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12. Bob, der Trommeljunge

Obgleich die Exerzierstunden der anglo-indischen Truppen auf den frühen Vormittag verlegt waren, mußten die Soldaten doch ganz gewaltig schwitzen, die Gemeinen wie die Offiziere, und nicht einer war darunter, der nicht von ganzem Herzen gewünscht hätte, die Uhr sei elf und der Exerzierdienst somit für heute zu Ende.

Kapitän Atkins war beliebt, weil er gerecht war und allen mit gutem Beispiel voranging; aber im Dienst ließ er nicht mit sich spaßen. Die Soldaten, Offiziere und Gemeine, welche ihm zugeteilt waren, murrten anfangs ganz gewaltig über sein scharfes Kommando, das sie von seinem Vorgänger nicht gewohnt gewesen, doch als sie sahen, wie er sich selbst nicht im geringsten schonte und dafür nach dem Dienst die Disziplin fast bis zur Gemütlichkeit lockerte, da verstummte ihr Murren.

Kapitän Atkins war eben ein Bataillonsführer comme il faut, er verstand es, seine Leute zu behandeln und zu tüchtigen Soldaten zu machen.

Heute war es aber fast zu arg. Die neuangekommenen Soldaten, die meist in England nur eine notdürftige Ausbildung erhalten hatten, mußten in feldmarschmäßiger Ausrüstung Dauerlauf üben, und nie fiel dieser zur Zufriedenheit des Kapitäns aus.

Den Soldaten lief der Schweiß in Strömen vom Gesicht, aber es war nicht roter, als das ihres Leutnants, Eugens, dem, obgleich er ruhig zu Pferde saß, die Stirn noch nässer war, vor heimlichem Unmut über die Rügen, die er eben erhalten hatte.

Es war ja gar nicht mehr zu verlangen, daß die Leute elastisch auf den Fußzehen wie Balletteusen springen konnten, nachdem sie sich vorher in Einzelmärschen erschöpft hatten.

Die etwa hundert Mann starke Abteilung übte nach den Klängen der Trommeln und Pfeifen der vier Trommeljungen, und diese hatten vielleicht das schwerste Los. Sie trugen zwar kein Gepäck und keine Waffen, dafür aber mußten sie die Trommel rühren oder die Pfeife handhaben, immer vorn an der Spitze der rennenden Abteilung. Wurde nun ›Kehrt‹ kommandiert, so mußten sie geschlossen um den Zug herumlaufen und sich wieder an die Spitze stellen, bekamen also fast niemals Ruhe.

Einer von ihnen, ein junges, hübsches, zartgebautes Kerlchen, schien die Geschichte herzlich satt zu haben; die Wut, die in ihm kochte, konnte man ihm am Gesicht ablesen. Wer nicht selbst Soldat und nicht selbst gedrillt worden ist, kennt diese furchtbare Wut gar nicht, die mit Mordgedanken umgeht; nur merkwürdig, daß sie sofort verraucht ist, wenn man das Seitengewehr nach dem Dienst abschnallt. Ja, ein ganz unbeschreibliches Wohlbehagen befällt einen.

»Abteilung kehrt, marsch marsch!« kommandierte Eugen jetzt wohl schon zum zwanzigsten Male.

Da geschah etwas, was der Exerzierplatz zu Delhi noch nie zu sehen bekommen hatte.

Jener kleine Trommeljunge riß plötzlich seine Trommel ab, warf sie heftig zu Boden, schleuderte sie mit dem Fuße fort, rannte hinterher und gab ihr wieder einen Fußtritt – kurz, er spielte mit ihr Fußball, das beliebte, englische Ballspiel.

Die Abteilung hielt ohne Befehl, man glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen; Eugen saß sprachlos im Sattel.

»Der Junge ist verrückt geworden!« rief er dann. »Bob, was fällt dir ein!«

Bob, der Trommeljunge, hörte aber nicht, denn er war verrückt geworden. Wie hätte er sonst auch solch einen unglaublichen Streich begehen können! Ruhig spielte er mit der Trommel weiter Fußball und entfernte sich immer mehr von der Truppe.

Da kam schon der Kapitän herangesprengt.

»Er ist verrückt geworden,« rief Eugen nochmals, »fangt ihn, Leute!«

Jetzt war der Bann gebrochen, die Abteilung löste sich auf und jagte hinter dem Bengel her, ihn zu fangen.

Das war aber leichter gesagt als getan. Bob war schnellfüßiger als eine Gazelle, immer entwischte er wieder den nach ihm ausgestreckten Händen, dabei aber trieb er die Trommel noch durch Fußtritte vor sich her.

Endlich hatte der langbeinige Korporal ihn erwischt und hielt ihn am Genick fest. Kapitän Atkins und Eugen sprengten heran und sprangen von den Pferden, um den Fall näher zu untersuchen.

