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14. Unter der Erde

Im nördlichen Teile Delhis liegt ein zerfallener Bau, nur noch an einigen Stellen seine frühere Schönheit zeigend. Er ist niemals bewohnt gewesen, nur ein Toter hat einmal vor vielen Jahrhunderten darin Einzug gehalten – der Großmogul Humayun, welcher hier begraben liegt, und dem zu Ehren das riesige Monument gebaut wurde.

Man hat seinen Sarg niemals gefunden, er mag von herabstürzenden Steinen zerschmettert und zerstreut worden sein, ebenso wie das Gerippe des mächtigen Herrschers.

Sein Grabmonument blieb jedoch nicht als einziges Zeichen der Sterblichkeit in diesem Stadtteile stehen; die vornehmen Hindus, welche dem Großmogul gedient hatten, bestimmten schon bei ihren Lebzeiten, daß sie einst in der Nähe ihres geliebten Fürsten begraben wurden, später bestattete man dort auch andere, und so entstand nach und nach ein allgemeiner Friedhof, auf dem die Reichen und Vornehmen in metallenen, die Wohlhabenden in steinernen Särgen und die Armen schließlich in schmucklosen Holzsärgen beigesetzt wurden.

Den Mittelpunkt des Friedhofes bildete immer das weithin sichtbare Monument Humayuns.

Jetzt werden dort keine Toten mehr bestattet, und bei einem Gange über den Friedhof kommen einem die Worte der Bibel ins Gedächtnis. Die Gräber geben ihre Toten wieder.

Überall liegen Knochen zerstreut, überall grinsen gebleichte Totenschädel, kein Gerippe ist mehr vollständig, man müßte sich denn die Mühe machen und einen Sargdeckel abnehmen.

Die Holzsärge sind natürlich schon längst zu Staub zerfallen, die Metallsärge sind völlig verschwunden, wahrscheinlich von einwandernden Völkern, welche die Toten nicht ehrten, zur Herstellung nützlicher Gegenstände verwendet worden, den silbernen Sarg hat man vielleicht eingeschmolzen und daraus Brautgeschmeide gefertigt, und nur die steinernen Särge sind stehen geblieben. aber auch ihre Deckel hat man abgehoben oder verschoben, um nach Geschmeide zu spähen, welches man den Toten mit ins Grab gab, oder auch ein Samenkorn hat sich in einen Spalt verirrt, hat Wurzel geschlagen und die allmächtige Naturkraft, in Form des treibenden Saftes im Baumstamme, hat den schweren Deckel Millimeter nach Millimeter gelüftet, bis er eines Tages polternd herabfiel.

So hatte sich auch ein Fliederbaum, trotz seines zarten Markes, Bahn gebrochen und den ihn hindernden Deckel zur Seite geworfen. Zerschmettert lag er neben der Öffnung, in der sich ein noch ziemlich gut erhaltenes Gerippe zeigte.

Vor diesem Grabe standen im Scheine der schon tief am Horizont stehenden Sonne drei Männer und lauschten der Erzählung eines vierten, der mit lebhaften Gestikulationen vortrug.

»Von dort kam es zuerst heran,« sagte er eben und deutete nach dem in einiger Entfernung stehenden, großen Grabmonument; »ich sah natürlich im Anfang nur ein Licht, es ging auf und nieder, hüpfte hin und her, bewegte sich immer im Zickzack, kam aber auch wieder näher zu mir. Dann verschwand es plötzlich, bis es mit einem Male ganz dicht in meiner Nähe auftauchte, und da, Herrgott, ich denke, mich soll ...«

»Hast du dich denn nicht schon vorher gewundert und darüber nachgedacht, was für ein Licht das gewesen sein mag?« unterbrach ihn ein junger Mann.

»Ich glaubte erst, es wäre ein Stern, Mister Reihenfels.«

»Nanu, August, ein Stern, der so auf der Erde herumhüpft?«

»Sie vergessen immer, Mister Reihenfels, daß ich ganz mordsmäßig besoffen war,« sagte August verschämt; »ich glaubte ja, ich läge in meinem Bett, und ich lag auf dem Moderstaub da so recht hübsch weich. Und dann dachte ich, ich sähe zum Fenster hinaus den Sternenhimmel, na, und der drehte sich wieder einmal wie ein Karussell. August, sagte ich zu mir selbst, August, schämst du dich denn nur gar nicht? Du bist doch wieder besoffen wie eine Rodehacke, die Sterne tanzen bei dir Polka, und der da, der große, der führt nun gar einen Solotanz auf. August, wenn das nun aber noch ein einziges Mal passiert, dann haue ich dir eine runter, daß ...«

»Schon gut,« unterbrach ihn Reihenfels abermals, »spare dir deinen Monolog. Also du glaubtest, das flackernde Feuer sei ein umherirrender Stern.«

»Ja, ich dachte, einer von uns beiden muß besoffen sein, entweder ich oder der Stern.

Dann war er mit einem Male fort, und dann kam er dort, wo der große Baum steht, wieder zum Vorschein. Aber Jesus Christus, mir gab's einen Hexenschuß durchs ganze Rückgrat, da sah ich erst, was das für ein Stern war. Der Kerl ist's, wie ihn auch Dick gesehen hat, ganz genau so, ich konnte von hier aus ganz deutlich die meterlangen Fingernägel sehen ...«

»Meterlange?« fragte der mitanwesende Jeremy.

