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19. In der Stadt

Bob, der Trommeljunge, hatte sich selbst der ersten ihm begegnenden Patrouille ausgeliefert, die den kleinen, kecken Ausreißer suchen sollte.

Der führende Unteroffizier glaubte nicht anders, als Bob habe für diesen Abend ein Vergnügen vorgehabt und, um sich dieses nicht entgehen zu lassen, sich einfach durch Selbstbefreiung dem Arrest entzogen. Nun war er nicht wenig erstaunt, als er plötzlich gefragt wurde, ob er den Trommeljungen Bob suche.

Der Unteroffizier fühlte Mitleid mit dem kleinen Kerl, denn er kannte das traurige Los, das ihm jetzt bevorstand; aber ändern konnte er daran nichts. Die Suppe, die Bob sich eingebrockt, mußte er nun auch auslöffeln.

Er wurde wieder nach dem Arrestlokal gebracht, wo ihn der wachhabende Offizier mit unheilverkündendem Gesicht empfing. Ein Protokoll wurde an Ort und Stelle aufgenommen, dann kam Bob sofort, noch diese Nacht, nach dem Turm in Untersuchungshaft.

Aber der Offizier hatte einen schweren Stand, einen so halsstarrigen Sünder hatte er noch nie vor sich gehabt.

Der Schließer erzählte zuerst, wie er Bob, durch dessen Klopfen und Schreien herbeigerufen, sich anscheinend in Krämpfen oder furchtbaren Schmerzen auf der Pritsche hätte wälzen sehen. Er habe geglaubt, der Gefangene wäre heftig erkrankt, habe die Zelle betreten, um die erste Hilfe dem Kranken angedeihen zu lassen, da aber sei Bob aufgesprungen, hinausgeeilt, hätte die Tür zugeworfen und auch noch den Riegel vorgeschoben.

Der Korridorposten erzählt seine harmlose Begegnung mit dem Flüchtling, der Posten auf dem Hofe, wie der Junge am Blitzableiter herabgerutscht, an ihm vorbeigeschlüpft und dann mit Benutzung des Fasses über die Mauer gesetzt sei.

Dieser Soldat sah einer Bestrafung entgegen, weil er auf den Flüchtling nicht geschossen hatte. Dieses Vergehen war ein sehr schweres.

Bob waren ebenso einige Jahre Festung gewiß, es sei denn, der Junge besaß Schlauheit und wußte einen triftigen Grund anzuführen, weswegen er die Selbstbefreiung begangen hatte.

»Was hast du zu deiner Verteidigung zusagen?« wandte sich der Offizier an Bob.

»Nichts.«

»Es verhält sich also alles, wie der Schließer und die Wachthabenden angaben?«

»Ganz genau so.«

»Warum hast du es getan?«

Hier war die Klippe, an der alles scheiterte. Bob schwieg von jetzt an beharrlich, er erklärte sogar, daß er diese Frage nicht beantworten würde.

Der Offizier konnte fragen, wie er wollte, in Sanftmut oder in Zorn, er konnte dem Schuldigen mit seinen Fragen noch so entgegenkommen, Bob öffnete nicht mehr den Mund.

Schon sollte er durch eine Patrouille nach dem Turm abgeführt werden, als ein dem Wachthabenden befreundeter Offizier atemlos und mit allen Zeichen von Aufregung hereinkam.

»Haben Sie schon gehört, die Ordonnanz des Gouverneurs ist im Palmengarten von vier Indiern überfallen worden; man hat versucht ihn zu töten, ihm die Briefe zu entreißen.«

»Was Sie sagen! Ich entnehme Ihren Worten, daß der Plan nicht gelungen ist.«

»Gott sei Dank, nein! Ein alter, gedienter Soldat namens Jeremy kam aus demselben Versteck hervor, wo die Mörder lagen; er hatte ihren Plan belauscht, und der alte Haudegen hat die vier Mann auf der Stelle niedergemacht.«

»Und die Ordonnanz?«

»Die hat einen Schlag auf den Kopf und einen Stich durch die linke Schulter bekommen.

Ich kam hinzu und fand den jungen Mann bewußtlos zwischen den vier Leichen liegen. Er hatte nur noch Zeit gehabt, den Revolver zu ziehen, die Brieftasche hielt er fest umklammert. Ich überzeugte mich erst, daß die eingetragenen Briefe alle vorhanden waren, ließ dann den Bewußtlosen, der starken Blutverlust erlitten hatte, nach dem Lazarett schaffen, und brachte die Briefe gleich selbst nach der Kommandantur. General Havelock nahm sie mir ab, er schien auf sie gewartet zu haben. Als ich ihm von dem Überfall erzählte, wurde er aschfahl.

Sie können sich wohl denken, was die Briefe enthielten.«

»So ziemlich! Sie müssen sehr wichtig gewesen sein. Es wundert mich, daß die Ordonnanz allein geschickt wurde.«

»Mich auch. Dann begab ich mich zu Lord Canning und erstattete Meldung« – der Erzähler näherte den Mund dem Ohre des Kameraden, und seine Stimme sank zu einem Flüstern herab, »und es schien mir, als ob er sich einen Augenblick die ärgsten Vorwürfe machte. ›Ich hätte es mir denken können‹, hörte ich murmeln, ›Gottlob, daß es noch so abgelaufen ist!!‹ Lord Canning ging selbst mit mir nach dem Lazarett, um nach dem Verwundeten zu sehen,« fuhr der Offizier dann laut fort, »und er empfahl ihn der besonderen Obhut der barmherzigen Schwester, die ihn selbst einmal gepflegt hat.«

Der Offizier wollte den Kameraden nicht länger aufhalten und entfernte sich.

Aufmerksam hatten die Soldaten der Mitteilung gelauscht. Sie war auch für ihre Ohren bestimmt gewesen, denn in den Kolonien müssen die Engländer zusammenhalten wie Schiffbrüchige auf einer Insel. Die Subordination ist weniger streng, und am aufmerksamsten war Bob gewesen.

Fahle Blässe überzog sein hübsches Gesicht, als er noch nicht wußte, ob Jim Green nur verwundet oder tot sei; dann aber hellte es sich wieder auf; ein schelmischer Zug kam zum Vorschein; fröhlich leuchteten die Augen wieder, und ein Seufzer der Erleichterung kam aus dem tiefsten Herzen.