»Er hat einen Sonnenstich wegbekommen!« keuchte der Korporal atemlos Das schien aber gar nicht der Fall zu sein, oder der Sonnenstich war von einer bis jetzt unbekannten Art.

Bob steckte die Hände in die Hosentaschen und schaute die beiden Offiziere mit grimmigem Gesicht an.

»Was ist dir denn eingefallen, Bursche?« fragte Atkins. »Bist du verrückt geworden?«

»Verrückt? Unsinn!« schrie der Knirps wütend. »Aber satt habe ich Eure Quälerei. Oder glaubt Ihr, ich lasse mich wie ein Esel geduldig schinden?«

Die umstehenden Soldaten waren starr wie Eugen selbst, nur Kapitän Atkins behielt seine Fassung bei solch einer unerhörten Subordination.

Er bestieg wieder sein Pferd.

»Leutnant Carter, lassen Sie die Leute antreten, bringen Sie den Jungen zur Vernunft und nehmen Sie im Schatten Gewehrübungen vor. Vor dem Appell spreche ich mit Ihnen über den Jungen.«

Das sollte so viel heißen, als Eugen sollte den Aufsässigen im guten zum Gehorsam bringen, falls er nicht wirklich durch die Hitze Schaden erlitten hatte. Seine Strafe war eine geringere, wenn er sich schnell wieder fügte; bestraft mußte er freilich werden.

Eugen ließ die Leute sich ordnen und beschäftigte sich abseits mit Bob. Doch er hatte einen schweren Stand.

»Bob, fühlst du dich krank?«

»Nicht im geringsten,« war die gleichmütige Antwort, und der Junge hielt es nicht einmal für nötig, die Hände aus den Hosentaschen zu nehmen. »Bist du nicht klar im Kopfe?«

»Klar wie unsere dünne Suppe, Herr Leutnant.«

»Dann mach keine Torheiten, Bob, stell dich ins Glied!«

»Fällt mir nicht ein.«

»Was? Du weigerst dich?«

»Ich habe die Soldatenspielerei nun satt.«

Eugen wußte nicht, was er sagen sollte, so etwas war noch nie vorgekommen.

»Bob, nimm Vernunft an. Du kommst mit einer kleinen Strafe davon, mit ein paar Tagen Arrest, wenn du dich wieder ordentlich beträgst. Wenn du dich aber noch weigerst, dann sind dir Stockprügel sicher.«

Bob zog eine Hand aus der Tasche und hielt sie dem Leutnant hin.

..Wetten wir, daß ich keine Stockprügel bekomme?«

»Mensch, du bist verrückt. Du bist Soldat, verstehst du? Du hast dich auf zwölf Jahre verpflichtet, und wenn du ...«

»Hahaha, auf zwölf Jahre!« lachte Bob. »Keine Minute bleibe ich mehr hier; Eure Schinderei hängt mir zum Halse heraus.«

»Ich kann dich sofort in Eisen legen lassen, du kommst vors Kriegsgericht, und wenn du milde Richter hast, so erhältst du eine Tracht Prügel und wirst mit Schimpf und Schande aus der Armee gestoßen.«

»Hahaha!« lachte der freche Bursche und hielt sich die Seiten. »Ich vors Kriegsgericht! Ich eine Tracht Prügel! Um wieviel wetten wir, daß ich nichts bekomme? Um hundert Pfund?«

»Du kannst auch deine zwölf Jahre hinter Festungsmauern absitzen.«

Das vermehrte nur Bobs Lachen.

Dem Leutnant ging die Geduld aus. Auch die Leute verzogen schon den Mund, und wollte er sich nicht den Respekt vergeben, so mußte er den Aufsässigen abführen lassen.

Noch einmal redete er ihm im guten zu, das letztemal, dann würde er abgeführt werden.

Bob wurde plötzlich nachdenklich, er hörte den Leutnant wenigstens ruhig an.

»Wo komme ich denn vor das Kriegsgericht?« fragte er dann. »Hier oder in England?«

»Du gehst mit dem ersten Schiff nach England, und nun denke dir, wenn du an Händen und Füßen geschlossen durch die Straßen geführt wirst! Was werden deine Kameraden denken, die jetzt glauben, du seist schon bald Korporal.«

»Na, meinetwegen,« sagte Bob und hängte seine durchlöcherte Trommel wieder an den Gürtel, »da will ich noch ein bißchen Soldatens spielen, aber das sage ich gleich, nur so lange, wie es mir gefällt.«

Damit stellte er sich wieder in die Reihe.

Vor dem Mittagsappell machte Eugen dem Kapitän Meldung, er durfte nichts verschweigen, und der Bataillonsführer war sehr aufgebracht.