»Nu, ein bißchen kleiner mögen sie gewesen sein. Aber der Kerl war's, das sogenannte wandernde Feuer. Er hüpfte herum, als wäre er närrisch im Kopfe, immer über die Gräber und Löcher weg, fuchtelte mit der Fackel in der Luft herum, und dabei schrie er, daß es mir durch Mark und Bein ging. Geradeso, als wenn man einem Hunde auf den Schwanz tritt.«

»Hast du kein Wort verstanden?«

»Es war ein ganz wortloses Schreien, ohne Sinn und Verstand.«

»Nun, und weiter?«

»Ich kniff mir immer ins Ohr und in die Nase, um aufzuwachen, denn ich glaubte ja, ich träume nur, aber's war nischt, ich wachte eben. Dann aber bin ich vor Schreck bewußtlos geworden, das heißt, ich schlief ein.«

»Wenn du nur das nicht alles geträumt hast!«

»Ich will auf der Stelle blind werden, wenn ich nicht die lautere Wahrheit gesagt habe.«

»Das mag schon sein, aber du kannst in deinem Delirium eine Vision gehabt haben, hervorgerufen durch Dicks Erzählung.«

»Mister Reihenfels, ich habe noch nie das Delirium gehabt,« sagte August gekränkt, »so weit ist's mit mir noch nicht. Ich halte es nur mit dem Grundsatze. Wer niemals einen Rausch gehabt, der ist kein braver Mann.«

»Schon gut! Wann kamst du wieder zu dir?«

»Da stand die Sonne schon ziemlich hoch am Himmel. Und nun denken Sie sich meinen Schreck, wie ich aufwache und ich liege hier in diesem Grabe, habe das Gerippe liebevoll umschlungen, so recht hübsch Kopf an Kopf, Brust an Brust! Na, ich weiß nur, daß ich mit einem Satze heraus war und gleich wieder in die Knie sank. Dann fiel mir sofort der Kerl mit der Fackel ein; mein erstes war, daß ich Reißaus nehmen wollte, aber nun bewundern Sie meine große Geistesgegenwart. Mir fiel auch gleich ein, daß Ihnen an dem Kerl mit der Fackel so viel gelegen ist, seinetwegen bleiben Sie ja nur in Delhi, und so guckte ich mich erst ordentlich um, merkte mir, wo ich gelegen hatte, und dann, hallo, dann ging's fort, was die Beine langten. Ich hörte hinter mir immer Gerippe klappern, bis ich endlich wegkriegte, daß es nur mein Absatzeisen war. Den ersten Mann, den ich traf, fragte ich, wie die Gegend hier heißt, und dann ging's weiter. Nun können Sie sich doch erklären, warum ich so erschrocken bei Ihnen ankam. Ich hatte mich immer noch nicht beruhigt.«

Es war sehr zweifelhaft, ob der Erzählung Augusts Glauben zu schenken war. Er konnte ebensogut alles nur geträumt haben. Doch Reihenfels mußte wenigstens prüfen.

Noch bevor die Dunkelheit anbrach, verteilte er seine Begleiter, Charly und Jeremy, so, daß das Grabmonument, wo das Feuer zuerst erschienen sein sollte, von allen Seiten beobachtet werden konnte. August blieb bei Reihenfels, der sich hinter den Fliederbaum postierte.

Wie man sich zu verhalten hatte, wenn das wandernde Feuer wirklich erschiene, darüber waren alle instruiert. Es konnte unter Umständen ein schweres, gefährliches Unternehmen werden. Stunde nach Stunde verging; vollständige Finsternis herrschte, und nichts regte sich auf dem weiten Leichenfelde, kein Lichtschimmer war zu sehen.

Reihenfels forschte seinen Diener nochmals aus, ob er nicht nur geträumt habe, aber August blieb bei der Behauptung, das wandernde Feuer wirklich gesehen zu haben.

»Sie müssen bedenken, daß ich nicht schon des Abends in meinem Rausche hierhergekommen bin«, fügte er hinzu, »es war weit über Mitternacht, und ich mag auch einige Zeit mit offenen Augen dagelegen haben, ehe ich es erblickte.«

»Mitternacht ist auch jetzt längst vorüber.«

»Dann wird es schon noch kommen, wenn es sich – da – da ist es schon!«

Wirklich, dort, dicht am Grabmonument huschte ein Licht hin und her und entfernte sich dann, es schien sich wie hüpfend über das Trümmerfeld zu bewegen. Gleichzeitig erscholl ein leises, klagendes Geheul.

»Alle guten Geister loben Gott, den Meister!« murmelte August.

»Du weißt, was du zu tun hast!« flüsterte ihm Reihenfels zu. »Du bleibst hier und erwartest unsere Rückkehr. Solltest du merken, daß diese aus irgend einem Grunde unmöglich ist, so ist dein erster Gang zu Hira Singh, dem du so klar wie möglich das erzählst, was du gesehen hast.«

Reihenfels schnallte den Ledergurt, von dem nur einige Stricke herabhingen, über seinen Rock und bewegte sich dann vorsichtig, jedes Grab und jeden Stein als Deckung benutzend, auf das irrende Feuer zu.

Anfangs näherte es sich ihm, dann aber vergrößerte sich der Abstand wieder, weil das Feuer dieselbe Richtung nahm wie er, und zwar schneller; Reihenfels suchte keine Deckung mehr, er rannte jetzt, und nicht lange dauerte es, so konnte er den Träger des Lichtes auch erkennen.