»Nun, hast du dir überlegt,« wandte sich der Offizier an ihn, »ob du mir ein Geständnis machen willst?«

»Ja, Herr Leutnant.«

»Das ist gut. Aus welchem Grunde hast du dich also aus dem Arrest entfernt?«

»Aus keinem anderen Grunde, als weil es mir darin nicht gefiel. Draußen war es so schön, und da dachte ich, es könnte mir nichts schaden, wenn ich einen kleinen Spaziergang unternähme.«

Die alte Tollheit des Burschen brach wieder durch. Er behauptete, keinen anderen Grund dazu gehabt zu haben, und schließlich mußte der Offizier seine Aussage protokollieren, so lächerlich diese auch war.

Eine Patrouille wurde beordert, Bob in den Turm zu bringen.

»Hast du noch etwas zu sagen?«

»Ja, Herr Leutnant. Ich wollte noch fragen, ob es möglich wäre, daß ich meine Zeit unter den Krankenwärtern abdiene.«

»Hinaus mit ihm, sonst wird er noch völlig verrückt.«

»Oder als barmherzige Schwester!«

»Hinter den Festungsmauern kannst du dich auf deinen neuen Beruf vorbereiten.«

Bob wurde von der Patrouille in die Mitte genommen; sie marschierten ab.

Schon eine Stunde später saß der Junge im Turm in einer engen Zelle, diesmal aber in grauleinenem Arrestanzug. Seine Nachbarn waren Aufwiegler, Diebe und sogar Verbrecher, die mit dem nächsten Schiffe nach England zur Verurteilung kamen. Auch Bob's Los war kein anderes. Vor dem Transport wurde er noch einmal vernommen und die Art seines Vergehens festgestellt.

An Flucht war hier gar nicht zu denken. Wie schon erwähnt, lag der hohe Turm auf einem Hügel außerhalb der Stadt, aber noch innerhalb der Mauern Delhis. Die Bewachung war eine sehr scharfe; unter Aufsicht eines Leutnants lagen hier immer dreißig Mann in voller Kriegsausrüstung; denn einst hatten Indier versucht, einen gefangenen Kameraden mit Waffengewalt zu befreien, und die Wache hatte den Turm wie eine Festung verteidigen müssen. Ob man dem kecken Jungen vielleicht doch einen Fluchtversuch zutraute, kurz, man wies ihm die höchste Zelle des Turmes an.

Bob war durchaus nicht niedergeschlagen, im Gegenteil, er war sehr fröhlich aufgelegt und bedauerte nur, daß er, wenn er zum Fenster hinaus rief, von keiner menschlichen Seele Antwort bekam.

Am anderen Tage konnte er von seiner luftigen Höhe aus die Festlichkeiten zu Ehren Siwas bewundern, und er amüsierte sich dabei vortrefflich. Den ganzen Tag stand er am Fenster, er sah, wie sich die in Delhi fremden Indier gegen Abend entweder in ihre Baracken zurückzogen oder die Trümmerfelder aufsuchten. Jetzt erwartete er, bei diesen fremden Gästen, die er wohl auf Hunderttausend und noch mehr schätzte, sich ein lebhaftes Lagerleben entwickeln zu sehen, aber er hatte sich geirrt. Nur hier und da flammte in der Nacht ein Feuer auf, sonst herrschten vollkommene Finsternis und Ruhe. Die Leute mochten alle müde sein; waren sie doch auch den ganzen Tag auf den Füßen gewesen.

Bob verzehrte mit dem besten Appetit sein Abendbrot, nicht das trockene Brot des Arrestanten, sondern Kasernenkost, wie die Gefangenen sie erhalten, und stellte sich dann wieder ans Fenster, um die kühle Nachtluft zu genießen und das schlafende Delhi von hier oben aus noch etwas zu betrachten.

In der Wachtstube des Turmes lagen sechsundzwanzig Soldaten schlafend auf den Pritschen, vier Mann umschritten als Posten, die geladenen Gewehre über den Schultern, in taktmäßigem Schritt das massive Gebäude. Neben dem Tore lehnte eine Gestalt im grauen Offiziersmantel, es war Eugen, der heute diese Wache kommandierte; ihm zur Seite stand ein alter Hornist, der als solcher sein ganzes Leben in Indien gedient hatte.

Zu dieser Wache ward kein Trommeljunge verwendet, man nahm alte, gediente Hornisten.

Der Hügel war nicht hoch genug, um über die Häuser hinwegsehen zu können, und während beide in die Mündungen der finsteren, von keinen Lampen erhellten Straßen blickten, tauschten sie Bemerkungen über das heutige Fest aus.

Der alte Hornist, der schon unzähligen solchen Götterfesten beigewohnt hatte, wunderte sich über die Wagen mit Blumen, und am allermeisten darüber, daß diese gar nicht alle verbraucht worden waren.

»Die Wagen wurden immer noch halbvoll beiseite gefahren, weiß der Teufel wohin, und es kam mir fast vor, als wären sie für eine Blumenladung viel zu schwer. Einen Wagen sah ich, dessen Räder zolltief in den Boden einsanken.«

»Die Wagen sind an sich schon sehr schwer,« entgegnete Eugen, »manche wiegen allein viele Zentner.«

»Trotzdem hätte man nachsehen sollen, was unter den Blumen noch steckte.«

»Ihr seid mißtrauisch?«

»Hier in Indien muß man es immer sein; der Teufel traue den braunen Halunken, ich nicht!«

»Wie, Ihr denkt an einen Aufstand, obwohl die vollste Ruhe in Indien herrscht?«

»Nicht gerade an einen Aufstand, denn so etwas wittert man immer im voraus.

Glücklicherweise können sich die heißblütigen Indier nicht verstellen – aber eine Spitzbüberei steckte doch unter den Blumen.«

»Vielleicht brauchen sie sie noch morgen.«

»Ich wüßte nicht, wozu. Morgen rücken die Zugewanderten wieder mit Sack und Pack ab, und es wundert mich auch, daß heute alles so still ist. Sonst enden solche Feste mit großen Schmausereien; die ganze Nacht geht es lebhaft zu.«

»Sie haben am Tage genug gebrüllt und gesprungen, sie müssen müde sein. Oder schöpft Ihr aus dieser Stille wirklich Argwohn? Man kann nicht vorsichtig genug sein, ich würde sofort Meldung machen lassen.«

»Nicht auf meine Veranlassung hin, Herr Leutnant; es ist streng verboten, unnötigen Verdacht zu erregen, weil die Indier dadurch sich gleich in ihrer Ehre verletzt fühlen – diese Spitzbuben. Aber wer, wie ich, schon einige Aufstände durchgemacht hat, der wird leicht mißtrauisch.«

