herr – Herr Reihenfels,« stotterte August, »ich – ich – habe ein – Gespenst – gesehen!«

»Am lichten Tage?«

»Nein – nein – in der Nacht!«

Jetzt fiel Reihenfels doch das entsetzt starrende Auge des Mannes auf. Ihm mußte wirklich etwas Ungewöhnliches passiert sein.

»Wo bist du diese Nacht gewesen?«

»Auf dem – Friedhof – von – Hum – Hum – Huma –«

»Im Grabgebäude des Humayun?«

»Ja – ja – aber daneben – unter lauter – Leichen.«

»Was hast du da gesehen?«

»Es!« ächzte August.

»Was für ein es?«

»Ihn!«

»Sprich deutlicher! Erhole dich erst etwas. Denke aber nicht daran, uns etwas aufbinden zu wollen.«

»Ich habe es gesehen,« stöhnte August.

»Was denn nur?«

»Das, was wir suchen – den auch Dick gesehen hat – wie er leibt und lebt – im Grabgewölbe des Hum – Hum – das wandernde Feuer – o Jesses – geben Sie mir ein Glas Kognak, aber nicht zu klein, oder ich sterbe!«

August schloß die Augen und öffnete den Mund, als erwarte er, daß ihm jetzt die gewünschte Medizin eingeflößt würde. Reihenfels und Emily sahen sich beide erschrocken an. Sie glaubten der Aussage des Dieners.


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