Es war wirklich jene Gestalt, wie erst Dick und dann auch August sie beschrieben hatten.

Sie war in rohe Felle gehüllt, Haar und Bart weiß und lang, ganz verwahrlost. In der Hand hatte der Mensch einen großen, brennenden Baumast, den er gewöhnlich dicht über dem Erdboden hielt und mit dem er in jedes offene Grab leuchtete, als suche er etwas. Dann schwang er ihn durch die Luft, so daß er wieder hoch aufflammte, und stieß dabei ein markerschütterndes, jammerndes Geschrei aus.

Ziellos sprang er umher, bald hierhin, bald dorthin, kein Grab unberücksichtigt lassend.

Die Keule, von welcher Dick erzählt hatte, führte er nicht mehr bei sich.

Reihenfels blieb einige Sekunden stehen und legte die Hand aufs Herz, denn er fühlte, wie sich dieses schmerzhaft zusammenkrampfte. Dann suchte er sich dem Manne wieder zu nähern.

Da ertönte ein kurzer Pfiff; schnell erwiderte ihn Reihenfels, gleichzeitig sprang hinter einem Grabe Charly hervor und warf sich auf die unheimliche Gestalt. Von der anderen Seite eilten Jeremy und Reihenfels hinzu.

Einen Augenblick stand die Gestalt wie betroffen da, die Fackel in der erhobenen Hand, das Geschrei war verstummt. Da hatte Charly den Mann erreicht; der gewandte Pelzjäger wollte ihn unterlaufen, er bückte sich, doch da schmetterte der brennende Ast auf seinen Kopf herab.

Charly stieß einen Schmerzensschrei aus, griff nach den Augen und brach zusammen.

Die Gestalt wandte sich um, floh mit weiten Sprüngen, die Fackel wie eine Waffe schwingend, und jetzt stieß sie ein wütendes Geheul aus. Sie bewegte sich direkt auf Jeremy zu. Dieser stand auf einem Erdhügel, hatte ein breites Seitengewehr schützend über dem Kopf erhoben und erwartete den Rasenden furchtlos.

»Keine Waffe gebrauchen!« schrie Reihenfels, und als wäre er selbst in Todesgefahr, so flog er wie eine Sprungfeder über die Gräber und Steine dahin, überholte die wilde Gestalt noch und stellte sich neben Jeremy auf.

Der Mann schien die beiden Gegner nicht zu sehen oder sie nicht zu fürchten, er rannte mit geschwungenem Ast auf sie zu. »Sir Frank Carter!« rief da Reihenfels, das Wutgeheul noch übertönend. »Ihre Tochter Eugenie ist gefunden, sie ist bei uns!«

Diese Worte brachten keinen Eindruck hervor, der Mann rannte weiter, auf seine vermeintlichen Feinde zu.

Da fühlte Reihenfels unter sich plötzlich eine Erschütterung, der Boden wich unter seinen Füßen, und ehe der Mann ihn noch erreicht, stürzte er in eine Tiefe.

Er wußte nicht, wie tief er gefallen war, denn ein Schlag auf den Kopf hatte ihn schon unterwegs betäubt. Als er wieder zu sich kam, war es vollkommen Nacht um ihn, nicht nur so finster, wie es im Freien zu sein pflegt, und er fühlte, wie zwei Hände seinen Körper rieben.

»Bist du's, Jeremy?« fragte er, sofort wieder bei vollem Bewußtsein.

»Ja, Sir, es ist Jeremy. Ich habe die Fahrt in die Tiefe mitgemacht. Wir standen auf einem Grabhügel, und unter uns ist der Boden hohl gewesen. Er konnte uns nicht tragen, wir sind hinabgerutscht. Seid Ihr verletzt?«

Reihenfels konnte sich ohne alle Anstrengung erheben und seine Glieder leicht bewegen, nur der Kopf schmerzte ihm etwas, und einige Stellen im Gesicht und an den Händen brannten infolge von Hautschürfungen.

»Ich bin vollkommen unverletzt, und du?«

»Mir tut nichts weh; ich habe mich nur mit meinem Seitengewehr etwas in den Finger geschnitten. Ich dachte schon, ich hätte Euch aufgespießt. Wir können von Glück sagen.«

»Wurdest du bewußtlos?«

»Nicht im geringsten. Gleich nach unserem Sturz, den ich so etwa zehn Meter tief schätze, sah ich das Feuer über uns wegspringen. Mister Reihenfels, wir sitzen in einem Loch, und es scheint mir, als könnten wir uns allein nicht wieder heraushelfen.«

Der junge Gelehrte hatte für alle Fälle Feuerzeug und einige Wachskerzen eingesteckt. Er machte Licht und sah sich um.

Sie saßen allerdings in einem Loch mit steilen Wänden, von denen noch immer Erde abbröckelte. An ein Erklimmen war nicht zu denken, aber das Loch besaß einen Aus- oder Eingang, eine etwa einen Meter hohe und breite, finstere Öffnung. Als er hineinleuchtete, war er erstaunt, ein niedriges, gemauertes Gewölbe zu finden.

»Was ist das? Eine Art Erdbegräbnis? Hier liegen Menschenknochen herum.«

»Die werden wohl mit uns herabgestürzt sein«, meinte Jeremy.

