Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

13. Die Verführerin

»Wenn deine Mutter selbst nicht begreifen kann, warum die ihr seit nun zwanzig Jahren regelmäßig aus England zugehende Pension plötzlich ausbleibt,« sagte Lord Canning zu seinem treuen Diener Abel, während er einige Kuverts mit Blaustift adressierte, »so muß doch angenommen werden, daß sie im Besitze eines Kontraktes ist, nach welchem ihr eine bestimmte Summe jährlich von einer gewissen Person bezahlt werden muß. Kannst du denn nicht erfahren, wer es ist?«

»Nein,« entgegnete Abel, ein christlich getaufter, junger Indier mit intelligentem, hellfarbigem Gesicht; »meine Mutter weigert sich, den Namen zu nennen, und ich glaube, sie hat einen Grund dazu.«

»Ah, ich verstehe! Der Kontrakt würde wahrscheinlich erlöschen, wenn sie den Namen ihres Wohltäters veröffentlichte. Weißt du auch nicht, in welcher Beziehung sie zu der Person stand?«

Abel wurde sichtlich verlegen.

»Ich kann's mir schon denken, du brauchst dich deshalb nicht zu schämen,« fuhr Canning fort, »es ist ja in Indien nichts Außergewöhnliches, daß ein reicher Engländer sich in eine schöne Eingeborene verliebt, von ihr ein Pfand seiner Liebe erhält und sich nun verpflichtet fühlt, der Mutter Zeit ihres Lebens eine sichere Existenz zu geben. Wie nun aber, wenn der Mann gestorben ist?«

»Die Mutter sagt, er wäre schon längst tot, die Pension hat sie aber noch bis vor einem halben Jahre regelmäßig erhalten und müßte sie auch bis an ihr Lebensende bekommen. Sie dürfe sie beanspruchen.«

»Wenn sie jedoch den Namen nicht nennen will, ist es schwer, etwas zu erforschen. Nun, schicke deine Mutter morgen oder übermorgen hierher, ich will versuchen, im geheimen Recherchen anzustellen, um zu einem Resultat zu kommen. Schließlich wäre es ja auch möglich, daß die ganze Familie ausgestorben ist, oder aber, daß die Erbschaft in Hände gekommen ist, wo die Testamentsbedingungen nicht befolgt werden. Ja, ich hatte schon einmal ...«

Lord Canning spielte mit dem Blaustift, räusperte sich und sah dann den Indier mit durchdringenden Augen scharf an. Abel besaß ein gutes Gewissen, er konnte den Blick ertragen.

»Kanntest du den Mann von gestern abend,« fragte Canning, »der die ihm aufgedrungene Rolle als Generalgouverneur wirklich zu spielen versuchte, und in dessen Handlungen mich zu mischen, mir meine Ehre befahl?«

Der Indier, dem Verstellungskunst unbekannt, wurde abermals sehr verlegen, und mit Verwunderung sah dies Canning.

»Ah, du kennst ihn also? Es wäre ja wunderbar, wenn meine Ahnung begründet ist.«

»Ich weiß nicht, was du meinst, Sahib. Ich kenne den Mann nicht, aber ...«

»Was, aber? Sprich offen, Abel!«

»Bei seinem Anblick fiel mir gleich etwas ein – ein Bild ...« »Welches Bild?«

»Das ich einst zufällig in einem Kasten meiner Mutter fand.«

»Es stellte diesen Mann dar?«

»Nein, sondern einen alten Herrn, und der Mann von gestern abend sah diesem ähnlich; es fiel mir gleich auf.«

»Es ist gut, Abel, ich werde mit deiner Mutter sprechen und ihr Recht zu verschaffen suchen. Den ihr geschenkten Bungalow soll sie auf keinen Fall verlassen, wenn auch alle ihre indischen Nachbarn Ansprüche daraus erheben. Im schlimmsten Falle werde ich ihn kaufen und ihr vermachen. Rufe jetzt die Ordonnanz herein!«

Jim Green trat ein, im Ordonnanzanzug, links am Gurt das breite und lange, schwertähnliche Seitengewehr, rechts im Lederfutteral den englischen Armeerevolver.

»Sechs Briefe,« sagte Canning, »nach der Kommandantur, General Havelock selbst abzugeben und um seine Quittung bitten.«

Die Vertrauensordonnanz verglich die Nummern der Briefe mit denen in seinem Quittungsbuche, quittierte und steckte die sechs Briefe und ein anderes Quittungsbuch in seine Ledertasche. Dann stellte er sich stramm hin, noch etwaige Befehle abwartend.

»Welchen Weg gehst du nach der Kommandantur?« fragte der Gouverneur.