»Ich wollte den Jungen nur mit Arrest bestrafen,« sagte er, »weil er eben noch ein Kind ist und noch nicht recht begreifen kann, was für ein schweres Verbrechen Ungehorsam im Dienst ist; aber diese Frechheit geht über alle Grenzen. Ist er schon vom Arzt untersucht?«

»Zu Befehl, Herr Kapitän.«

»Was sagte der Arzt?«

»Eine Gehirnstörung liegt nicht vor.«

»Dann muß ein Exempel statuiert werden, schon der anderen Trommeljungen wegen. Bob erhält sechs Stockschläge, die mildeste Strafe für ein derartiges Vergehen.«

»Herr Kapitän, Bob ist noch sehr jung und zart und sonst gut im Dienst,« ergriff Eugen seine Partei.

»Es bleibt dabei. Hätte er wenigstens den Streich im ersten Unmut begangen und ihn dann sofort bereut; aber hinterher noch diese Frechheit, diese Antworten – nein, es geht nicht. Er erhält sechs Stockschläge, die ersten, die ich diktiere, und hoffentlich die letzten.« Wie bei den Schiffsjungen in der deutschen Marine, so wird auch bei den englischen Trommeljungen die Prügelstrafe noch angewendet. Überdies werden in England auch rückfällige Verbrecher geprügelt.

Die Abteilung stand zum Appell angetreten, jeder Korporalschaftsführer, darunter auch Jim Green, meldete die Anzahl seiner Leute, dann wurde der Tagesbefehl vorgelesen und zum Schluß die Strafen verkündet.

Bob mußte sich vor die Front stellen, der Feldwebel verlas seine Strafe, sechs Stockschläge wegen groben Vergehens gegen die Subordination, zu empfangen nachmittags vier Uhr vor versammelter Mannschaft.

Bob zuckte mit keiner Wimper, er zog vielmehr ein höhnisches Gesicht und schielte dabei nach Jim Green, der dem kleinen Burschen wiederum mit den Augen zuzwinkerte und allerhand heimliche Grimassen schnitt, um den Delinquenten zum Lachen zu bringen.

Der Trommeljunge gehörte zu seiner Korporalschaft, und Jim Green, als Ordonnanz vom schweren Dienst befreit, betrachtete das ganze Soldatenleben nur als eine Spielerei, mit der man sich soviel wie möglich amüsieren müßte.

»Wegtreten!« erscholl das Kommando; die Soldaten marschierten nach der Küche, holten das Mittagessen und verfügten sich in ihre Reviere.

Wie in allen anderen Stuben, so wurde auch in der Jim Greens sonst gewöhnlich während des Mittagessens diskutiert und politisiert; der eine schimpfte über den Bataillonsführer, der andere über die Königin von England, dieser meinte, wäre er Kriegsminister, er würde die Sache ganz anders machen, jener tadelte das neueste Kolonialunternehmen Englands, wenn man nur auf seinen Rat hören wolle und so weiter.

Heute herrschte ein anderes Thema; unbarmherziger Hohn wurde ausgeschüttet.

»Du, Tom,« rief ein Soldat, »welche Stöcke ziehen denn besser, die von Akazie oder von Haselnuß?«

»Hast du noch etwas Öl und Heftpflaster?«

»Stopf dir nur den Rock gut aus, mein Junge!«

»Jawohl, hat sich was auszustopfen,« lachte ein alter Soldat den Rekruten aus, »er muß den Buckel nackt hinhalten, das ganze Hemd muß er ausziehen. Na, Bob,« wandte er sich an diesen, »brauchst doch deshalb nicht gleich rot zu werden wie ein Mädchen, bist doch ein Junge. Und was die entehrende Strafe anbetrifft, na, Bob, darum brauchst du dir auch keine grauen Haare wachsen zu lassen. Bei dem früheren Kapitän war es ganz anders, der diktierte bei jeder Kleinigkeit Stockhiebe, und wenn ich alle die zusammenzählen wollte, die ich bekommen habe, da würden einige hundert voll. Bin ich deswegen entehrt, he? Unsinn, das sind Redensarten. Beiß die Lippen zusammen und halte aus! Damit fertig!«

Bob ließ den Spott ruhig über sich ergehen; anfangs hatte er immer behauptet, er bekäme doch keine Stockhiebe, und sogar Wetten angeboten.

Doch die Soldaten lachten nur über seine Prahlerei – und so schwieg er schließlich.

Überdies hatten die Soldaten nichts zu verwetten, ihre hohe Löhnung wurde am Zahlungstage sofort verjubelt. Von Bob war bekannt, daß er sein Geld in Kandiszucker anlegte, zur Verwunderung aller, die sich eine solche Vorliebe gar nicht erklären konnten.