»Die Aufstände wurden immer rechtzeitig entdeckt, um ihnen kräftig begegnen zu können.«

»Freilich, sonst stände es auch schlimm mit uns, denn wir sind viel zu wenig Engländer in Indien. Was sind diese 6000 in Delhi? Die werden einfach erdrückt.«

»Ihr sollt im letzten Aufstand in schlimmer Lage gewesen sein.«

»Das war ich, Herr Leutnant. Ich begleitete damals mit einigen Soldaten einen Offizier auf einer Forschungsexpedition, und wir waren wochenlang von jedem Verkehr abgeschnitten; daher hatten wir auch keine Ahnung, daß ein Aufstand in Aussicht war, und daß schon Vorbereitungen getroffen wurden, ihn abzuwehren. Wir glaubten uns im sichersten Frieden, aber die uns begleitenden Indier wußten recht gut, wann es losgehen sollte; sie hatten es von einem Fakir erfahren, der uns begegnete. In der Nacht, als der Aufstand losbrach, schlichen sie sich leise an uns heran; ein Glück, daß ich nicht schlief, sonst wäre kein einziger von uns ihnen entgangen. Dreien haben sie doch den Hals durchgeschnitten, darunter auch dem Offizier, und keinen Ton hörte man dabei. Dann aber waren wir auf und fielen über die Teufel her. Sehen Sie, Herr Leutnant, im kleinen können die Indier wohl ihre Absicht verbergen.«

»Aber einen ganzen Aufstand bis zur letzten Minute zu verheimlichen ist ihnen doch nicht möglich. Das war wohl damals, als der Aufstand mit der Schlacht bei Nursingpur endete?«

»Ja. Es stand schlecht mit uns. Hätte damals Leutnant Carter, dessen Namen Sie tragen, nicht den kecken Reiterangriff gemacht, kein Engländer hätte die Heimat je wieder gesehen.

Der arme Sir Carter, ich gäbe mein Leben hin, wenn ich ... Himmel und Hölle, was ist das?«

Beide waren zusammengefahren; die patrouillierenden Posten blieben wie auf Kommando stehen und entsicherten die Gewehre, die Soldaten in der Wachtstube sprangen wie elektrisiert von den Pritschen auf und griffen schlaftrunken nach den Waffen.

Ein Trompetensignal schmetterte durch die Nacht. Aber woher kam es? Es mußte ganz in der Nähe des Turmes gegeben worden sein, hoch oben in der Luft. Die beiden Männer blickten nach dem Turm hinauf, als müsse der Trompeter oben stehen, denn von dort herab erklang es.

..Das große Alarmsignal!« flüsterte Eugen. »Höre ich denn wirklich recht oder träume ich nur?«

Dieses Signal hätte für den Wachthabenden den Befehl enthalten, die Soldaten in Reih und Glied unter Waffen antreten zu lassen, die Gefangenen sofort in Freiheit zu setzen, sie zu bewaffnen und die Gewehre der Waffenkammer, welche dann noch übrig blieben, durch Herausnahme einiger Schloßschrauben unbrauchbar zu machen.

Aber nein, es mußte eine Täuschung sein. Wer war der Hornist, der dieses Zeichen gab, wer besaß hier außer dem Hornisten eine Trompete? Doch das Signal klang weiter; tief setzte es ein, in kurzen Absätzen schwollen die Töne und endeten wieder tief; aber nicht genug damit, hinterher erscholl ein schriller, tremolierender Ton, der sich in Schwingungen wiederholte – es war das Zeichen des Stabshornisten, der auf Befehl des Höchstkommandierenden oder des Lenkers der Schlacht das Signal gibt, und jeder Hornist, der es hört, muß es sofort wiederholen.

Schon stürzten die Soldaten aus der Wachtstube. Eugen wußte noch nicht, was er denken sollte. Der Hornist riß die Trompete von der Schulter und setzte sie an die Lippen.

»Soll ich?«

»Noch nicht, es ist ja gar nicht möglich,« flüsterte Eugen.

Durfte er den Weckruf ertönen lassen, der ganz Delhi in Kriegszustand brachte? Sein Zögern nützte nichts. Das Signal war von anderen Wachen gehört worden, dort in der Ferne erscholl das große Alarmsignal, dort wieder, es ertönte auch mehrmals auf der Festung im südlichen Teile Delhis, deren mächtige Umrisse man von hier aus nur undeutlich erkennen konnte, Lichter huschten darauf hin und her. »Wiederholt es!« rief jetzt auch Eugen, und hell und scharf entquollen der Trompete des alten Soldaten die Töne des großen Alarmsignales.

Im Turm ward es lebendig; die Schließer eilten hin und her und öffneten die Türen der Zellen.

»Auf, hinunter mit euch! Bewaffnet euch! Ihr kämpft für euer Leben!« erklang es.

Die Gefangenen, plötzlich befreit, stürzten hinunter und empfingen Bajonette, Gewehre und Patronen, sie ordneten sich neben der Wache; einträchtig standen die uniformierten Soldaten und die Gefangenen in leinenen Sträflingskleidern nebeneinander.

Eugen bekam schon die Schrauben der überflüssigen Gewehre ausgehändigt, er steckte sie zu sich. Noch wußte er nicht, ob dies denn alles Ernst sei.

»Wer hat das Zeichen des Alarms gegeben?« fragte er, von einer Ahnung erfaßt.

»Ich Herr Leutnant,« schrie ein Junge im Sträflingsanzug und schob eine Patrone in das Gewehr, das ebenso lang war wie er.

»Was! Bob, du hättest ...«

Das Wort erstarb ihm auf den Lippen.

Ein furchtbares Geheul erscholl, eine dunkle Masse stürmte aus den Straßen dem Hügel zu, blanke Waffen blitzten.

Jetzt wußte Eugen, woran er war.

»Rechts aufmarschiert – Feuer!« übertönte sein Kommando das Geheul, und die erste Salve in Delhi krachte den meuterischen Indiern entgegen.

Das Schmerzgeschrei der Getroffenen vermischte sich mit dem Gewehrknattern, das plötzlich überall in der Stadt erklang. Am lautesten ging es auf der Festung zu; unaufhörlich rollten dort die Gewehrsalven.

Da, ein Blitz, ein leuchtender Schein – der erste Kanonenschuß, dem der Donner nachfolgte, und in dem Flammenmeer sah man, wie auf dem einen Weg zur Festung die englischen Soldaten mit Indiern im Verzweiflungskampfe rangen, während auf dem anderen, der dicht mit Indiern besetzt war, der Kanonenschuß Tod und Verwirrung verbreitete.