»Am Tage den näheren durch den Palmengarten, abends durch die Tschandri-Tschack und dann am Kanal entlang.«

»Recht so, dort ist es des Abends lebhafter als im Palmengarten. Du wirst den Straßenweg auch heute abend benutzen.«

»Zu Befehl, Excellenz!«

»Es ist gut, geh, und bringe mir die Quittung noch heute, zu jeder Stunde in der Nachtzeit.

Ich erwarte dich!«

Jim machte kehrt; Canning rief ihn noch einmal zurück.

»Ordonnanz, ich kann mich auf dich verlassen?«

»Zu Befehl, Excellenz!«

Lord Canning musterte das frische, ehrliche Gesicht mit den treuherzigen Augen, die kräftige Gestalt des jungen Mannes, der in tadelloser Haltung vor ihm stand, und er nickte befriedigt.

»So geh, halte dich nicht auf und komm unverzüglich zurück!«

Jim ging.

Eine seltsame, ängstliche Spannung malte sich in den Zügen des Gouverneurs, als er, den Kopf vorgeneigt, den sich entfernenden Schritten auf dem Korridor lauschte.

Plötzlich schellte er die Glocke, so hastig, daß Abel erschrocken hereingestürzt kam.

»Rufe die Ordonnanz zurück, sie soll eine Patrouille zur Begleitung mitbekommen – doch nein, nein,« unterbrach sich Canning selbst schnell wieder, »es ist besser so. Niemand ahnt ja, was die Brieftasche birgt, und Vorsichtsmaßregeln könnten nur Verdacht erregen.«

Jim schritt schon die Tschandri-Tschack, die Hauptstraße entlang, welche am kühlen Abend stark belebt war.

»Was hat denn der Alte heute nur?« dachte er unterwegs. »Er ist ja heute furchtbar vorsichtig und mißtrauisch. Es mag etwas Geheimes sein, obgleich kein Brief mit ›Geheim‹ bezeichnet ist. Na, mir soll wohl niemand etwas abnehmen, ich würde ihn ordentlich mit dem Eisen kitzeln. Verflucht, daß der Alte mir auch gerade heute sagen muß, ich soll nicht durch den Palmengarten gehen, heute zum ersten Male, wo ich doch heute durch muß. Ja, ich muß, denn sonst verpasse ich Angela, und dann weiß ich nicht, wo ich sie später treffen soll.«

Er hatte nicht den Weg durch den Palmengarten eingeschlagen, kam aber, als er die Hauptstraße hinter sich hatte, an ihm vorbei. Bog er durch eins der Gittertore ein, so durchschnitt er eine Ecke des Gartens, ein kurzer Weg von etwa zehn Minuten, und dann befand er sich wieder in einer belebten Straße. Hier sollte er Angela, das Mädchen, dem er schon seit einiger Zeit vergebens nachstellte, treffen, hier wollte sie ihm sagen, wo er sie nach Beendigung seines Dienstes zu einem Rendezvous finden wurde.

Jim standen einige herrliche Stunden in Aussicht; verpaßte er das Mädchen jetzt, so gingen sie ihm verloren, denn Angela war eigensinnig und launisch.

Er war nicht lange im Zweifel, was er tun sollte. Er befolgte den Befehl nicht direkt, das heißt, er vermied den Palmengarten nicht vollständig, aber er handelte dem Befehle auch nicht direkt entgegen. Was war denn weiter dabei, wenn er das Eckchen Garten durchquerte und mit der reizenden Angela das Stelldichein ausmachte? Kurz entschlossen bog er von der Straße ab und schritt zwischen den Palmbäumen und anderen herrlichen, exotischen Gewächsen dahin. Der Weg war vollständig finster und anscheinend menschenleer, doch ein Geflüster ab und zu verriet, daß die Bänke zur Seite des Weges mit Liebespaaren besetzt waren.

Jim hatte die Brieftasche unter dem rechten Arme, die linke Hand auf den Griff des Seitengewehres gelegt und einen festen, strammen Gang angenommen. Dabei pfiff er leise eine Melodie, welche er mit Angela als Erkennungszeichen ausgemacht hatte.

Da huschte eine Gestalt auf ihn zu und legte sofort ihren Arm in den seinen. Jim wollte nur einen Augenblick stehen bleiben.

»Bist du's, Angela?« flüsterte er.

»Ja, ich bin's, deine Angela. Ach, Jim, ich warte schon so lange auf dich!«

Die Mädchenstimme klang recht ängstlich.

»Ich muß gleich wieder fort. Sage mir schnell, wo wir uns in einer Stunde treffen wollen.

Du hättest es mir überhaupt schon eher sagen können.«

»Ich kann nicht, Jim.«

»Was, du willst mich wieder zum Narren haben, Mädchen?« rief Jim entrüstet und preßte dabei die schlanke, warme Gestalt an sich.