War der Spott manchmal zu unbarmherzig, so kam dies daher, weil der Exekution alle Mann im Hofe beiwohnen mußten, die Leute büßten also eine Freistunde ein.

Bei den Worten des letzten, etwas tröstenden Sprechers, hob Bob trotzig den Kopf.

»Und ich bekomme doch keine Stockschläge,« wiederholte er, »ich lasse es mir nicht gefallen!«

Ein allgemeines Gelächter folgte dieser behaupteten Unmöglichkeit.

»Herrgott,« sagte jetzt auch Jim Green »was ist denn da weiter dabei? Sechs Hiebe kann jeder aushalten. Schaden tut's dir überhaupt nicht, Bob, du hast immer ein freches Maul!«

»Ich bekomme aber keine Stockhiebe!«

»Werden's ja sehen! Ach, Bob, das wird herrlich, wenn du so dein Hemdchen ablegst, dich krumm hinstellst, festgeschnallt wirst, und nun geht's los: au– o – hih!« Jim machte mit seinem Messer die Bewegung des hauenden Stockes nach und heulte dazu. Doch gleich fiel's ihm ein, daß er dem Jungen gar zu sehr mitspielte.

»Heule nur nicht, Bob,« begütigte er, »so schlimm wird's schon nicht. Der Stockmeister ist mein Freund, und wenn ich mit ihm spreche und eine Bulle Whisky spendiere, dann wird er schon ein bißchen sanft zuhauen. Aber den Whisky mußt du zahlen, Bob.«

»Er wird mich überhaupt nicht schlagen,« behauptete der Junge abermals, und dabei blieb er, ohne den Grund für seinen so festen Glauben, der ja auf einer Unmöglichkeit beruhte, anzugeben.

»Aber er sollte doch schließlich recht behalten.

Während sich die übrigen Soldaten zur Nachmittagsruhe aufs Bett legten, wanderte Bob in der Stube auf und ab, und, ob sein Trotz vielleicht abnahm, je mehr sich die Stunde der Exekution näherte, oder ob er nun einsah, daß er der Prügelstrafe doch nicht entging, der zuversichtliche Gesichtsausdruck verschwand immer mehr, und machte einem traurigen, niedergeschlagenen Ausdruck Platz.

Wenn er an dem schlafenden Jim vorbeikam, betrachtete er stets das frische, kecke Gesicht mit dem kleinen Flaum, und dann konnte er nie einen Seufzer unterdrücken.

Jetzt blieb der Junge stehen, er schien einen Entschluß gefaßt zu haben.

»Nein, ich führe es doch durch,« murmelte er; »aber schlagen lasse ich mich auf keinen Fall. Das Schlagen ginge schließlich noch, aber das andere, wo er dabei ist, nein ...«

Der rastlose, pflichtgetreue Kapitän saß noch in seinem Privatbüro und ließ sich vom Feldwebel die laufenden Schriftstücke zur Einsicht und Unterschrift reichen, als kurz an die Tür geklopft wurde und, ohne das Herein abzuwarten, ein Trommeljunge eintrat, der sich nicht einmal in militärischer Haltung rechts neben der Tür aufbaute, sondern sich mit gesenktem Kopf und zerknirschter Miene, die Mütze in der Hand drehend, hinstellte.

Der Feldwebel machte ein Gesicht, als erwarte er jetzt den Weltuntergang. Daß ein anderer als der Herr Kapitän selbst diese Tür benutzte, war ihm einfach eine Unmöglichkeit.

Der Weg in dieses Zimmer führte durch das Büro nach vorheriger Anmeldung und erteilter Erlaubnis.

Es sollte noch besser kommen.

Der Kapitän wendete den Kopf und schien ebenfalls erstaunt zu sein.

»Wie, ist das nicht der Trommeljunge von heute morgen?«

»Es ist Bob,« staunte der Feldwebel.

»Wie kannst du hier ohne weiteres eintreten? Marsch, hinaus!«

Bob ließ sich nicht einschüchtern.

»Herr Kapitän, ich muß Sie sprechen! Bitte, bitte, hören Sie mich nur für fünf Minuten an!«

Das war ganz unmilitärisch. Der Feldwebel machte Miene, den Burschen hinauszuwerfen und als einen Hochverräter zu behandeln, doch ein Wink des Kapitäns hielt ihn zurück.

Atkins war willens, den Jungen anzuhören, denn in Bobs Kopfe mußte doch eine Schraube locker geworden sein.

»Willst du Einspruch gegen deine Strafe erheben? Das geht nicht. Die sechs Stockschläge werden dir sehr gut tun.«

»Herr Kapitän, ich muß Sie sprechen,« wiederholte Bob weinerlich.

»So sprich, fasse dich kurz! Die Strafe wird aber nicht aufgehoben.«

»Unter vier Augen!«

»Was?«

Das war ja unerhört. Der Feldwebel riß den Mund vor Staunen auf.