»Du hast recht, sonst lägen sie wohl nicht obenauf. Ehe wir nun sehen, ob wir den Gang benutzen können, wollen wir versuchen, unsere Begleiter herbeizurufen.«

»Mit Charly sah es schlimm aus. Wenn er nur nicht geblendet worden ist, er griff gleich so nach den Augen.«

»Dann bleibt uns nur noch August übrig. Hoffentlich aber steht es mit jenem auch nicht so schlimm.«

Reihenfels gab auf der Pfeife lange, gellende Signale, er wartete, pfiff wieder und immer wieder, bis er einsah, daß sie von ihren Begleitern vorläufig keine Hilfe zu erwarten hatten.

»So laß uns allein den Gang untersuchen«, sagte er zuletzt und kroch, das brennende Licht vor sich haltend, voran.

Jeremy folgte.

Der Gang war überall gut gemauert und noch vollkommen erhalten. Sie waren einige hundert Schritt so in gebückter Stellung gekrochen, zur größten Verwunderung von Reihenfels, der sich die Bedeutung dieses Tunnels gar nicht erklären konnte, als er sich so erhöhte und erweiterte, daß sie nebeneinander und aufrecht gehen konnten.

Ein Ende des Ganges war nicht zu sehen, so weit das Licht der Kerze reichte. Doch der Kreis, den dieses warf, war in der dunstigen Atmosphäre auch nur klein; als sich der Gang noch mehr verbreiterte, erreichte er nicht einmal die Wände.

Erstaunt blieb Reihenfels stehen.

»Wohin in aller Welt mögen wir nur geraten sein?«

»Wißt Ihr denn das nicht?« fragte Jeremy. Reihenfels sah ihn überrascht an.

»Weißt du es denn?«

»Natürlich, das ist die Wasserleitung, welche die alten Indier angelegt haben. Die Engländer wollten sie auch einmal benutzen, aber es ging nicht, weil sie schon ganz zerfallen war.«

»Du irrst,« sagte Reihenfels kopfschüttelnd, »dies ist kein Gang jener Wasserleitung. Ich weiß ganz genau, wie ihre Kanäle unter Delhi hinlaufen; in die Gegend dieses Friedhofes kommen sie gar nicht; außerdem sind sie auch vollkommen verschüttet, dieser Gang dagegen ist sehr gut erhalten wie kein einziger der alten Wasserleitung, und schließlich liegt die Gewölbedecke derselben immer nur zwei Meter unter der Erde, während wir schon gegen zwanzig Meter hinabgestürzt sind.«

»Höchstens zehn.«

»Ich glaube das doppelte. Blickt man aus einer tiefen Grube in die Höhe, so taxiert der Sachkundige die Tiefe fast immer nur auf die Hälfte, geradeso, wie er ein hohes Gebäude, einen Kirchturm viel zu niedrig schätzt.«

»Aber was soll es denn sonst sein, wenn nicht die Wasserleitung?«

»Ich denke mir, eine Art von Massenbegräbnisplatz.«

»Ich sehe weder Särge noch Knochen.«

»Wir wollen den Gang noch etwas weiter verfolgen, dann werden wir schon auf solche stoßen, vielleicht erst am Ende.«

Sie gingen noch lange geradeaus und erreichten doch das Ende nicht.

»Mister Reihenfels, hier zweigt ein anderer Gang ab!« rief Jeremy, der sich der Wand einmal genähert hatte, und wie Donnerhall erklangen seine Worte in unzähligen Echos.

Ein anderer Gang – ein anderer Gang – ein anderer Gang! wiederholte es sich wohl hundertmal, bis es nach und nach verklang.

Es war so; ein Kanal mündete ein, ebenso hoch und breit wie der Hauptgang.

»Und hier ist wieder einer!« rief Reihenfels an der anderen Wand.

Wieder einer – wieder einer! spottete das Echo nach.

Reihenfels leuchtete an der Wand hin und fand aller zehn Meter auf der rechten Seite sowohl, als auf der linken, einen neuen Gang, dem ersten immer ganz ähnlich.

Sein Erstaunen darüber war grenzenlos. Was hatte dieser unterirdische Bau, der sich so weit verzweigte, zu bedeuten? Er glaubte noch immer an einen Begräbnisraum.

»Wir wollen diesen Gang hinaufgehen,« schlug Jeremy vor; »erreichen wir da kein Ende, versuchen wir's mit einem anderen.«

»Und dann?« fragte Reihenfels.

»Wieder mit einem anderen. Irgendwo müssen wir doch ein Ende, hoffentlich einen Ausgang finden.«

»Und wenn nicht, was dann?«

Diese Fragen klangen so eigentümlich, daß der alte Soldat den jungen Mann im Scheine der nur ganz kleinen Wachskerze betroffen ansah.

»Was meint Ihr damit, Mister Reihenfels?«

»Offenen Weg in einem Labyrinth zu finden ist leicht, aber den Rückweg, das ist schwer.

Laß uns lieber zurückgehen, Jeremy, wir werden schon aus dem Loche an die Oberfläche der Erde kommen.«

Reihenfels wollte den Lichtstummel noch benutzen, den Rückweg zu beleuchten; ein Ruf Jeremys hielt. ihn zurück.

»Wohin geht Ihr denn? Hier heraus kommen wir, das war ja der linke Gang.«

Es klang fast wie ein Ächzen, als Reihenfels das Licht sinken ließ. Er schloß die Augen.