Der Kampf in Delhi hatte begonnen, eine Stunde zu früh, sonst wäre nicht ein einziger Engländer mit dem Leben davongekommen. – – – – – – – – – – – – – – – Zur bestimmten Zeit hatte sich Leutnant Dollamore bei der Duchesse anmelden lassen, aber die Geduld des nicht ans Warten gewöhnten Indiers wurde auf eine harte Probe gestellt.

Fast eine Stunde mußte er im Vorzimmer harren. Die Duchesse mache Toilette, hieß es immer, so oft er auch fragte.

Ruhelos wanderte er auf und ab, warf sich bald auf einen Stuhl und blätterte in einem Album, bald musterte er die Bilder an der Wand, doch immer nahm er seine Wanderung schnell wieder auf, als wolle er dadurch sein heißes Blut beruhigen.

Die hier hängenden Bilder gaben denen im roten Boudoir an Lüsternheit nichts nach, und das Album zeigte dem heißblütigen Indier die Herrin des Hauses in Stellungen, welche antiken, klassischen Statuen entnommen waren. Als Juno, wo sie den Pfau liebkosend streichelt, als Diana, wie sie, den Oberkörper vorgebeugt, den Pfeil dem Bogen entsendet, oder zurückgeneigt den Jagdruf ertönen läßt, sie zeigte sich, wie sie zum Bad das Kleid schürzt und so weiter.

Diese Darstellungen, welche, ganz dem antiken Stil nachgeahmt, die Schönheit und Grazie der Körperformen erkennen ließen, erhitzten das Blut des Indiers immer mehr, immer wieder warf er das Album weg, und doch griff er immer wieder danach.

Derartige Bilder sind nichts Seltenes, man findet sie besonders in Italien auf dem Tisch im Empfangszimmer liegen, ohne daß daran Anstoß genommen wird, daß ein Fremder die Formen der Hausdame fast unverhüllt bewundern kann. Ländlich, sittlich – nirgends ist das Baden beiderlei Geschlechts untereinander so unschuldig, wie an den Küsten Italiens, so zum Beispiel auf der Badeinsel Lydo in der Nähe von Venedig.

Endlich, endlich kündigte ein indisches Mädchen dem der Verzweiflung Nahen an, die Duchesse sei bereit, ihn zu empfangen. Ein süßer Duft, zusammengesetzt aus allen Wohlgerüchen Indiens, strömte ihm schon aus der geöffneten Tür entgegen.

Schnell wollte er das ihm so wohlvertraute, rote Boudoir betreten, sich seiner Herrin zu Füßen werfen, da ertönte ein Schrei, und wie geblendet blieb er im Türrahmen stehen.

Was er vorhin auf Bildern gesehen, das zeigte ihm jetzt die Wirklichkeit: einen Busen und Schultern wie von weißem Marmor, eine schwellende Hüfte und ein Bein, an dessen Schönheit das der Diana nicht reichen konnte.

Nur einen Augenblick durften Dollamores Augen dies schauen, dann warf die Kammerzofe der Duchesse einen langen Mantel um die Schultern, und diese sank auf den Diwan.

»Habe ich dir nicht gesagt, du solltest warten, bis ich zum zweiten Male klingele?« zürnte sie der Dienerin, die Dollamore gerufen hatte.

Das Mädchen murmelte eine Entschuldigung, während das andere der Herrin behilflich war, ihr auf dem Diwan eine bequeme Lage zu geben. Den schönen Leib verhüllte der weite, dicke Mantel aus rauher und doch weicher Wolle, der Kopf lehnte auf dem Polster, aufgelöst hing das feuchtglänzende, blauschwarze Haar herab, und jetzt richtete sich das schöne, lächelnde Antlitz nach dem noch immer an der Tür Harrenden. Es zeigte einen müden, erschöpften und doch frischen Ausdruck – die Duchesse war eben dem Bade entstiegen.

Sie schickte die beiden Mädchen hinaus, unter denen sich heute Mirzi nicht befand, dann rief sie Dollamore heran.

Der junge Mann ließ sich auf einem niedrigen Sessel am Kopfende ihres Lagers nieder; lächelnd ruhte ihr Blick aus seinem schönen Antlitz, auf dem sichtlich Freude mit Verwirrung kämpfte. Dollamore war feurig, er besaß sogar einen wilden Charakter, doch dieser wurde von Sittlichkeit beherrscht. Aber wehe, wenn diese der Leidenschaft erlag! Aus den Falten des Mantels huschte eine kleine, feuchte Hand und streckte sich ihm entgegen.

»Du hast mich erschreckt, mein Freund!« lispelte die Duchesse matt. »Du kamst einige Minuten zu früh und hast gesehen, was du nicht sehen durftest.«

Er führte die warme Hand an seine Lippen und preßte einen langen, heißen Kuß darauf, sie aber wickelte sich noch fester in den Mantel, was nur den Erfolg hatte, daß er sich enger an ihre vollen Formen schmiegte.

Dollamore wollte einige Entschuldigungen murmeln.

»Sprich nicht Englisch!« unterbrach sie ihn sofort. »Bediene dich des Indischen! Ich mag das Englisch nicht hören, und aus deinem Munde klingt es geradezu unnatürlich!«

»Es ist die Sprache derer, die mir zu befehlen haben, und die ich liebe!« entgegnete Dollamore.

»Du liebst deine Unterdrücker?« fragte das Weib mit einem leichten Anflug von Hohn.

»Es sind nicht meine Unterdrücker!« entgegnete der Indier rasch. »Es sind meine und unser aller Wohltäter. Schlimm sähe es in Indien aus, wäre es der Willkür der Radschas preisgegeben!«

Die Duchesse bereute sofort, schon jetzt einen Gegenstand berührt zu haben, der das Thema für den späten Abend bilden sollte; schnell wußte sie dem Gespräch eine andere Richtung zu geben.

»Du sagst, du liebst die Engländer. Auch die Engländerinnen?« fragte sie scherzhaft, ohne seine Hand freizugeben.