»Ich muß Sie allein sprechen, schicken Sie den Feldwebel hinaus.«

Atkins betrachtete den Jungen mit einer förmlichen Neugier, wie der Naturforscher etwa eine ihm noch unbekannte Pflanze.

»Feldwebel, gehen Sie hinaus!« sagte er dann, und der Mann verließ das Zimmer, indem er seinen Kopf befühlte. Er glaubte das alles nur im Traume zu erleben. Da lag plötzlich Bob vor den Füßen des Kapitäns auf den Knien und hob flehend die Hände.

»Herr Kapitän, lassen Sie mich nicht schlagen! Bitte, Herr Kapitän, ändern Sie die Strafe!«

»Steh auf!« befahl Atkins streng. »Du bist Soldat, Bob! Schon dieses weibische Betragen ist strafwürdig!«

»Ich stehe nicht eher auf, als bis Sie die Strafe umgeändert haben!«

»Ich lasse dich sofort arretieren und abführen!«

»Lassen Sie mich nicht schlagen!« flehte Bob unbeirrt weiter.

»Du willst nicht gehorchen?« rief Atkins entrüstet.

»Nein, denn ich bin ...«

»Was bist du?«

»Ich bin entehrt, wenn ich geschlagen werde!«

Der Kapitän fühlte Mitleid mit dem Knaben. Er sah doch ein, daß er in Bob eine ganz andere Person vor sich hatte, als einen jener meist sehr verwilderten Trommeljungen, der zwischen rohen Soldaten aufwächst, ohne Eltern und Geschwister.

Er wollte ihm wenigstens Mut einflößen.

»Du hast gegen die Disziplin, ohne welche sich das Militär in eine Horde zügelloser Wilde verwandeln würde, arg gefrevelt, und dann auch noch den Respekt verletzt. Das muß bestraft werden, und jede Strafe ist entehrend, sie kommt in dein Führungsbuch und bleibt darin stehen. Nur durch gute Führung kannst du deine Ehre wiederherstellen. Ob du Arrest bekommst oder Stockhiebe, ist ganz gleichgültig, beides ist entehrend.«

»Geben Sie mir Arrest, Herr Kapitän,« flehte der Junge, »so viel Sie wollen, ein halbes Jahr, aber nur keine Prügel!«

»Der Befehl ist bekannt gemacht worden, ich kann ihn nicht zurücknehmen!«

»Ich will mein ganzes Leben ohne Löhnung dienen!«

»Du erhältst die Strafe! Steh auf!«

Bob stand auch auf, aber mit blitzenden Augen.

»Ich will nicht geschlagen sein, und man wird mich auch nicht schlagen!« sagte er mit Betonung.

Atkins betrachtete den Jungen noch einmal prüfend. Er schien Energie zu besitzen, und der Fall war nicht ausgeschlossen, daß er aus Furcht vor der entehrenden Strafe selbst Hand an sich legte. Was sollte Atkins tun? Eine Umänderung der Strafe durfte er sich auf keinen Fall abtrotzen lassen; aber konnte sein Gewissen nicht mit einer furchtbaren Anklage belastet werden? Bob mochte ahnen, was im Innern des Kapitäns vorging; er warf sich wieder vor ihm nieder und umklammerte sogar seine Knie.

»Herr Kapitän, lassen Sie mich nicht schlagen, geben Sie mir sonst die härteste Strafe!«

winselte er mit herzzerbrechender Stimme.

Atkins wurde förmlich verlegen. In einer solchen Lage hatte er sich noch nie befunden.

»Warum fürchtest du dich nur so sehr vor dem Stock? Du, ein Soldat, solltest doch nicht solche Angst vor Schmerzen haben!«

»Nicht die Schmerzen, die Schande fürchte ich!«

»Jede Strafe hat diese im Gefolge!«

»Ich muß mich entkleiden – in Gegenwart – aller Soldaten!« schluchzte Bob.

Das war ja ganz seltsam.

»Verletzt denn das dein Schamgefühl?« fragte Atkins erstaunt.

»Ja – und ich tu's nicht, ich mache sonst etwas!«

»Keine Drohung!« rief Atkins streng. »Sie würde dir am allerwenigsten nützen! Jetzt steh auf und betrage dich so, wie es sich für einen englischen Soldaten geziemt! Ich will diesmal das Unmögliche tun! Du bist noch ein Kind und eignest dich nicht besonders zum Militär, dies bewegt mich, deine Strafe umzuändern. Statt der sechs Stockhiebe erhältst du ebensoviel Tage strengen Arrest. Nach deiner Entlassung werde ich dafür Sorge tragen, daß du wegen Unbrauchbarkeit verabschiedet wirst. Ich hoffe, es wird dir recht sein!«

Bob hatte das letztere überhört; er vernahm nur, daß er keine Prügel bekommen sollte, und wie er seinen Dank in jubelnder Weise ausdrückte, überstieg alle Grenzen der militärischen Ordnung. Es hätte nicht viel gefehlt, so wäre er dem gestrengen Herrn Bataillonsführer um den Hals gefallen und hätte ihn geküßt.