»Nicht so laut!« bat das Mädchen. »Komm mit, ich will dir etwas zeigen, und dann wirst du begreifen, daß ich mich heute abend nicht mit dir treffen kann. Komm nur mit, es ist gar nicht weit von hier.«

Sie legte den Arm um seine Hüfte und zog den sich nur schwach Sträubenden mit fort, aber nicht den Weg entlang, sondern in die Gebüsche.

»Aber was ist denn nur passiert?«

»Ich will es dir zeigen, wir sind gleich da.«

Jim glaubte einige Minuten riskieren zu können. Daß das Mädchen irgend eine andere Absicht mit ihm habe, daran dachte er gar nicht; er ließ sich von ihr fortziehen und wunderte sich nur, wie Angela hier in den dunklen Gebüschen, wo er allein jeden Augenblick an einen Baum gerannt wäre, den freien Weg zu finden wußte.

Er hielt Angela wirklich, wie sie ihm gesagt hatte, für das Dienstmädchen einer englischen Herrschaft. Sie war sehr hübsch, sogar schön und begehrenswert, aber nach Jims Meinung etwas dumm und verstand sich gar nicht ein bißchen hübsch zu kleiden. Am liebsten trug sie ein schmuckloses Kattunkleid und die Haare einfach hintergekämmt, was ihr gar nicht stand; er versuchte vergebens, ihr einen anderen Geschmack beizubringen, damit er sich mit ihr sehen lassen konnte.

Mit dem ›Sehenlassen‹ hatte es übrigens etwas auf sich; Angela hatte sich bis jetzt nämlich geweigert, mit ihm auszugehen, und das fand der stramme, hübsche Soldat sehr dumm von dem Dienstmädchen.

Angela sprach ziemlich gut Englisch, mischte aber immer italienische Brocken dazwischen.

So erzählte sie auch jetzt in einem fort etwas, bald Englisch, bald Italienisch, es sei etwas passiert, was sie heute abend zu kommen abhielte, und wenn Jim glaubte, er erführe den Grund, dann begann sie wieder Italienisch zu sprechen.

Sie redete schnell und leise und führte dabei Jim immer mit sanfter Gewalt fort. Dieser dachte an nichts Böses. Die Ordonnanztasche fest unterm Arm, ließ er sich führen; einige Minuten konnte er schon opfern, das Mädchen behauptete ja, sie wären gleich da.

Ein Licht leuchtete in der Ferne auf.

»Was ist das?« fragte Jim.

»Weißt du das nicht? Das Gärtnerhaus.«

»Du gehst ja gerade darauf zu.«

»Ich will hinein.«

»Wie? Da darf ich nicht mit. Der Gärtner ist ein englischer Beamter, er darf mich hier nicht sehen.«

Jim wollte stehen bleiben, das Mädchen zog ihn aber unter leisem Lachen wieder fort.

»Torheit, Jim, der Gärtner ist ja mein Verwandter, seine Frau ist meine richtige Tante.«

»Du wohnst wohl dort?«

»Natürlich.«

»Ah, nun weiß ich endlich, wo du zu Hause bist.«

»Komm nur, Jim, du mußt mit mir hineingehen, nur einen Augenblick, dann lasse ich dich wieder frei. Nur die Tante ist da, sie weiß, daß du kommst.«

Jim versuchte noch einmal, Widerstand zu leisten.

»Höre, Mädchen, du hast doch nicht etwa lose Streiche vor? Jetzt bin ich noch im Dienst, da geht so etwas nicht. Erst wenn ich das Seitengewehr abgeschnallt habe, bin ich wieder ein Mensch.«

Angela fand abermals Gründe, ihn zum Weitergehen zu bewegen, und jetzt beschleunigte Jim selbst den Schritt, um so bald wie möglich das Ziel erreicht und hinter sich zu haben. Auf eine Viertelstunde kam's ihm auch gar nicht an; auf der Kommandantur mußte er immer eine halbe Stunde und noch länger warten, ehe er ins Büro gerufen wurde.

Das einstöckige Haus, dessen Gemüsegarten sie durch eine Hinterpforte jetzt betraten, gehörte dem Verwalter des Palmengartens, einem alten, pensionierten Engländer, der mit seiner Frau das Parterre bewohnte. Jim wußte, daß die erste Etage leer stand und daß der Gärtner sie zu vermieten suchte, was ihm aber noch nicht gelungen war, weil das Haus nach arabischem Stil erbaut war, wenigstens oben also keine Fenster besaß, sondern nur Oberlicht.