»Wie kannst du so sprechen? Meine Liebe gehört nur dir!«

Er bedeckte ihre Hand mit Küssen. »Warum bist du so kalt heute, Dollamore?«

»Ich, kalt? Zu dir?«

»Begnügst du dich sonst damit, nur meine Hand zu küssen?«

Er kniete vor ihr, umschlang sie und küßte sie feurig auf die Lippen. Es war dies nicht das erste Zusammenkommen unter vier Augen, er kannte diese Küsse, die sie so heiß erwiderte; Tag und Nacht sehnte er diese Minuten herbei, aber noch nie hatte er den warmen Körper so gefühlt wie heute.

Das Weib drohte zu ersticken; lachend drängte es schließlich den Ungestümen zurück.

»So hatte ich doch unrecht, mich mit Argwohn zu quälen!« sagte es. »Deine Liebe ist noch dieselbe wie früher!«

»Mit welchem Argwohn?«

»Die Bajadere!«

»O, Rosa, wie kränkst du mich!« rief Dollamore, und eine dunkle Wolke überschattete sein eben noch vor Seligkeit strahlendes Antlitz.

»Sie ist tot!« fügte er leise hinzu.

»Wohl ihr, sie ist für Siwa gestorben! Die Nirwana steht ihr offen!«

»Sie starb nicht freiwillig, sie wurde dazu gezwungen, mit roher Gewalt.«

»Mein Gott,« entgegnete die Duchesse achselzuckend, »freiwillig stirbt schließlich niemand. Hättest du keine Lust, dich unter die Räder zu werfen?« fügte sie lächelnd hinzu.

»Wenn du es gewünscht hättest, würde ich nicht gezögert haben. Zu deinen Füßen oder auf deinen Wunsch zu sterben, bin ich jederzeit bereit!«

»Nein, nein, nicht tot, lebend will ich dich, meinen Geliebten, haben!«

Zwei weiße Arme schlüpften unter dem Mantel hervor und legten sich warm und weich um den Hals des schönen, hünenhaften Mannes.

Wäre Dollamore nicht selbst zu erregt gewesen, so hätte er bemerken müssen, wie die Erregung des Weibes fast unnatürlich schnell wuchs. Ihre Augen, vorher noch matt blickend, nahmen an Lebhaftigkeit mit rapider Geschwindigkeit zu, sie strahlten in einem verzehrenden Feuer, und noch immer vergrößerten sich ihre Pupillen. Auf den vor wenigen Minuten noch blassen Wangen entstanden scharf abgegrenzte rote Stellen, und von dort aus verbreitete sich eine frische Röte über das ganze Gesicht, über Stirn und Hals.

Dollamore fühlte die weichen Arme, die sich liebkosend um ihn schmiegten, und jener Zustand trat bei ihm ein, von dem man wünscht, daß er ewig währen möge, eine selige Vergessenheit, die man nicht durch Worte unterbricht.

Beide schwiegen, sie wollten nur zusammen sein, doch ein nervöses Beben verriet, daß noch immer die Erregung des Weibes wuchs. Er schrieb es der Liebe zu ihm zu, und er war glücklich darüber.

»Was sind das hier für rote Punkte?« unterbrach Dollamore einmal das Schweigen.

Er hatte an Rosas linkem Unterarm, nahe am Gelenk, kleine Stiche bemerkt, die etwas geschwollen waren. Wäre die Haut nicht so weiß und glatt gewesen, man hätte die Wunden nicht gesehen.

Hastig zog die Duchesse den linken Arm zurück, daß ihn der Mantel wieder verhüllte.

Dafür stützte sie sich in malerischer Lage auf den anderen Arm, so daß der deckende Mantel halb von der Schulter herab glitt.

»Nichts von Bedeutung,« entgegnete sie nachlässig. »Gestern abend war ich so unvorsichtig, bei meiner Ausfahrt im Wagen eine ärmellose Taille anzuziehen. Die Mücken haben mich für meinen Leichtsinn bestraft. Wie aber kann dir jetzt so etwas auffallen? Ich glaube fast, du unterziehst das, was zu sehen dir vergönnt ist, einer genauen Prüfung.«

»Es wäre mir nicht aufgefallen, knüpfte sich nicht an den Anblick jener roten Mückenstiche eine alte Erinnerung.«

»Welche?«

»Es ist schon lange her, ich war ein Knabe, als ich von der asiatischen Augenkrankheit befallen wurde und in ein Hospital kam. Es war ein indisches und für Indier bestimmt, doch bemerkte ich unter den Kranken auch einen Europäer, wahrscheinlich einen Franzosen, der vergebens bei allen europäischen Ärzten Hilfe gesucht hatte und sie nun durch die einfache, natürliche Behandlung der indischen Priester zu finden hoffte.«

»Er kam aus Europa nach Indien, um sich heilen zu lassen? Sonderbar!« »Nicht doch, er hielt sich immer in Indien auf, ich kannte ihn auch schon vorher sehr gut, doch nur dem Ansehen nach. Er fiel jedem auf durch seine schön gewachsene Gestalt, durch die Gewandtheit, mit welcher er seine Rede beherrschte, und vor allem durch die Grazie seiner Bewegungen. Jeder Fürst mußte ihn darum beneiden.«

»Es mag ein Hofmann oder ein Schauspieler gewesen sein. Doch was hat dieser Mann mit den Mückenstichen zu tun? An welcher Krankheit litt er?«

»Dies blieb mir lange ein Rätsel. Ich traf ihn im Hospital wieder und fand in ihm eine ebenso schöne, rüstige und liebenswürdige Erscheinung wie früher. Das einzige war, daß er sehr aufgeregt war; an keinem Platz hielt er es lange aus, meistenteils unterhielt er sich lebhaft; er schien es zu müssen. Manchmal aber, besonders in der Nacht, hörte ich ihn furchtbar schreien, so entsetzlich, wie ich es noch nie gehört hatte. Dann wurde er stets von den Ärzten und Gehilfen umringt und nach einem besonderen Zimmer gebracht. Einmal habe ich ihn auch in einem solchen Zustande gesehen, und ich glaubte, plötzlich einen alten, hinfälligen Mann zu sehen. Alles an ihm war verändert, die Züge und Augen eingefallen – er glich einem Sterbenden. Einige Minuten später kam er wieder heraus, und er war vollkommen der Frühere, schön und rüstig.«

»Was für eine Krankheit mag das gewesen sein?« murmelte die Duchesse, deren sich eine immer größere Unruhe bemächtigte.

»Auf meine Bitten durfte ich einmal der Prozedur in dem geheimen Zimmer beiwohnen.