»Der Bursche taugt nicht unter die Trommeljungen!« dachte Atkins, als der glückliche Bob ihn verlassen hatte. »Er besitzt einen weibischen Charakter, ist eigenwillig und launisch.

Bleibt er beim Militär, so würde er sich noch unglücklich machen. Ich werde Gründe suchen, ihn zu entlassen und nach England zu schicken. Wie ich aus seinem Buche sehe, hat er bedeutende Anlagen zur Musik, er hat sich die Technik aller Instrumente in der kürzesten Zeit angeeignet. Ich will sehen, daß ich ihn ausbilden lassen kann; hier würde er nur verkommen, und außerdem will ich sorgen, daß er in seinem strengen Arrest mit besonderer Milde behandelt wird. Es soll ihm nichts abgehen!«

Die Soldaten wunderten sich, daß sie nicht zusammengerufen wurden, um der Prügelexekution beizuwohnen, man vermißte auch Bob; dann lief erst das Gerücht durch die Stuben, dieser sei in Arrest abgeführt worden, und schließlich bestätigte es sich. Der Junge war schon vor einer Stunde von einem Gefreiten nach dem Arrestlokal gebracht worden; der Kapitän hatte die Strafe in sechs Tage strengen Arrest verwandelt.

Die Verwunderung war natürlich eine sehr große, um so mehr, als es Bob vorausgesagt hatte.

»Weiß der Teufel, wie der Junge es fertiggebracht hat, den Kapitän rumzukriegen,« brummte Jim Green, als er sich seine Ordonnanztasche umhing, »der läßt doch sonst nicht mit sich spielen! Na, da bin ich ihn einmal für sechs Tage los. Möchte nur wissen, warum der Bengel an mir einen solchen Narren gefressen hat; er hängt sich an mich wie eine Klette und verfolgt mich auf Schritt und Tritt. Habe mich oft genug darüber geärgert, der Kerl hat mich schon manchmal gestört. Na, heute abend habe ich vor ihm Ruhe, und das ist gut. Nun will ich mit dem niedlichen Mädchen einmal intimere Bekanntschaft machen.«

Bob saß schon in seiner Zelle.

Der aufgeweckte Junge merkte sofort, daß der Schließer besondere Instruktionen empfangen hatte; denn obgleich es im strengen Arrest eigentlich finster sein sollte, so wurde doch die Fensterklappe nicht geschlossen, der Wärter schien es vergessen zu haben. Auch brachte ihm der Mann brummend mehrere Decken; im strengen Arrest, wo man auf der Holzpritsche schlafen mußte, ein unbekannter Luxus.

Atkins hatte recht gehabt, als er Bob als weibisch und launenhaft bezeichnete.

Vor kurzem in Tränen aufgelöst, war er jetzt die Fröhlichkeit selber. Während sonst der verurteilte Soldat die enge, dumpfige Zelle, in der in Indien natürlich immer eine Atmosphäre zum Ersticken herrscht, niedergeschlagen betritt und sich in dumpfem Brüten auf die Pritsche setzt, war das erste, was Bob tat, als der schwere Riegel vorgeschoben wurde, daß er einen polternden Step tanzte und dazu mit heller Stimme Gassenhauer sang, einen immer zweideutiger als den anderen, englische Lieder von der gemeinsten Sorte.

Solchen Lärm durfte der Schließer natürlich nicht dulden, er öffnete die Klappe in der Tür.

»Willst du wohl ruhig sein, Kerl?« herrschte er Bob an. »Ich lasse dich krummschließen, wenn du noch Spektakel machst!«

Bob antwortete mit einem neuen Gassenhauer und bearbeitete dabei den Boden taktmäßig mit Hacken und Spitzen seiner Kommißschuhe. Sonderbarerweise begnügte sich der sonst so strenge Schließer mit seiner einmaligen Drohung. Als sie nichts fruchtete, kümmerte er sich nicht mehr um Bob, er mochte es noch so arg treiben.

Zum Vesper erhielt der Gefangene nicht das vorschriftsmäßige trockene Brot und Wasser, sondern Kasernenkost, bestehend aus Weißbrot, Butter, Käse und Kaffee, und jetzt wußte Bob, daß sein Arrest nur scheinbar streng war. Nach dem Vesper kamen neue Verbrecher an, sie wurden verteilt, und dann begann die Unterhaltung. Die Soldaten standen an den Fenstern auf der Pritsche und sprachen miteinander, ohne sich sehen zu können. Erst nannten sie ihre Namen, erzählten dann ihre Streiche und brüsteten sich damit. In welchem Tone diese Unterhaltung geführt wurde, kann man sich denken, und Bob suchte die anderen noch darin zu übertreffen.