Europäern sagte das am Tage herrschende Halbdunkel nicht zu, reiche Indier wollten mit dem englischen Beamten nicht unter einem Dache wohnen.

Eine alte, indische Frau öffnete die Hintertür.

»Komm herein,« flüsterte das Mädchen, »schnell und leise, es braucht niemand sonst etwas davon zu merken, daß du hier bist.«

Jim sah im Scheine der Flurlaterne, daß das Mädchen vollständig verhüllt war. Doch Angela war es, er kannte ihre Stimme ganz genau. Ehe er noch zögern konnte, schob sie ihn schon die Treppe hinauf.

»Ja, wohnst du denn hier oben?« fragte er verwundert.

»Natürlich, meine Herrschaft ist ja gestern in das Haus meines Onkels eingezogen. Sie ist heute aus, ich bin allein. Hierhinein! Lege ab und setze dich; ich bin in einem Augenblicke wieder bei dir.«

Jim stand allein in einem fensterlosen, durch eine Hängelampe schwacherleuchteten Gemach, welches sehr luxuriös, halb nach indischem, halb nach europäischem Geschmack eingerichtet war. Allem Anscheine nach war es das Boudoir einer Dame, denn dort stand ein Toilettentisch – nein, das Schlafzimmer, die blauen Vorhänge verhüllten ja ein Bett.

Die Tasche fest unter den Arm geklemmt, stand Jim in sprachloser Überraschung da und schaute sich verwundert um, wobei in ihm ein banges Gefühl aufstieg, als er sich von hinten von unsichtbaren Armen umschlungen fühlte; er sah nur zwei über seine Brust gefaltete, zarte, mit Ringen geschmückte Damenhände, dann wurde er rücklings auf den nächsten Diwan gezogen und gleichzeitig ließ sich neben ihm eine weibliche Gestalt nieder.

Jim war vor Staunen außer sich. Er blickte in ein lachendes Mädchengesicht, in ein Paar strahlende Augen, und alles das gehörte niemandem anders, als seiner Angela. Verschwunden aber war ihr so einfaches Kattunkleid; sie trug eine Toilette, in welcher sie sich auf dem feinsten Ball hätte sehen lassen können, am Busen und Nacken tief ausgeschnitten, über den Schultern nur schmale, mit Schleifen gezierte Bänder, so daß die wohlgeformten Arme, ja fast der ganze obere Teil der Brust sich den Blicken darboten.

War das wirklich Angela? Wie kam sie in dieses Kostüm? Halt, Jim hatte schon in England einmal etwas Ähnliches erlebt; als er ein Dienstmädchen während der Abwesenheit der Herrschaft besuchte, empfing sie ihn im Kleide der Herrin und wollte diese selbst spielen.

Doch dieses Mädchen machte auch den Eindruck einer Dame, ihre Hände waren zart, keine Spur von harter Arbeit ...

Das Mädchen machte seinem Zweifel ein Ende, vermehrte aber nur seine Verwirrung.

Sie legte die runden Arme um Jims Hals, drückte seinen Kopf zurück und preßte ihm unter verführerischem Lachen einen langen, glühenden Kuß auf den Mund.

»Nun, du erkennst wohl deine Angela gar nicht wieder?« scherzte sie. »Erst hast du immer eine solche Stunde herbeigesehnt, und nun, da ich sie dir gewähre, benimmst du dich so kalt.«

Jim stotterte verlegen eine Entschuldigung, scheu blickte er auf den Boden, eine flammende Röte überzog ihm Stirn und Wangen. Schon begann er schwer zu atmen, seine Hände, welche die Brieftasche umklammerten, fingen an zu zittern.

»Ist es denn nur möglich? Du, Angela?«

»Ich bin's, erkennst du mich denn nur nicht? Verstellt es mich denn so sehr, weil meine Haare frisiert sind und ich ein etwas geschmackvolles Kleid angelegt habe? Du hast es ja immer gewünscht, dir zuliebe habe ich's getan.«

»Aber – aber – du – ein Dienstmädchen.«

»Ich ein Dienstmädchen?« lachte sie. »O, Jim, du bist nicht besonders scharfsinnig. Hast du denn nicht gleich gemerkt, daß ich etwas ganz anderes bin? Hier in diesem Hause habe ich zu befehlen.«

»Du? Nicht möglich!«

»Ich bin die Herrin hier, und dich, Jim, möchte ich zu meinem Geliebten haben. Begreifst du denn gar nicht?«

Jims Sinne drohten wirklich zu schwinden. Er fühlte nur die weichen Arme um seinen Hals, er sah das Heben und Senken des vollen Busens.

Noch einmal wollte er versuchen, den Gedanken abzuschütteln, daß er wirklich ein solch ausgesuchter Glückspilz wäre, der Geliebte einer vornehmen Dame zu sein.