Der Schreiende, von vier Dienern gehalten, wurde mit Gewalt auf einen Tisch gelegt und ihm der linke Arm entblößt. Da sah ich nahe am Gelenk rote Punkte, unzählig viele, fast ebenso aussehend wie diese Mückenstiche. Der Arzt hatte eine kleine Spritze in der Hand, er stach mit der Spitze unter die Haut des Armes und entleerte sie. Sofort ließ das Schreien nach, und einige Minuten später sprang der Kranke wieder gesund und fröhlich auf.«

»Hast du nicht erfahren, was das war?«

»Ja, der Arzt erklärte es mir später, als der Mann tot war. Der Kranke hatte durch Ausschweifungen aller Art seine Lebenskraft erschöpft und gebrauchte ein unnatürliches Mittel, sie, wenn er ihrer bedurfte, wieder aufzufrischen. Er spritzte jeden Tag in sein Blut ein Gift, das aus dem Mohne unseres Landes genommen wird ...«

»Opium?«

»Nein. Es wird wieder aus dem Opium gewonnen und wirkt noch zehnmal aufregender als dieses. Es heißt Morphium.«

Scheu wanderten die Augen des Weibes hin und her, sie wichen den Blicken Dollamores aus.

»Und der Mann starb an diesem Gift?« fragte sie dann leise.

»Er wäre vielleicht durch die Behandlung der Ärzte gerettet worden, aber er fügte sich ihnen nicht. Das Morphium führte ihn dem sicheren Tode entgegen; schon konnte er nicht mehr schlafen, spritzte er es nicht in seine Adern. Tat er dies gar nicht mehr, so wäre er unter den entsetzlichsten Qualen gestorben. Die Ärzte entzogen ihm das Gift also nicht, sie machten nur immer größere Pausen zwischen den Einspritzungen, und furchtbar müssen die Schmerzen gewesen sein, die den Kranken quälten, wenn er das Morphium zum Leben brauchte und es nicht erhielt. Er versuchte die unglaublichsten Listen, um in den Besitz der Spritze und des Morphiums zu kommen. Eines Nachts gelang ihm dies auch, und er spritzte sich so viel ein, daß er einschlief, um nicht wieder zu erwachen. Ich glaube, der Arzt hatte es absichtlich geschehen lassen, denn es gab doch keine Rettung für ihn. Wer sich des Morphiums bedient, kann von dieser Sucht nicht wieder geheilt werden, eher noch der Opiumraucher.«

Die Duchesse sprang auf und wanderte mit heftigen Schritten im Zimmer auf und ab.

»Warum erzählst du mir so etwas?« stöhnte sie. »Meine Nerven können derartige Hospitalgeschichten nicht vertragen!« »Verzeihe mir, ich mache mir schon Vorwürfe! Ich bin ja auch nicht hierher gekommen, um von so etwas zu sprechen. Die Mückenstiche waren schuld daran! Komm, Geliebte, laß mich dir sagen, wie sehr ich dich liebe!«

Er zog sie neben sich auf den Diwan, auf den auch er sich jetzt gesetzt hatte. Sie duldete nur seine Liebkosungen, denn sie rang nach Fassung. »Du bist so kalt!« klagte er einmal.

»Ich? Kalt?« lächelte sie und umschlang ihn.

»Du bist nicht so, wie ein liebendes Weib sein sollte!«

»Und du bist anders als andere Männer.«

»Ja, ich bin's. Sieh, Rosa, ich liebe dich, und du wärst jetzt in meiner Gewalt.«

»Dollamore!«

»Ich mache keinen Gebrauch davon. Ich will, daß du mich liebst.«

»Ich liebe dich!«

»So beweise es!«

Er warf sich vor sie hin und umklammerte ihre Knie.

»Noch nicht! Du kennst die Bedingung.«

»Ach, du hältst mich von einem Tag zum anderen hin. Wann endlich bist du frei?«

»Jeden Tag kann ich die Nachricht erhalten.«

»Das sagst du schon lange!«

»So gedulde dich noch kurze Zeit!«

»Ich kann nicht mehr, Rosa, ich kann nicht mehr! Du verlangst Unmögliches von mir, von einem Indier!«

Glühend vor Verlangen preßte er sie an sich. Funkelnd verschlangen seine Augen ihre junonische Gestalt, deren Formen der Mantel nicht unkenntlich machen konnte.

Lächelnd streichelte sie sein lockiges Haar.

»So hast du mich also wirklich unermeßlich lieb?«

»Wie kannst du so fragen, Rosa!«

»Du liebst mich mehr als alles andere?«

»Hundertmal mehr!«

»Auch mehr als die Engländer?«

»Was willst du damit sagen?« fragte er erstaunt.

»Du sagtest vorhin, du liebtest die Engländer.«

»Dies ist doch, wie du weißt, bei uns Indiern nur ein Ausdruck. Wie kann man meine Liebe zu dir vergleichen mit der Hochachtung vor den Engländern?«

»So achtest du sie also hoch?«

»Ja, das tue ich, und du weißt es.«

Das Weib nahm seinen Kopf in beide Hände und drückte ihn an ihre Brust.

»Würdest du den lieben können, den ich hasse?« flüsterte sie ihm ins Ohr.

»Er wäre mein Feind!«

»Du würdest ihn fernerhin verachten?«

»Nein. Ich kann meinen Feind wohl hassen, aber nicht verachten, wenn er es nicht wirklich verdient.«

Des Weibes Augen leuchteten auf.

»Dollamore,« flüsterte sie, so höre denn: ich hasse die Engländer!«

Der Indier wollte auffahren; doch das Weib umschlang ihn noch fester und hielt ihn niedergedrückt, sie preßte sein Gesicht noch inniger an ihren Busen; sie fühlte, wie sein Blut kochte, wie seine Schläfen hämmerten.

»Ja, Dollamore, ich hasse die Engländer glühend, denn sie haben mir unsägliche Schmach zugefügt!« fuhr sie hastig und leise fort. »Du aber bist ein Freund der Engländer, und dies ist der Grund, daß ich mich dir nicht hingebe. Schon lange hätte ich's getan, mich hindert nichts daran, ich kenne keine Rücksichten, wenn ich liebe, und ich liebe dich, Dollamore; aber ich kann keinem Freunde der Engländer angehören, ich darf nicht, ein Schwur hindert mich daran, und sollte ich aus unbefriedigter Liebe sterben, ich tue es nicht. Sag, Dollamore, bist du noch ein Freund der Engländer, da ich sie hasse? Sage nein, und ich gehöre dir, schon heute, jetzt und immer.«

Mit einem Ruck gelang es dem Manne, sich zu befreien. Er faßte beide Arme des Weibes, hielt es von sich ab und schaute es mit glühenden Augen an.