»Da haben wir es schon. Wir sind zweierlei Meinung,« seufzte er.

Wo ist Nord, wo ist Süd, wenn man sich in einem vollständig geschlossenen Gemache befindet? Wo rechts, wo links nach geographischer Bestimmung? Kein Mensch kann es mehr sagen, da verläßt auch den scharfsinnigsten Indier der Instinkt, mit dem er sonst den wochenlangen Weg durch die Wildnis nach einem bestimmten Ziele mit der größten Genauigkeit findet.

»Wir kamen hier heraus, versichere ich Euch,« sagte Jeremy.

»Meiner Meinung nach benutzten wir diesen Gang,« entgegnete Reihenfels mit erhobener Hand.

»Aber, Mister Reihenfels, was ist Euch denn? Eben deutetet Ihr nach links und jetzt nach rechts.«

»Weißt du das ganz bestimmt?«

»Ganz bestimmt. Ihr hattet die Augen geschlossen und Euch etwas zu mir herumgedreht.

Daher mochte es kommen. Ihr seht aber, daß Ihr im Zweifel seid, nicht ich.«

»Gott gebe es. Wohlan, wir wollen diesen Tunnel gehen!«

Er schritt voran, mit bangen Ahnungen erfüllt. »Jetzt rechts!« rief Jeremy hinter ihm.

Rechts – rechts – rechts! spottete das Echo in zahllosen Wiederholungen.

»Wir sind ja vorhin immer geradeausgegangen.«

»Ach so, richtig, Ihr habt recht.«

Es schien fast, als hätte Jeremy den richtigen Weg eingeschlagen. Sie erreichten eine Wand, von der nur ein meterhoher Gang abführte. Es mußte der vorige zuerst benutzte sein.

Reihenfels hätte bald aufgejubelt, als er mit einem neuen Lichte in gebückter Stellung weiterkroch.

Doch schon nach wenigen Schritten stieß er einen Ruf der Enttäuschung aus – er konnte sich wieder aufrichten. Vor ihm dehnte sich abermals ein hoher und breiter Gang mit vielen Abzweigungen aus.

Die beiden Männer sahen sich an, Jeremy bestürzt, Reihenfels resigniert.

»Verdammt, ich habe mich geirrt!« murmelte ersterer. »Wir müssen zurück!«

Sie gingen zurück und wieder vermeintlich geradeaus, sie gingen links, sie gingen rechts, sie gingen aufs Geratewohl, immer hoffend, den ersten niedrigen Gang zu finden, sie gingen wieder zurück und wieder einen anderen Tunnel. – Wir überspringen einen Zeitraum von zwanzig Stunden und finden die beiden mit brennenden Füßen und knurrendem Magen am Boden eines Ganges sitzen, vollständig erschöpft von der Wanderung und nicht minder von der Aussicht, nie wieder das Tageslicht zu erblicken.

Reihenfels besaß zwar noch eine Wachskerze, aber schon seit fast achtzehn Stunden hatten sie sich nur noch die Mauern entlang getastet, mit Ausnahme einiger schweigsamer Ruhepausen.

Sie hatten keinen Proviant bei sich – oder doch, ja, ihre Stiefel waren von Leder, das zwar schwer verdaulich, aber doch den Magen füllte, an einigen Stellen stand etwas vermodertes Wasser, und schließlich, war nicht noch immer ein Begleiter von Fleisch und Blut da? Jene Zeiten sind noch nicht vorüber, da in einer Gesellschaft gelost wird, wer von den Anwesenden das nächste Mal zum Stillen des Hungers der übrigen dienen soll, noch immer kommen solche schreckliche Szenen vor, bei Schiffbrüchigen im Boote, bei verschütteten Bergleuten, bei eingeschneiten Jägern und so weiter.

Doch bei unseren beiden Freunden wären solche Greuelszenen wohl nicht vorgekommen, beide besaßen einen Charakter, welcher durch eine Begierde nicht unter das Niveau der Menschlichkeit gedrückt werden konnte.

Gefaßt sahen sie dem Tode ins Auge, ja, dem unvermeidlichen Tode – es gab für sie keine Rettung mehr durch eigene Kraft, nur der Allmächtige konnte ihnen noch helfen.

Reihenfels lehnte sitzend mit dem Rücken an der Mauer, Jeremy lag langausgestreckt am Boden, mit dem Kopfe die Wand berührend.

»Mein lieber Jeremy,« begann ersterer nach langer Pause mit leiser, aber fester Stimme, »wir müssen uns aufs Sterben gefaßt machen, ich sehe keine Rettung mehr. Was hilft es uns, wenn wir noch einige Stunden im Dunkeln umhertasten, oder auch noch das Licht verbrauchen? Es ist besser, wir sammeln uns vorher, um den Tod ruhig wie Männer ertragen zu können.«

»Wir werden des Hungers sterben,« entgegnete Jeremy gleichmütig, »denn eine Wasserpfütze ist hier neben mir. Sprecht mir keinen Mut ein, Mister Reihenfels, es ist wahrlich nicht nötig. Ich hätte mir freilich einen angenehmeren Tod gewünscht; was aber nicht zu ändern ist, muß man erdulden. Ihr sollt mich wie einen Mann sterben sehen, ohne Fluch und ohne Seufzen, verlaßt Euch darauf.«

»Leidest du schon Hunger?«

»Offen gestanden, ja, ganz ungeheuer. Mein Magen dreht sich immer rundum.