»Du warst auf dem Ball der Unteroffiziere.«

»Aus Lust zu Abenteuern; ich ging mit Zagen hin, wie ein Dienstmädchen gekleidet. Es war riskant, es konnte mich jemand erkennen, mich verraten, aber es geschah nicht, und ich fand mein Glück – dich. Ich konnte mich dir nicht gleich hingeben, ich hatte viele Bedenken zu überwinden, doch ich überwand sie, jetzt will ich dir ganz gehören. Viel gebe ich deinetwegen auf.«

Sie drückte ihn an sich und küßte ihn wieder, sie legte sogar ihren kleinen, mit einem niedlichen, ausgeschnittenen Schuh bekleideten Fuß über den seinen.

»Aber wer bist – wer sind Sie denn nur?«

»Das darf ich dir nicht verraten,« flüsterte sie ihm mit glühendem Atem ins Ohr; »nimm mich so, wie ich bin! Ich will jetzt ganz dir gehören. Hier fühlst du, wie mein Herz schlägt? Es schlägt nur für dich allein.«

Sie nahm seinen Arm und legte sich ihn selbst um ihre Hüfte, so daß seine Hand auf ihrem Busen ruhte.

Er fühlte die weichen, üppigen Formen, und je mehr seine Aufregung wuchs, desto mehr sank sein Mut.

Dem Dienstmädchen gegenüber wäre er wohl keck und unverzagt aufgetreten, seit er aber wußte, daß das schöne Weib eine vornehme Dame war, fühlte er sich unsäglich befangen.

An seine Pflicht dachte er im Augenblicke nicht mehr; nicht, daß er leichtsinnig und pflichtvergessen war, er war eben in eine Schlinge gefallen, deren Stricke auch die energischsten und erfahrensten Männer nicht zerreißen können. Und er war ein junger, heißblütiger, lebenskräftiger Mann.

»Warum so scheu, Jim? Liebe mich, ich begehre deine Liebe, ich habe schon lange vergebens darnach geschmachtet, ich will sie genießen. Hier, trink, es gibt dir Mut.«

Sie schenkte, ohne ihren Arm von ihm zu lösen, auf einem Seitentischchen ein Glas Portwein ein, nippte davon und reichte es ihm. Er nahm es und trank es begierig da aus, wo sie ihre Lippen angesetzt hatte.

Das Weib sah ihr Opfer gefangen, es gehörte ihr. Doch auch ihre Augen begannen in wildem Feuer zu funkeln, ihr eigenes, südländisches Blut wallte auf, ihre Nüstern erweiterten sich; aber obgleich sie selbst dem Triebe erlag, den sie in dem jungen Soldaten entfacht, verlor sie dennoch keinen Augenblick die Herrschaft über sich, ihres Zieles war sie sich noch bewußt.

»Liebe mich, Jim!« wiederholte sie. »Du kennst uns Italienerinnen nicht, der muß uns lieben, den wir lieben, oder wir töten ihn, wie er uns tötet. Lege die Tasche weg, sie hindert dich.«

Die Tasche! Dem jungen Manne fiel seine Pflichtversäumnis ein, er mußte die Briefe gegen Quittung abgeben, der Generalgouverneur wartete auf seine Rückkunft.

Er wollte sich erheben, konnte sich aber nicht aus der Umschlingung des Weibes befreien.

»Laß mich, ich muß gehen!« stöhnte er, die Tasche umklammernd.

»Ich lasse dich nicht!« flüsterte sie und bedeckte sein Gesicht mit Küssen.

»Ich muß gehen – nachher, Angela ...«

»Nein, jetzt, jetzt, ich kann nicht mehr warten!«

»Ich komme – wieder.«

»Jetzt, Jim oder niemals. Lege wenigstens deine Waffen ab, sie drücken mich.«

Sie hatte ihn so fest umschlungen, daß er sich nicht rühren konnte, sie lag fast auf ihm. Er sah nicht, was um ihn vorging, denn sein Kopf war zurückgebeugt, so daß er nur die Decke mit dem Oberlicht erblicken konnte.

Das Weib löste den Gurt mit den Waffen und warf ihn auf den Tisch.

»Du bleibst!«

»Ich darf nicht! Ich muß fort!«

»Ich lasse dich nicht! Nur eine Viertelstunde, zehn, fünf Minuten schenke mir!«

»Fort – laß mich!«

Es entstand fast ein Ringkampf; es gelang Jim wenigstens, sie zur Seite zu drücken. Sein Gesicht war dunkel gerötet, seine Pulse flogen, aber dennoch dachte er an die Folgen, wenn er hier bliebe und die Briefe heute nicht an die Kommandantur gelangten.