Die Duchesse erschrak. War sie zu weit gegangen? War schon jetzt alles verloren? »Rosa,« stieß Dollamore mit rauer Stimme hervor, »du wurdest einst für eine Spionin Frankreichs gehalten. Hatte man recht?«

Das Weib wußte den Mann sofort richtig zu nehmen, sie blickte in sein Innerstes.

»Nein, Dollamore, es war ein falscher Verdacht.«

»Wahrhaftig?«

»Wahrhaftig, ich schwöre es bei meiner Liebe zu dir.«

Im Nu verwandelte sich das Aussehen des Indiers; heller Jubel strahlte plötzlich aus seinen Augen.

»So haßt du nur die Engländer?«

»Ja«

»Aus welchem Grunde?«

»Dazu gehört eine lange Erzählung. Ich ...«

»Nicht jetzt, nicht jetzt!« jubelte Dollamore auf und riß die Geliebte an seine Brust. »Dein Feind soll mein Feind sein. Rosa, von jetzt ab bin ich nicht mehr Leutnant der Gurgghas, denn ich liebe dich; nur eine Spionin oder Verräterin könnte ich nicht lieben.«

Stürmisch umarmte und küßte er sie immer wieder, und Rosa beantwortete seine Liebkosungen mit gleichem Feuer. Sie sah sich schon so gut wie am Ziel, doch einen Trumpf mußte sie noch ausspielen, und deshalb wußte sie Dollamores Begier in Schranken zu halten.

Sie vermied, noch weiter von ihrem Hasse gegen die Engländer zu sprechen; sie fragte auch nicht, ob er gegen diese kämpfen würde, denn sie war ihrer Sache jetzt sicher. Sie sprach nur von Liebe, und die Phantasie des Indiers malte sich sofort die Zukunft in den buntesten Farben aus.

Schon morgen wollte er den Engländern mit kurzen Worten den Dienst kündigen und ohne Abschied die Gurgghas verlassen; denn jetzt habe er jemanden, dem sich seine ganze Neigung zuwende, eine Person, für die er nur noch lebe und da diese den Engländern nicht günstig gesinnt sei, so wolle auch er jeden Verkehr mit ihnen abbrechen.

Das Weib stimmte ihm bei und entfachte immer mehr seine Begierde, ohne diese zu befriedigen. Sie vertröstete ihn von Stunde zu Stunde.

Einmal lauschte Dollamore mit angehaltenem Atem.

»Was war das? Es klang gerade, als rasselte im Nebenzimmer ein Panzer, ich fühle mich plötzlich nach der Kaserne der Gurgghas versetzt.«

»Du weißt doch! An der Wand hängen indische Stahlschilde, und die Diener werden sie reinigen.«

»So spät noch in der Nacht?«

»Vorkehrungen zur Hochzeit, lächelte sie, »dürfen nicht aufgeschoben werden.«

»Zur Hochzeit« stöhnte Dollamore und preßte die Gestalt an sich.

Mit Mühe konnte sich die Duchesse seiner erwehren, sie bereute, so leichtgekleidet bei ihm zu sein.

Da erscholl draußen ein Signal, dem andere folgten. Überall in der Stadt ertönten sie.

Nicht nur Dollamore, auch das Weib fuhr erschrocken zusammen.

»Großer Alarm!« flüsterte er lauschend. »Was hat das zu bedeuten?«

Er wollte aufstehen, doch sie umschlang ihn und hielt ihn mit Aufbietung aller ihrer Kräfte fest.

»Ich muß gehen, das Signal ruft mich nach der Kaserne.«

»Es wird eine Übung sein, weiter nichts.«

»Ich muß dich verlassen, die Pflicht ... «

»In unserer Hochzeitsnacht?« »Ich komme wieder ...«

»Nein, du bleibst. Dollamore, du hast meine Glut entfacht, du bleibst, ich lasse dich nicht.«

Der Mantel fiel ihr von den Schultern und Dollamore blieb.

Plötzlich knatterte eine Gewehrsalve, und unzählige folgten nach. Geheul erscholl, Waffengeklirr, ein Kanonenschuß – Da schleuderte er das Weib von sich und sprang auf; im Nu jedoch hing sie wieder an seinem Hals; sie rangen miteinander.

»Dollamore, du bleibst, du mußt bleiben!« keuchte sie. »Was hast du mir versprochen?«

»Nichts, nichts! Ein Kampf – es ist Aufruhr – die Gurgghas warten auf ihren Führer.«

»Du dienst nicht mehr den Engländern.«

»Nein, doch wenn sie in Gefahr sind – –«

»Was dann?«

»Dann muß ich ihnen beistehen.«

»Es sind deine Feinde.«

»Ich habe ihnen Treue geschworen.«

»So hast du mich vorhin belogen.«

»Nein, ich tat's nicht. Sie sollen meine Feinde sein; doch ich stehe auch meinen Feinden bei, wenn sie durch Verrat bedroht sind.«

Unten wuchs der Lärm, das Geheul, die Salven, oben rangen die beiden, der Mann und das Weib miteinander.

Da kam donnernder Hufschlag die Straße herauf; Panzer und Waffen klirrten zusammen.

»Die Gurgghas, sie wollen ihren Führer, mich!« rief Dollamore und warf das Weib mit letzter Anstrengung auf den Diwan zurück.

Wieder sprang sie auf und hing sich an ihn.

»Ja, es sind die Gurgghas, und sie wollen nur unter deiner Führung kämpfen. So führe sie an; im Nebenzimmer liegt schon deine Rüstung, ich habe sie holen lassen, ich selbst will dich wappnen – gegen die Engländer, unsre Feinde.«

Der Reitertrupp hielt vor dem Hause. Wie erstarrt stand Dollamore vor dem dämonisch schönen Weibe.

»Nun, zauderst du? Ist dir meine Liebe nichts mehr wert? Komm, ich will dich rüsten.

Höre deine Leute! Sie rufen dich; du sollst sie zum Kampf gegen die Engländer führen; Indien ist für England verloren, du bist sein Befreier, kein anderer, und ich möchte an deiner Seite deinen Triumph teilen. Auf, Dollamore, du bist ein Kriegsheld, würdig, der König von Indien genannt zu werden!«

Im Hause erscholl ein schneller, sporenklirrender Schritt, er näherte sich, die Tür ward aufgerissen, und ein gepanzerter Gurggha, ein Korporal, stürzte herein.