Der Schließer konnte nichts gegen diesen Unfug tun; verstummte bei seinem Nahen das Gespräch auf dem einen Flügel, so begann es wieder auf dem anderen, und die aufgestellten Posten der Arrestwache hatten nur aufzupassen, daß keiner der Gefangenen ausbrach, wozu übrigens gar kein Grund vorlag, was auch noch nie vorgekommen war. Die Arrestwache ist ja nur eine Förmlichkeit.

Gegen Abend ließ das Gespräch nach, denn die Gefangenen mußten das Licht noch benutzen, mit Hilfe ihrer Kleidungsstücke sich ein Bett auf der Pritsche herzustellen. Auch Bob machte sich aus den Decken ein solches, und zwar ein sehr bequemes.

Nur zwei Soldaten schwatzten weiter und konnten nicht aufhören, wahrscheinlich, weil sie auf ein interessantes Thema gekommen waren, nämlich auf das der weiblichen Bevölkerung Delhis.

Sie gaben ihre Liebesabenteuer zum besten, rissen Zoten und besprachen ihre neuen, zukünftigen Unternehmungen.

Da wurde Bob plötzlich aufmerksam, er hörte ihnen zu, denn ein ihm bekannter Name war gefallen.

»Ich möchte, ich steckte heute abend in Jim Greens Haut,« sagte der eine Soldat.

»Warum denn?«

»Der schnappt heute noch einen fetten Bissen. Er hat's mir erzählt.«

»Na, die paar Tage vergehen schon, dann blüht unser Weizen auch wieder.«

»Ja, aber Jim hat ein unverschämtes Glück. Hast du das Mädel schon gesehen?«

»Nein, noch nicht. Ich denke, sie tut spröde, die Kleine? Jim sagte so etwas.«

»Bis jetzt war sie's freilich! Vorhin aber, ehe ich abgeführt wurde, hat's mir Jim erzählt.

Sie hat sich mit ihm heute abend bestellt, zum ersten Male, na, und da weißt du doch, was kommen wird. So sind die Mädchen alle.«

»Ist sie denn hübsch?«

»Sehr hübsch. Es muß eine Italienerin oder so etwas sein. Ein Paar Augen hat sie im Kopfe, ah!«

»Also sie hat auch endlich angebissen. Wo wollen sie sich denn treffen?«

»Das wußte Jim selbst noch nicht. Um neun Uhr muß er mit geheimen Depeschen gehen, um zehn kommt er erst von der Kommandantur.«

»So spät noch?«

»Es muß jetzt dort etwas ganz Wichtiges gearbeitet werden, sie schreiben immer bis in die Nacht, sagte Jim, und oft muß er noch ganz spät Briefe hin und her tragen. Daher hat er ja auch eine Paßkarte für die ganze Nacht.«

»Hahaha,« lachte der Soldat, »für die ganze Nacht! Der Jim ist doch ein Glückspilz!«

»Und das Mädchen solltest du sehen! Ich kann mir denken, wie Jim wünscht, es wäre erst zehn. Ich glaube, sie wollen sich im Palmengarten treffen, den Jim immer passieren muß.

Aber genau wußte er's auch nicht, oder er wollte's nicht sagen.«

»Mir soll's gleich sein, ich habe doch nichts davon. Gute Nacht, Kamerad, drücke deine Pritsche breit und lasse dich nicht von den kleinen Tierchen auffressen!«

Damit verstummte das Gespräch.

Sonderbar, was für eine Erregung es bei Bob hervorgerufen hatte! Der Junge wechselte beständig die Farbe; bald wurde sein Gesicht blaß, bald glühendrot, seine geballten Hände zitterten wie sein ganzer Körper.

Mit einem Sprunge stand er wieder auf der Pritsche am Fenster und rüttelte an den Eisenstäben, als wollte er sie aus der Mauer brechen. Sie spotteten natürlich seiner Anstrengung. Dachte der so mild behandelte Arrestant etwa an einen Fluchtversuch? Er beschäftigte sich sogar ernstlich mit einem solchen, und zwar mit einer Schlauheit wie ein alter, gewiefter Ein- und Ausbrecher.

Das Arresthaus war ein zweistöckiges Gebäude, von einer drei Meter hohen Mauer umgeben, die hinten einen Hof umschloß. Die Wache befand sich vorn, auf dem Hofe patrouillierte nur ein einziger Posten mit scharfgeladenem Gewehr, und er hatte auch die Instruktion auf jeden Flüchtling zu schießen, doch dieser Fall lag fast außer dem Bereiche der Möglichkeit.