»Die Briefe, Angela!« ächzte er.

»Welche?«

»Hier in der Tasche!«

»Gib sie her!«

»Nimmermehr!«

»Ich schicke sie hin – wohin?«

»Du Närrin, ich muß sie selbst hinbringen, oder ...«

»Oder was?«

»Oder ich bin verloren.«

»Verloren? Torheit! Du bleibst bei mir. Liebe mich, umarme mich!«

Um Jim war es geschehen. Hätte er auch noch etwas sehen können, wer weiß, ob er es beachtet haben würde.

Seine Hand hielt nicht mehr die ihm anvertraute Brieftasche umklammert; er preßte das Weib an sieh, er bedeckte Angelas Busen, Hals und Gesicht mit heißen Küssen, er keuchte; entnervt lag der sonst so kräftige Soldat da.

»Wie du glühst, Jim!« flüsterte ihm das Weib zu, selbst bis zum Exzeß aufgeregt. »Kann ich dir mehr bieten als mich selbst? Küsse mich, nimm mich hin, es gehört alles dir!« »Mach ein Ende,« hauchte Jim, »ich ersticke!« Er merkte nicht, wie das berechnende Weib, während es ihn küßte und an sich drückte, das Band von seinem Halse löste, an dem ein kleiner Schlüssel hing, mit ihm die Ordonnanztasche aufschloß und in dieselbe hineingriff; er sah auch nicht, wie sich hinter dem Diwan die Portiere teilte und in der Spalte ein scharfmarkiertes Gesicht mit einem Schnurrbart erschien. Ein teuflischer Hohn lag in den Zügen.

»Die Briefe!« flüsterte der Mann, für Jim unhörbar. »Halte ihn nur eine Viertelstunde auf, verweigere ihm nichts, nur fessele ihn, daß er nichts merkt!«

»Jim, Jim,« rief das Weib in rasender Lust, »liebst du mich? Liebe mich, liebe mich, oder ich töte dich!«

Sie drückte mit der einen Hand sein Gesicht an ihre Brust, die andere reichte dem fremden Manne die geraubten Briefe hin, er faßte darnach, da – – – Ein Prasseln erscholl, ein Klirren von zerbrochenen Fenstern, Stücke von Glasscheiben fielen von der Decke herab, ein ganzes Fensterkreuz stürzte auf den Tisch, und diesem nach folgte ein Mensch, ein Junge in englischer Uniform.

Mit einem wilden Sprunge stand er neben dem Weibe, packte die Hand mit den Briefen, riß sie zurück, so daß die Briefe zerstreut in der Stube umherflatterten, riß das Weib selbst von dem Soldaten herab lang auf den Diwan, und ehe die bis zum Tode Erschrockene auch nur einen Laut von sich geben konnte, fielen die Schläge, von einer kräftigen Faust geführt, hageldicht auf sie herab.

Das Weib stieß ein gellendes Zetergeschrei aus – doch niemand kam zu Hilfe. Vergebens suchte sie sich mit den Händen zu schützen, die Faust des Jungen wußte immer eine empfindliche Stelle zu treffen, die Nase, die Augen, und bald lag das Opfer blutüberströmt da, ihr Körper war ein blauer Fleck und schon begann das Zetergeschrei nachzulassen.

Aber nicht genug damit, der wütende Bursche riß sie an den Haaren von den Polstern herab auf den Boden, trat sie mit Füßen, wohin es auch kam, kniete dann auf ihr und begann von neuem ihr Geicht zu bearbeiten. Dabei war er nicht still, jeden Faustschlag begleitete er taktmäßig mit einem Wort.

»Italienische Liebe!« schrie er mit durchdringender Stimme. »Nun – lerne – einmal – irische – Hiebe – kennen – du – schamloses – Weibs – bild – du – wie – schmeckt – dir – das – denn–«

Und nun folgten eine Unzahl von jenen schauderhaften Flüchen und Schimpfworten, in denen die Irländer, und besonders die irischen Weiber, ganz Unglaubliches leisten können, und jedes Wort erhielt durch einen Faustschlag, oder vielmehr durch einen kernigen Boxerhieb, Nachdruck.

Dem Mädchen war schon die Besinnung geschwunden; es hätte vielleicht unter den Händen des Wütenden das Leben lassen müssen, wenn nicht endlich Hilfe gekommen wäre.

Einige Indier, die Gesichter verhüllt, drangen ins Zimmer. Schnell wie der Blitz sprang der Bursche von seinem Opfer auf, an den Tisch, riß Jims Revolver aus dem Futteral und hielt ihn den Gegnern entgegen.

Ebenso schnell waren dieselben auch wieder hinter der Portiere verschwunden, kein drohender Laut erscholl.

