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20. Der Brahmane

Es sei nur kurz erwähnt, daß es den englischen, in Delhi liegenden Truppen gelungen war, sich mit Hilfe einiger weniger Sepoys, die treu geblieben, und ganz besonders infolge der energischen Unterstützung der Gurgghas sich durch die Feinde zu schlagen und die Stadt zu verlassen. Denn nur draußen lag für sie Rettung, die Stadt glich einer Mördergrube.

Die Verluste waren natürlich sehr groß gewesen. An Zahl betrugen die übrig gebliebenen Engländer und Sepoys einschließlich der Gurgghas etwa 4000 Mann, angeschlossen hatten sich ihnen Privatleute mit Weibern und Kindern; die nicht das Freie erlangten, erlitten zwischen den Mauern unrettbar den Tod, wenigstens im Anfang; später wurden sie geschont, gefangen genommen und herdenweise durch die Straßen getrieben.

Die Geretteten waren, mit Ausnahme der Gurgghas, in der ganzen Umgegend zerstreut und hielten sich wie wilde Tiere in den Dschungeln, Sümpfen, Schluchten und Wäldern versteckt. Wohin sie blickten, sahen sie die Feuer der Rebellion auflodern, und lieber suchten sie Schutz bei Panthern und Tigern, als bei den ihre Ketten abschüttelnden Indiern.

Vorläufig wurden die Flüchtlinge nur von besonders Blutdürstigen verfolgt, deren sie sich noch erwehren konnten; aber schon berieten die Radschas in der Stadt mit aller Ruhe, wie man auf die durch Zufall Entkommenen eine erfolgreiche Treibjagd abhalten wolle.

Schon jetzt sei gesagt, daß diese auch wirklich stattfand. Vergebens versuchten sich die Zerstreuten zum vereinigten Widerstand zu sammeln, es gelang ihnen erst nach drei Wochen, als General Nicholson, sich selbst aufopfernd, mit 13 000 Mann, meist schlecht bewaffneten Indiern, den Bedrängten zu Hilfe eilte, waren doch unter den wie Raubtiere Gejagten die höchsten Offiziere, ja, der Generalgouverneur selbst.

Doch auch dann noch war das Ganze nichts weiter als ein verzweifelter Ringkampf, bei dem jede List und Hinterlist erlaubt war. Es galt, sein Leben zu retten und das der Familie, wenn diese nicht schon ermordet war. – Während die blutdürstigen Horden durch die Straßen Delhis zogen, nicht an Plünderung denkend, sondern nur nach Europäern suchend und diese dann, erkannte man in ihnen Engländer, mordend, fand in einer weiten Halle des halbzerfallenen Palastes Schahlimar eine Versammlung der Häuptlinge statt.

Fackeln beleuchteten die wilden Gestalten mit den bronzenen Gesichtern und lang herabhängenden Schnurrbärten, alle bis an die Zähne bewaffnet, meistenteils in Stahl gehüllt.

Rüstungen, die Waffen starrten von Blut; auch die Anführer hatten ihr Leben nicht geschont, um sich im Blute der Tyrannen baden zu können. In der Mitte des Kreises der Krieger stützte sich die Begum von Dschansi auf einen Tisch, auf dem ein großes Stück weißes Leder lag mit der in groben Strichen gezeichneten Karte von Indien. Zur anderen Seite des Tisches lehnten Bahadur und Nana Sahib; hinter der Begum stand die vollständig verhüllte Gestalt eines kleinen Mannes, dessen Augen man nur wie glühende Kohlen rastlos im Kreise herumwandern sah.

Man lauschte dem Berichte eines Mannes, seinem Schmuck nach ein Radscha, der in Mirat den Aufstand der Sepoys geleitet hatte. Er selbst war Kommandeur derselben gewesen; er hatte die Macht, die ihm die arglosen Engländer noch gelassen, in furchtbarer Weise mißbraucht.

Wild und freudig leuchteten die Augen der Zuhörer auf, als der Erzähler damit schloß, daß kein einziger Engländer dem Schwert der Indier entgangen sei.

Der Mann schwieg, und aller Augen richteten sich nicht nach dem Großmogul, dem höchsten Fürsten Indiens, sondern nach dem geharnischten Mädchen, diesem hatte auch offenbar der Bericht gegolten.

»Wohin hast du die Frauen und Kinder bringen lassen?« fragte das Mädchen jetzt.

Der Mann blickte die Fragerin verwundert an und zuckte leicht die Achseln, schwieg aber.

»Wo sind die Weiber und Kinder?« erklang es abermals, diesmal eindringlicher.

Es erfolgte keine Antwort. Wie höhnisch blickte der Gefragte im Kreise umher; überall begegnete er spöttischen Gesichtern, und so sahen auch Bahadur und Nana Sahib aus.

»Hast du meinen Befehl erhalten?« fragte die Begum weiter.