Hier saßen nur die Soldaten, welche einen dummen Streich oder einen Ungehorsam begangen hatten; die Verbrecher und die in Untersuchungshaft Befindlichen wurden im sogenannten Turm gefangengehalten, einem alten Gebäude, das außerhalb Delhis auf einem Hügel lag. Sie brauchten nie lange dort zu schmachten; das erste abgehende Kriegsschiff nach England brachte sie dorthin zum Gericht.

Wenn Bob nun wirklich eine Flucht gelänge und der Posten entdeckte ihn, würde er wohl auf ihn schließen? Bob bezweifelte es. Aber er würde auch die Flucht auf die Gefahr hin riskiert haben, erschossen zu werden.

Der Junge hatte von schon bestraften Soldaten oft gehört, wie leicht es sei, aus dem Arrest zu entweichen, wenn man es wolle. Aber wie schon gesagt, an so etwas dachte niemand. Man saß die paar Tage ruhig ab, es lag kein Grund zur Flucht vor. Selbstbefreiung ist ein schlimmes Vergehen, der Flüchtige wäre sofort in den Turm und vors Kriegsgericht gekommen.

Das alles wußte Bob, er war darüber instruiert worden und dennoch dachte er an Selbstbefreiung. Sein einfacher Plan war schnell gefaßt, er führte das aus, was seine Kameraden im Scherz besprochen hatten.

Den Schließer rief bei Anbruch der Dunkelheit ein starkes Pochen an die Tür von Bobs Zelle. Der Junge hatte sich wieder auf die Pritsche geworfen und wand sich, als würde er von den unerträglichsten Leibschmerzen gepeinigt.

Der Mann erschrak. Es war nicht das erstemal, daß ein Arrestant plötzlich vom gelben Fieber oder von der Cholera befallen wurde und gestorben war, ehe sein Schmerzensruf das Ohr des Schließers erreichte.

Unverzüglich öffnete er die Tür und begab sich in die Zelle, um erst zu fragen und sich zu orientieren und dann den Arzt des Arresthauses zu holen.

Kaum aber stand er neben der Pritsche, als Bob wie eine Feder empor schnellte und schon die Tür hinter sich zugeworfen hatte, ehe der Schließer noch zur Besinnung gekommen war.

Bob stand aus dem Korridor im ersten Stock, dessen Fenster nach dem Hof hinausführten.

Der Korridorposten befand sich eben in dem anderen Flügel. Ein Sprung zum Fenster hinaus wäre zu gewagt gewesen; der Junge mußte auch noch den Posten täuschen, denn an ihm mußte er vorbei, wollte er dort an den Blitzableiter gelangen, den er von hier aus erblicken konnte. Eine andere Flucht war nicht denkbar.

Bobs Plan war wohlüberlegt, im Nu wurde er ausgeführt, noch ehe das Hilfegeschrei des gefangenen Schließers ertönte.

Als Bob um die Ecke des Korridors bog, begegnete ihm der Posten mit entblößtem Seitengewehr. Der Soldat wunderte sich nicht, einem Arrestanten zu begegnen. Er war eben ausgetreten, und der bequeme Schließer hatte es, wie gewöhnlich, unterlassen, ihn zu begleiten.

»Nun, Bob, hast du dir eine weiche Pritsche ausgesucht?« fragte ihn der Posten, trotz des Verbotes, mit den Arrestanten zu sprechen.

»Weich, wie ein Federbett, und ...«

In diesem Augenblick wurde die Stimme des Schließers laut, er schrie Zeter und Mord und stieß mit den Füßen gegen die Tür. Er konnte sie mit seinem Schlüssel nicht öffnen, weil Bob von außen den Riegel vorgeschoben hatte.

»Was ist denn das?« fragte der Posten erstaunt. »Da wird einer rebellisch,« lachte Bob, »bringe ihn zur Räson. Das ist deine Pflicht.«

Der Posten eilte davon, Bob stand mit einigen Sprüngen an einem Fenster, neben welchem der Blitzableiter herablief, ein Blick nach dem unten auf der anderen Seite des Hofes stehenden Posten, und der Trommeljunge rutschte an dem Blitzableiter hinab.

Da bemerkte ihn der Posten. Erst stand er ganz erstaunt da, sich wie vorher auf das Gewehr stützend, dann sprang er auf Bob zu, ihn festzuhalten. An eine Benutzung seiner Waffe dachte er nicht, er hob sie nur, um mit ihr dem Flüchtling den Weg zu versperren.

Doch schon war Bob mit einem Satz auf einem an der Mauer stehenden Faß, ein anderer Satz, er saß rittlings auf der Mauer und war jenseits verschwunden.


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