Jim hatte unterdes ganz mechanisch, wie im Traum gehandelt. Alles dies kam ihm nur wie eine Erscheinung vor.

Jener Junge dort war Bob, der Trommeljunge. War denn der nicht im Arrest? Wie kam er hierher? Was hatte er mit dem Weibe zu tun? Was lagen da für Briefe umher? Das waren ja seine Briefe aus der Tasche, an welcher der Schlüssel steckte! Langsam, ohne sich um die Szene neben sich zu kümmern, sammelte er die Briefe auf, steckte sie in die Tasche, zog den Schlüssel ab und sah verwirrt um sich.

In diesem Augenblicke kamen die Indier, im nächsten jagte Bobs Revolver sie zurück, Dann sprang der Trommeljunge zu dem verstört blickenden Soldaten und händigte ihm Seitengewehr und Revolver ein. »Schnall um,« drängte er, »schnell, schnell, wir müssen fort! Hast du die Briefe?«

»Ja.« murmelte Jim.

»Alle?«

»Ja.«

»Dann fort, fort von hier!«

Er zog den verwirrten Jim mit hinaus und die Treppe hinunter. Sie stießen auf keinen Widerstand, niemand begegnete ihnen.

Im Garten blieben beide noch einmal stehen, Bob sah den Soldaten mit großen, vorwurfsvollen Augen an.

Da ging durch Jims Körper plötzlich ein Zittern, er mußte sich an das Gitter lehnen und sich festhalten. Dann strich er die wirren Haare aus der Stirn, faßte die Brieftasche mit beiden Händen und stöhnte tief auf.

»Was habe ich getan!« ächzte er.

»Nichts, was nicht wieder gutzumachen geht,« sagte Bob leise, hob die Hand und deutete nach einer Richtung.

Verständnislos stierte Jim ihn an.

»Nach der Kommandantur,« flüsterte Bob; ich habe dich nicht gesehen und du mich nicht.

Gehab dich wohl!«

Jim drehte sich wortlos um ging die ersten Schritte mit gesenktem Kopfe, richtete sich dann aber gerade auf und suchte im Gehen seinen Anzug in Ordnung zu bringen.

Der Junge sah ihm nach, bis er seinen Blicken entschwunden war. Dann wollte er in der entgegengesetzten Richtung davongehen, als er lauschend wieder stehen blieb.

In der Ferne tönten Trompetensignale, es wurde kleiner Alarm geblasen.

Plötzlich stieß Bob einen jauchzenden Ruf aus und eilte der Richtung zu, aus welcher die Signale erklangen, und dort lag das Arrestlokal. – Oben in dem Hause, dessen unterer Teil heute verlassen schien, beschäftigte sich der Mann, dessen Kopf vorhin hinter der Portiere erschien, mit dem Weibe. Angela hatte ihre Verführungskunst bald mit dem Leben büßen müssen.

Sie sah schrecklich aus. Die Augen konnte sie wohl wochenlang nicht öffnen, so waren sie angeschwollen, dabei schon jetzt blau umrändert; wenn das Nasenbein noch heil war, so konnte sie von Glück sagen; das ganze Gesicht war mit Blut bedeckt und keine Stelle der Brust, die nicht blau und geschwollen gewesen wäre. Nicht besser mochte der übrige Körper aussehen, denn der Junge hatte mit Fußtritten nicht gespart.

Der Mann hob die Bewußtlose auf den Diwan. Wir kennen ihn bereits, es ist Monsieur Francoeur.

Er bedauerte in diesem Augenblicke nicht die Gemißhandelte, grübelte auch nicht darüber nach, wie der Junge auf das Dach des Hauses gelangt war, wie er von dem erfahren hatte, was hier vorging, oder was hier vorgehen sollte, seine Gedanken waren mit dem Mißlingen seiner Absicht beschäftigt.

»Es ist schändlich!« murmelte er, die Bewußtlose vom Boden aufhebend. »Wir waren schon ziemlich am Ziel, Mirzy hatte so geschickt operiert, da mußte die Störung kommen.

Innerhalb zehn Minuten hätte ich die Briefe erbrochen, kopiert und wieder so geschlossen gehabt, als wären sie nie offen gewesen. Dann hätte der Soldat gehen können, Mirzy würde ihm schon einen Entschuldigungsgrund für sein längeres ausbleiben gegeben haben; niemand hätte von unserer Kenntnis der Briefe eine Ahnung gehabt – nein, da muß es wieder mißglücken. Nun, verloren sind uns die Briefe nicht, sie kommen auf jeden Fall in unsere Hände, aber die Ordonnanz muß dabei ihr Leben lassen, und man weiß dann bestimmt, daß eine Meuterei im Gange ist. Gleichgültig, wir müssen sie haben, übrigens ist der Befehl schon gegeben, ich könnte es nicht mehr ändern.«

Er rief eine alte Indierin herein, das Weib brach beim Anblick des Mädchens in Jammern aus. »Laß dein Heulen,« fuhr Francoeur sie barsch an, »kleide sie an, wenn sie auch nicht erst zum Bewußtsein kommt, packe alles ein, auch deine Sachen. In fünfzehn Minuten verlassen wir das Haus und kehren nicht wieder zurück.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er hinaus und erstieg die zum Dach führende Treppe.