Merkwürdig, was mir immer für Bilder erscheinen, wenn ich halb einschlafe. Ich sehe einen gedeckten Tisch mit köstlichen Sachen darauf, ich esse und esse und mein Hunger nimmt doch immer zu.«

Reihenfels wußte, daß dies auch eine Art Delirium war. Es geht dem Hungertode voraus.

Dem Verdurstenden dagegen zeigt sich immer ein Bach, aus dem er mit vollen Zügen trinkt, wodurch sein Durst sich nur steigert, als wäre es Salzwasser. Er selbst hatte noch nicht stark vom Hunger zu leiden, vielmehr quälten ihn vorläufig nur trübe Gedanken.

»Mir ist überhaupt nicht viel an meinem Leben gelegen,« begann da wieder Jeremy, »ich sterbe ganz gern, um so mehr als ich den Tod beim Suchen meines Herrn finde, den ich über alles liebte. Ihr aber tut mir leid, Mister Reihenfels, Ihr habt viel auf Erden zu verlassen.«

»Darnach fragt der Tod nicht; er pflückt sich die Blume, die ihm gefällt, und läßt sich durch nichts bestechen. Es ist sehr gut, daß es so ist. Stehst du denn ganz allein da, Jeremy?«

»Ganz allein, ich habe niemanden auf der Welt.«

»Du warst nicht verheiratet?«

»Was man so verheiratet nennt, das war ich nicht. Ich hatte auch einmal eine – doch das ist schon lange her. Gute Nacht, Mister Reihenfels, auf ein Wiedersehen in einem besseren Leben!«

Der alte Soldat hatte etwas erzählen wollen, vielleicht eine Geschichte, wie auch ihm einst das Liebesglück gelacht hatte, doch er brach ab, legte sich auf die Seite und sprach nicht mehr.

Reihenfels saß wohl eine halbe Stunde schweigend, in Gedanken versunken, da, als sich Jeremy wieder ausrichtete.

»Sprecht Ihr zu mir?« fragte er.

»Nein, Jeremy.«

»Seltsam. Ich sah wieder den gedeckten Tisch stehen, hörte aber auch ganz deutlich, wie Ihr mich zum Zulangen nötigtet.«

»Du träumtest es, ich sagte nichts.«

Jeremy legte sich wieder hin, nach einer Minute schon hob er abermals den Kopf.

»Was sprecht Ihr denn da immer?«

»Ich spreche nicht!«

»Natürlich, aber ein ganz seltsames Kauderwelsch. Nur einiges kann ich verstehen.«

»Was soll ich denn gesagt haben?«

»Ihr nanntet eben einige englische Käsesorten: Stilton und Chester.«

»Du hast geträumt, Jeremy!«

Der alte Soldat legte sich brummend hin. Reihenfels fühlte tiefes Mitleid mit ihm. Er mußte schon stark vom Hunger gepeinigt werden, daß er selbst Worte deutlich in seinen Ohren vernahm.

Plötzlich sprang Jeremy auf.

»Hol mich der Teufel!« rief er fast heftig. »Wollt Ihr mich denn foppen? Ihr erzählt mir da eine ganze Speisekarte, und ich vergehe vor Hunger!«

Reihenfels erschrak. Dieses Delirium bekam einen bösartigen Charakter.

Ich sagte nichts, Jeremy!« begütigte er. »Du träumst nur, armer Kerl!« »Wie soll ich denn träumen? Ich höre immer Worte, die ich noch nie in meinem Leben gehört habe. Es muß aber etwas zu essen sein, denn es kommen Worte vor, die ich kenne.

Daß ich das Schnattern, Schwatzen und Lachen durcheinander nur träume, will ich gern zugeben, aber diese fremden Namen –«

»Was denn zum Beispiel für welche?«

»Nun, was ist denn das: Fromage de Brie?«

»Hast du das noch nie gehört?«

»Nein!«

»Ein französischer Käse.«

»Und Roquefort?«

»Auch.«

»Seht Ihr! Ich habe diese Worte noch nie gehört, und das geht immer untereinander: Stilton, Roquefort, Manchester und Fromage de Brie, und dazwischen schwatzt es und lacht es ...«

Reihenfels wurde plötzlich aufmerksam.

Wie? Jeremy träumte von Speisen, die er nicht kannte, und hörte Worte, die ihm unbekannt waren? »Wie lagst du vorhin, Jeremy?«

»Hier, mit dem Kopfe an der Wand!« Reihenfels legte sich ebenso und drückte das Ohr an die Wand. Er stieß einen Ruf des Erstaunens aus.

Deutlich vernahm er ein Lärmen, Lachen und Schwatzen. Worte schwirrten hin und her, Witze, Zoten wurden gerissen, dazwischen erklang eine längere Rede, die immer unterbrochen wurde, dann brach wieder ein allgemeines Gelächter aus. Es wurde nur Französisch gesprochen.

»... französische Käse? Bah, taugen nichts!« sagte eine fette Männerstimme. »Wie lange hält sich denn der Fromage de Brie? Der Chesterkäse, ja, das ist etwas Solides, der hält sich das ganze Jahr hindurch und schmeckt immer frisch. Dabei bleibe ich. Danke, danke, Madame, ich bin noch versorgt–«

»Wollen Sie nicht Trüffelsauce dazu nehmen?« fragte eine Weiberstimme. »Es sind echte Perigords, frisch angekommen, extra für Sie, Conte, ein anderer versteht so etwas doch nicht zu würdigen!«

»Der Conte platzt, der Conte platzt!« lachte eine Mädchenstimme. »Er muß schon die Weste aufknöpfen!«

Ein Kreischen erfolgte, Teller zerbrachen.