»Ich habe ihn erhalten.«

»Noch ehe der Aufstand losbrach?«

»Ja, noch ehe ich den Befehl dazu gab.«

»Gut! Ich hieß dich, die Frauen und Kinder zu schonen, sie unter deinen besonderen Schutz zu nehmen. Also frage ich dich nochmals, zum letzten Male. Wo sind die Frauen und Kinder, daß sie uns als Geiseln dienen?«

Dröhnend fiel die stahlgepanzerte Hand des Mädchens auf den Tisch, daß alle erschrocken zusammenfuhren.

Der Radscha aus Mirat war am bestürztesten. Nochmals wanderte sein Blick im Kreise umher; doch als er überall leises Kopfnicken sah, richtete er sich wieder auf. Er nahm eine trotzige Miene an.

»Wozu brauchen wir Geiseln?« fragte er gleichgültig.

»Das habe ich zu bestimmen, nicht du. Wo sind die, welche ich unter deinen Schutz stellte?«

»Begum,« antwortete der Radscha, den Blick auf Bahadur gerichtet, »ich konnte deinem Befehl nicht nachkommen. Die Indier forderten Rache, sie wollten Blut sehen. Wie ich schon sagte, kein einziger Engländer entkam dem Tode.«

»Nun ja, aber ihre Frauen, ihre Kinder?«

»So will ich es dir sagen,« fuhr der Mann, hochaufgerichtet, trotzig fort, »die Indier forderten auch das Blut der Frauen und Kinder, nachdem ich diese schon in Sicherheit gebracht hatte, und da haben sie dieselben auf einen Platz getrieben und sind mit Schwertern und Dolchen über sie hergefallen, und ihr Jammern und Zetergeschrei war Musik für mein Ohr, wie für das jedes Indiers.«

Eine lange Pause trat ein; die Begum blickte mit gesenkten Augen vor sich hin, ihr Busen arbeitete heftig.

»So hast du meinem Befehle nicht gehorcht,« sagte sie dann leise.

»Es tut mir leid, wenn ich dadurch deinen Zorn erregt habe,« entgegnete der Radscha achselzuckend. »Ich konnte meine Leute nicht davon abhalten; sie zwangen mich förmlich dazu, selbst an dem Gemetzel teilzunehmen, und, bei der Kali, der wir dienen, es hat mich ergötzt.« »Du kannst deine Leute nicht im Zaume halten?« sagte das Mädchen mit schneidender Stimme. »Du läßt dich von ihnen zu etwas zwingen, was gegen meinen Willen ist? Du suchst deinen Ungehorsam mit so etwas zu entschuldigen?«

»Begum, wir kämpfen für die Freiheit Indiens, nicht für dich,« rief der Radscha stolz.

»Nimm deinen Häuptlingsschmuck vom Helm, ich enthebe dich hiermit deiner Stelle als Anführer.«

Eine Bewegung entstand unter den Zuhörern; der Radscha aber lachte wild auf und trat, die Hand am Schwertgriff, einen Schritt auf das Mädchen zu.

»Du? Mich?« rief er höhnisch.

Diese zwei Worte waren noch nicht im weiten Saale verschollen, als schneller, als das Auge ihr folgen konnte, die hinter dem Mädchen stehende kleine Gestalt hervorsprang; wie ein Blitzstrahl sauste ein kleines, krummes Schwert durch die Luft, und Rumpf und Kopf des Radschas fielen blutend als zwei Teile zu Boden.

Todesstille herrschte im Saale; niemand wagte zu atmen. Ruhig ging der Kleine an seinen Platz zurück, das Schwert in seiner Hand verschwand spurlos, wie es erschienen war, und ebenso gleichgültig wie vorhin kreuzte er die Arme über der Brust, als ob nichts geschehen wäre.

Bahadur war der erste, der Leben und Sprache wieder fand.

»So geschehe jedem, welcher sich der Begum von Indien ungehorsam zeigt!« rief er und gab dem kopflosen Leichnam einen verächtlichen Stoß mit dem Fuß.

Auf seinen Wink kamen Kulis und trugen die Leiche hinaus.

»Hast du schon gesorgt, daß Frauen und Kinder in Delhi verschont werden?« wandte sich das Mädchen an Bahadur.

»Ich habe es befohlen, und wehe dem, der diesen Befehl übertritt,« war die demütige Antwort.

»Ich sah mit meinen Augen, wie manche Weiber unter den Schwertern der Indier starben.«

»So werden die Ungehorsamen desselben Todes sterben. Was hat die Begum uns sonst noch zu befehlen?«

»Wie hat man die Kranken in dem großen, roten Hause behandelt?«

Ein anderer Heerführer trat vor.