Es war platt und zum Aufenthalt eingerichtet, wie gewöhnlich bei indischen und arabischen Häusern.

Der Mann untersuchte auch jetzt nicht, wie der Trommeljunge das Dach hatte erreichen können, aufmerksam lauschte er in die Nacht hinaus.

»Jetzt müßte er dort sein,« murmelte er, »und noch ertönt kein ausfälliges Geräusch. Pest noch mal, wenn er an der Ruine einen weiten Umweg machte, oder wenn meine Leute nicht am Platze wären! Dann gilt es einen offenen Mord, der alles verraten kann. Aber unser müssen diese Briefe werden.«

Etwa fünfzig Meter von diesem Hause entfernt lag eine uralte, völlig zerfallene Ruine, nur klein, gar nicht mehr erkennen lassend, was für ein Gebäude es eigentlich früher gewesen sei.

Altertumsforscher behaupten, sie stamme aus der Zeit der Pandus und sei nur ein Turm gewesen, in welchem das Wasser in der Leitung gemessen wurde. Jetzt stand kein Stein mehr auf dem anderen, alles war mit Gras und Moos überwuchert, und nur selten wagte sich ein spielendes Kind an das unheimliche Gemäuer.

Die Indier scheuten sich, es zu betreten, weil ihnen alles, was von den Pandus stammt, heilig ist, die Europäer, weil hier einmal ein entsetzlicher Raubmord begangen worden war.

Ein breiter Weg führte unweit davon vorüber. Dorthin lenkte Francoeur seine Aufmerksamkeit, und er sollte nicht lange zu warten brauchen.

»Zu Hilfe!« erscholl der Ruf durch die Nacht, von derselben Stimme ausgestoßen, die vorhin unter dem halbnackten Mädchen gestöhnt hatte. Beim zweiten Hilferuf versagte sie.

»Gelungen!« flüsterte Francoeur triumphierend.

Da aber erschollen andere Rufe, die ihn mit Bestürzung erfüllten.

»Zurück, Canaillen!« ertönte gleich nach dem Hilferuf eine rauhe, tiefe Männerstimme.

»Hand weg von der Ordonnanztasche! Willst du brauner Schuft mit einem alten Lancierkorporal fechten? Da, verdaue den, wenn du kannst – zu Hilfe, England, Meuterei!«

Ein heftiger Kampf mußte stattfinden, Waffen wurden gekreuzt, ein Revolver knallte mehrmals hintereinander.

Die furchtsamen Spaziergänger des Parks entflohen, die Weiber kreischten, die unerschrockenen Männer wurden herangezogen. Von allen Seiten eilten dunkle Gestalten herbei, unter ihnen erkannte Francoeur einen uniformierten Offizier.

Noch einen Augenblick verweilte der Lauscher auf dem Dach.

»Er ist von Indiern überfallen worden,« hörte er sagen, »ist er tot?«

»Nur betäubt durch einen Schlag vor den Kopf und einen Stich durch die Schulter,« entgegnete die rauhe Stimme; »es ist eine Ordonnanz, Herr Leutnant.«

»Her die Tasche! Wo ist das Quittungsbuch?«

»Hier!«

»Stimmt, es fehlen keine Briefe. Wieviel Angreifer waren es?«

»Vier.«

»Aber so viele liegen ja hier am Boden.«

»Dann werde ich sie wohl alle niedergemacht haben,« lachte die rauhe Stimme.

»Ihr allein?« erklang es erstaunt.

»Ich allein.«

»Wer seid Ihr?«

»Jeremy Huxley, Lancierkorporal beim ersten roten Dragonerregiment.«

»Ich werde Eurer gedenken. Jetzt die Kerls erst untersucht, ob einer noch lebt, damit er Geständnisse machen kann.«

Mit einem Fluche sprang Francoeur die Treppe hinab. Unten kam ihm ein Kuli entgegen.

»Alles bereit?« »Alles fertig, Sahib!«

»Dann fort, wir müssen spurlos verschwinden. Das Mädchen nehmen wir mit. Eilt, sonst dürften wir nicht mehr entkommen.«


 << zurück weiter >>