»Das vergesse ich Ihnen nie, Montpassier, Sie haben mir ein Loch in den Strumpf gebrannt!«

»Mädchen, willst du vom Tisch?« rief die fette Stimme.

»Ich will Cancan tanzen! Ziehen Sie die Nase zurück, sonst bekommt sie einen Stüber!«

»Willst du vom Tisch?«

»Nein, versprechen Sie mir das blaue Kleid in der Tschandri-Dschock, dann dürfen Sie mir mein Strumpfband lösen!«

»Das habe ich billiger! Hexe, du trittst ja in die Kotelettes!«

»Salmis aux Truffes gefällig, meine Herren und Damen?«

»Damen, hahaha, sehr gut!«

»Ich lasse mir nächstens eine Tonsur stehen!«

»Trilby will Hochzeit machen. Hoch lebe das ewig Jungfräuliche an ihr!«

»Hoch lebe die Begum von Dschansi! Sie macht uns alle reich und uns Taugenichtse wenigstens zu Generälen!«

»Ich werde ihre Kammerjungfer!«

»Und ich heirate sie!«

»Sie ist schon vergeben!«

»So werde ich ihr Hausfreund!« »Bah, ich heirate sie doch, wenn ich will!«

»Wo ist die Mirzi?«

»Die ist für heute engagiert!«

»Heute, heute, heute, meine Herren! Heute ist der große Tag, da Bengalien an England fallen soll, aber an Frankreich fällt.«

»Still, die Wände können Ohren haben!«

»Montpassier, das kostet zehn Rupien Strafe!«

»Und ich wette, daß die Begum von Dschansi in drei Monaten meine Geliebte ist! Einen Korb Champagner!«

»Kannst du auch bezahlen, mein süßer Junge?«

»Francoeur pumpt, die Begum bezahlt meine Schulden. Champagner, Madame, morgen geht das Puppenspiel los!«

»Punsch heizt besser!«

»Ich ziehe Kotelettes à la Soubise vor.«

»Sie sind ungezogen, Monsieur!«

So schwirrten die Worte toll durcheinander, scheinbar ganz unzusammenhängend, weil gleichzeitig mehrere Gespräche geführt wurden.

Dort wurde eine Orgie der tollsten Art gefeiert. Unter den Männern und Mädchen herrschte die größte Zügellosigkeit; wer am gemeinsten war, war der Witzigste. Einer der Herren schien sich nur fürs Essen zu interessieren.

Aber wo war das Lokal? Ebenfalls unter der Erde? Wie weit von hier entfernt? Die Mauern, gute Tonleiter, konnten den Schall vielleicht meilenweit tragen, und selbst wenn es den Verirrten gelungen wäre, den Ort der Orgie zu erreichen, konnten sie vielleicht unter Leute fallen, denen an ihrem Tode viel gelegen war.

Reihenfels hatte genug gehört, er wußte, daß es so war.

Wenn er nur wenigstens geahnt hätte, wo dieses Lokal lag! Er wußte, daß es in Delhi mehrere solcher Etablissements gab, äußerlich Spelunken, innen glänzend eingerichtet, in denen besonders Franzosen zusammenkamen, mit Mädchen zuchtlose Orgien feierten und hoch spielten. Nur Eingeweihte hatten Zutritt.

Noch überlegte Reihenfels, als plötzlich laute Stimmen durch das Gewölbe hallten. Es war nicht nötig, das Ohr an die Wand zu legen. Auch Jeremy vernahm sie.

»Verzähle dich nicht!« sagte eine Stimme im indischen Dialekt der niederen Klassen.

»Verirren wir uns, so finden wir nimmermehr den Ausgang!«

»So störe mich nicht!«

Schnell hatte Reihenfels den Mund an Jeremys Ohr gelegt.

»Das ist ein Zeichen von Gott, er will uns retten!« flüsterte er. »Wir ziehen die Stiefel aus, schnell, und folgen diesem Schall, bis wir auf die Menschen selbst stoßen. Was wir zu sprechen haben, flüstern wir einander nur ins Ohr.«

Jeremy hatte sofort verstanden. Wie Reihenfels, so zog auch er schnell seine Stiefel aus und folgte ersterem.

Deutlich hörte man ein Gemurmel, es waren die Worte des die Schritte Zählenden, und Reihenfels wurde es nicht schwer, die Richtung zu finden, von wo das Murmeln erklang.

Je schneller sie gingen, desto lauter wurde es; sie näherten sich also den Menschen, die sich gleich ihnen hier unter der Erde befanden. Schritte vernahm man nicht – die Kulis – denn solche waren es dem Gespräch nach – gingen barfuß oder auf Sandalen.

Jetzt verstummte das Murmeln.

»Sind wir schon da?« fragte eine Stimme.

»Gleich! Noch um die Ecke, fünfundsiebzig Schritte geradeaus und den Gang rechts, dann sind wir an der Wand, die uns von der Ruine trennt!«

»Und du kannst die Tür öffnen?« fragte eine andere, dritte Stimme.