»Wappne dich, Leutnant!« schrie er. »Die Sepoys meutern; das Volk steht ihnen bei, an der Spitze kämpfen Bahadur und Nana Sahib; die Festung ist in ihren Händen; die Engländer sind dem Verderben nahe, nur schwach noch ist ihr Widerstand, ganz Indien steht in Flammen der Empörung. Der Aufstand ist lange vorbereitet gewesen, das Zeichen ist heute gegeben worden.«

»Und wir haben nichts davon gewußt?« brachte Dollamore, dessen Augen einen schrecklichen Ausdruck angenommen hatten, endlich hervor.

»Man traute uns nicht. Führe uns an, wir folgen dir.«

»Gegen wen soll ich euch führen?«

»Gegen wen?« lachte das Weib schrill. »Gegen deine und meine Feinde natürlich! Auf, Dollamore, zaudere nicht länger! Deine Leute verlangen nach dir. Sie wollen am Tode ihrer Unterdrücker Anteil nehmen. Dort liegt die Rüstung! Ich ließ sie holen, um dich mit ihr wappnen zu können, zum Kampf gegen die Engländer.«

»So wußtest du um den Aufstand?« »Gewiß wußte ich darum; ich half ihn mit vorbereiten, jetzt führe du ihn zu Ende, stelle dich an die Spitze.«

»Du wußtest darum!« wiederholte Dollamore ganz leise.

Plötzlich warf er sich mit einem Satz auf das erschrockene Weib, schleuderte es auf den Diwan und preßte ihm mit einer Hand die Kehle zu, die andere riß dem Gurggha den Dolch aus dem Gürtel und zückte ihn auf ihre Brust.

»Schlange,« knirschte er mit maßloser Wut, »du hast mit mir gespielt – du wußtest alles – du wolltest mich zum Meineidigen machen – Verräterin! – Spionin! – Erst stirbst du, ehe die Gurgghas die Meuterer in den Staub treten.«

Das Weib keuchte, es war dem Erstickungstode nahe. Vor ihren Augen flimmerte der zum Stoß erhobene Dolch.

»Leutnant, mach's kurz mit dem Weibsbild,« knurrte der Gurggha. »Hör, wie die Leute nach dir rufen. Führ uns an, wir wollen folgen.«

Dollamore schleuderte den Dolch von sich und richtete sich auf.

»Gegen wen?«

»Gegen wen du willst.«

»Ich helfe den Engländern.«

»Los denn, führe uns!«

Sie stürzten beide hinaus.

Noch einige Augenblicke blieb die Duchesse wie bewußtlos liegen. Dann sprang sie mit einem Wutschrei auf, schlang den Mantel um die Schulter, so daß der rechte Arm frei blieb, riß eine schwere Büchse von der Wand und stand am Fenster, den Lauf erhoben, den Kolben an der Wange.

Unten ertönte durch den Lärm des Aufruhrs das donnernde Kommando Dollamores; schon saß er auf seinem mächtigen Rappen, das Weib wunderte sich nicht, wie er sich in den wenigen Augenblicken vollständig waffnen und rüsten gekonnt hatte, sie zielte nach dem von keinem Stahl bedeckten Nacken.

»Vorwärts! Hurra für England! Nieder mit den meineidigen Rebellen!«

Die wilde Reiterschar setzte sich in Bewegung, an ihrer Spitze Dollamore, zum Kampf gegen ihre Landsleute, treu ihrem Schwur.

Der Führer war dem Tode geweiht; jetzt hatte das Visier der Büchse den tödlichen Punkt am Halse gefunden, und die Hand des Weibes zitterte nicht.

Da wurde der Lauf der Waffe hochgeschlagen, eine andere Hand drückte den Kolben mit eherner Kraft nieder.

Mit einem Wutschrei fuhr das Weib herum und stand einem Mädchen gegenüber, in einer noch dichteren Stahlumhüllung, als die Gurgghas sie trugen. Ein Schuppenpanzer bedeckte Arme, Brust und Rücken, er machte jede Bewegung des schlanken Körpers mit, ja, er folgte den Atemzügen des jungfräulichen Busens. Ebenso erblickte man unter dem bis zu den Knien reichenden, weißen Rock Stahlschienen; vom Kopf, auf dem der Helm mit ungeheuerlichem Schmuck saß, bis herab zu den Füßen war das kriegerische Weib in Stahl gehüllt; selbst die Hände wurden von ihm geschützt.

Sie stützte sich mit der einen Hand auf das lange, entblößte Schwert, die andere drückte noch das Gewehr nieder.

Die beiden sahen sich einen Augenblick fest in die Augen; aus denen der Duchesse sprachen Haß und Wut.

»Die Begum!« murmelte sie. »Was hinderst du mich, den zu töten, den ich hasse?«

»So war deine Liebe nur Heuchelei?« erklang es scharf.

»Ich liebe ihn nicht mehr. Laß mich, noch kann ihn meine Kugel erreichen!«

»Warum willst du ihn töten?«

»Er ist unser Feind.«

»So wollen wir mit ihm kämpfen.«

»Er führt die Gurgghas gegen uns an.« »So ist er treu. Herunter mit dem Gewehr; er ist mehr wert, als durch die Kugel eines hinterlistigen Weibes heimtückisch ermordet zu werden. Kämpfe mit ihm, wenn du ihn haßt, sieh ihm dabei ins Auge, wie ich es tun werde.«

Das Weib schien plötzlich alle Kraft zu verlassen, es knickte wie gebrochen zusammen und glitt auf den Teppich. Es sah nicht mehr, wie das kriegerische Mädchen hinauseilte.

»Ich – muß mich – mit meiner Rache – beeilen,« hauchte die .am Boden Liegende, welche plötzlich die Züge und Haltung, das ganze Aussehen einer Greisin angenommen hatte, »sonst kommt sie – zu spät. Dollamore hat sich – gerächt, ohne daß er es – wußte. Er hat mir eine – furchtbare – Prophezeiung hinterlassen.«

Während draußen unter Gewehrsalven und Kanonendonner der heftigste Kampf tobte, schrie das auf dem Teppich liegende Weib unausgesetzt nach Mirzi, unfähig, sich selbst zu erheben, und ebenso auch geistig kraftlos, denn sie wußte nicht einmal, daß die Dienerin nicht im Hause war.

Es dauerte lange, ehe ein anderes Mädchen erschien und der Herrin das Verlangte brachte, und während dieser Zeit glaubte das Weib sterben zu müssen.


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