»Ja, auch im Finstern. Mir ist es oft gezeigt worden.« Das Zählen begann wieder; deutlich vernahmen die Nachschleichenden jede einzelne Zahl. Bei fünfundsiebzig verstummte es.

So leise und schnell wie möglich eilten die beiden dorthin, wo sie das letzte Murmeln vernommen hatten, und so nahe waren sie den Unbekannten jetzt, daß sie selbst die Schritte der nackten Sohlen vernehmen konnten und wie sie manchmal an die Wand stießen. Aber auch jene mußten infolge der vorzüglichen Akustik des Gewölbes ein Geräusch gehört haben.

»Was war das?« fragte einer ganz in der Nähe.

»Was soll das gewesen sein? Eine Eidechse.«

»Mir war es, als folge jemand uns.«

»Torheit, wer soll hierherkommen?«

Reihenfels hatte leise den Revolver gezogen, ebenso Jeremy. Sie brauchten ihn nicht anzuwenden.

Allem Anschein nach hatten die Männer, wahrscheinlich vier, ihr Ziel erreicht, denn dem Geräusch nach ließen sie sich auf dem Boden nieder.

Reihenfels zog Jeremy neben sich an die Wand. »Nur diese Ecke, vor der wir uns jetzt befinden, trennt uns von ihnen, flüsterte er ihm ins Ohr, dort muß ein Ausgang sein, aber die Männer haben noch etwas anderes vor, als nur diese Gänge zu verlassen. Ruhig, sie unterhalten sich.«

»Alles in Ordnung!« sagte einer der Kulis. »Der Stein bewegt sich, sobald ich an die Stelle drücke. Wißt ihr, wo ihr seid?«

Drei Stimmen verneinten.

»Wir sind dicht an der Ruine im Palmengarten. Ihr braucht nicht zu erschrecken, es sind keine Geister dort, sondern ein Mann, der uns das Zeichen gibt. Klopft er mit seinem Dolchgriff an die Mauer, so ist der Faringi in der Nähe, wir kriechen heraus, verstecken uns in der Ruine und stürzen uns, wenn der Faringi vorübergeht, gleichzeitig auf ihn. Ihr drei macht ihn sofort stumm, womöglich ohne Blut zu vergießen, hebt ihn aus und tragt ihn in den Gang.

Er soll spurlos verschwinden. Kobad, der jetzt schon draußen lauert, wirft den Stein wieder hinter uns in die Fugen, denn das ist das Schlimme, daß man den Stein von innen nicht wieder einsetzen kann.«

»Und was machst du?«

Ich nehme nur die Brieftasche mit den Briefen.«

»Was mag denn wohl in diesen stehen?« »Jedenfalls etwas sehr Wichtiges, was die weiße Missis wissen muß. Der Faringi geht immer zwischen dem Palast des großen Gouverneurs und der Kommandantur mit Briefen hin und her, die sollen wir ihm heute abnehmen.«

Jeremy näherte seinen Mund dem Ohre Reihenfels.' »Teufel, sie wollen die Ordonnanz des Gouverneurs töten und ihr die Briefe rauben.«

»Wir müssen und können es verhüten,« erwiderte Reihenfels ebenso leise.

»Natürlich tun wir es; und sollte ich hier verhungern, ich gehe nicht eher von der Stelle, als bis ich den teuflischen Plan vereitelt habe. Ich fühle übrigens schon gar keinen Hunger mehr.«

»Wir werden das Klopfen des Wächters ebenfalls hören; in dem Augenblick müssen wir uns so nahe wie möglich heranschleichen, und dringen sie vor, so schlüpfen wir sofort nach ihnen hinaus; nicht zu spät, daß wir die Tat nicht noch vereiteln können, und nicht zu zeitig, daß wir vorher entdeckt werden; sonst könnte man den Stein wieder vorsetzen, und wir wären gefangen. Oder hast du einen anderen Plan?«

»Es gibt keinen anderen –da – was ist das?«

Beide sahen in der Ferne erst einen Lichtschein, dann ein flackerndes Feuer, welches sich schnell durch den Gang bewegte, den sie voll und ganz übersehen konnten. Den vier Männern mußte es verborgen bleiben.

»Da ist es wieder, das wandernde Feuer. Jeremy, ich muß ihm nach, ich muß, und sollte ich mich abermals verirren,« flüsterte Reihenfels, des Dieners Hand drückend. »Ihr seid verloren!«

»Gleichgültig, ich muß; es ist die Aufgabe, die ich mir gestellt habe. Kommst du mit?«

»Sir, ich bin Engländer, und jene Indier wollen englische, amtliche Briefe rauben,« entgegnete Jeremy finster, »ich bleibe hier.«

»So bleib! Auf Wiedersehen!«

Damit war Reihenfels schon unhörbar im Finstern verschwunden.

Jeremy sah das Feuer immer näherkommen, es war nicht mehr hell, sondern wie dem Verlöschen nahe. Dann war es ihm, als sehe er noch eine Gestalt durch den Gang huschen, das war Reihenfels, doch nein, es waren ja mehrere, zwei oder drei, und es war fast, als würden sie von dem Fackelträger verfolgt.

Einen Augenblick schwankte Jeremy, ob er nicht seinem Begleiter beistehen sollte. Da erscholl das Klopfen, das Zeichen des draußen postierten Wächters, und Jeremy blieb.


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