»So, wie du befohlen. Ich habe sie vorläufig schonen lassen. Im Dach des Hauses entstand Brand, ich ließ ihn löschen.«

»Gut, sie werden darin bleiben und von den englischen Mädchen weitergepflegt werden.«

»Bedenke, Begum, es sind Männer, meist englische Soldaten!«

»Haben die Engländer nicht den Ärmsten unserer braunen Brüder in jenes Haus aufgenommen und ihn unentgeltlich gepflegt?«

»Es ist wahr.«

»So wollen wir uns nicht durch sie beschämen lassen. Sie bleiben, bis sie gesund sind.«

»Und dann?«

»Dann mögen sie gehen und gegen uns kämpfen. Wehe dem, der einem der Kranken ein Haar krümmt, der sich einer der englischen Krankenpflegerinnen gegenüber als Herr aufspielt.«

»So willst du, daß wir die verwundeten Engländer auch noch liebevoll pflegen?« fragte Nana Sahib scharf.

»Ich habe vorhin gesehen, wie die Indier dafür sorgen, daß auch die Verwundeten nicht am Leben bleiben. Was willst du mehr?«

Neue Anführer kamen herein, mit Blut und Schmutz bedeckt, viele zeigten klaffende oder schlecht verbundene Wunden.

»Radscha Madhava,« rief die Begum lebhaft, »du kommst vom Fort Oliver! Was hast du ausgerichtet?«

»Sehr wenig,« entgegnete der Anführer, der sich kaum noch aufrecht halten konnte, niedergeschlagen, »die Häuptlinge der Engländer sind uns entgangen.« Ein unwilliges Murmeln entstand; nur das Mädchen behielt seine Ruhe.

»Vorläufig! Sie fallen uns doch noch in die Hände. Was macht das uns? Keine Entmutigung deswegen! Erzähle! Wie kam es, daß sie euch entgingen?«

»Die Gurgghas, Dollamore!« rief ein anderer; ein Wink der Begum gebot ihm Schweigen.

»Sie wollten sich uns, wie du erwartet hast, nicht ergeben. Wir durften noch nicht angreifen, denn das Signal war noch nicht gegeben. Dann kam es eher, als wir dachten.«

»Ich weiß es. Weiter!«

»Wir stürmten. In fünf Minuten wären sie unser gewesen, da aber führte der verräterische Hund Dollamore seine Gurgghas gegen uns. Wie eine Wetterwolke kamen sie angebraust, und da wir nur wenige Gewehre besaßen, wurden wir im Nu überritten. Die Engländer im Fort fielen aus, und sie entgingen uns ...«

»Wie? Ihr vielen Tausende konntet nichts gegen sie ausrichten? Wie eine Herde Schafe ließt ihr euch zurücktreiben?«

»Ja, wenn Dollamore weiter vorgedrungen wäre, dann hätten wir sie zermalmt. Aber er war schlau, er begnügte sich damit, das Fort befreit zu haben und deckte mit seinen Leuten ihren Rückzug. Folgen konnten wir ihnen nicht; nur wenn wir sie umzingelt hätten, konnten wir sie überwältigen, doch Sümpfe und Dschungeln hinderten uns daran, und zum Fernkampf fehlten uns Gewehre. Wir haben schwere Verluste gehabt, die der Gurgghas sind nur klein.«

»Wir wollen für die Freiheit sterben, nicht im freien Indien leben. Wer fiel von den Engländern?«

»Wir fanden keine einzige Leiche, da wir mit blanken Waffen angegriffen hatten, wie du befahlst, sie dagegen schossen.«

»Die Frauen und Kinder?«

»Sind in unserer Gewalt.«

»Ah, wie kam das?«

»Ein unterirdischer Weg wurde uns verraten, der in den Keller führte. Im letzten Augenblick, als die Gurgghas kamen, benutzten wir ihn und fanden im Keller die Frauen und Mädchen.«

»Die Knaben?«

»Sie hatten mit gekämpft und sind ebenfalls geflohen.«

»Wo sind die Gefangenen?«

»Auf dem Wege hierher.«

»Ich will sie sehen.«

»Nur ein Weib ist uns im Anfang entflohen. Sie war nicht gefesselt; in einer leeren Straße wandte sie sich zur Flucht und war so schnellfüßig, daß sie entkam. Was hilft es ihr? Sie kann nicht heraus aus Delhi und wird doch wieder gefangen, wenn nicht getötet.«

»Wer war sie?«

»Wie soll ich sie kennen?«

»Ein Weib oder ein Mädchen?«

»Ein junges Mädchen noch.«

Die Anführerin blickte eine Weile sinnend vor sich hin, fuhr träumerisch mit der Hand über die Augen und fragte dann weiter: »Trugst du den Engländern in meinem Namen an, daß Frauen und Kinder freien Abzug hätten?«

»Ja; man glaubte mir nicht, man verspottete mich sogar deshalb.«

»Warum?« fragte sie mit gerunzelter Stirn.

»Von Mirat war ein englischer Offizier entkommen, er schlich sich durch unsere Reihen, eine ihm nachgeschickte Kugel ging fehl, sie schlug dem Gouverneur das Glas aus der Hand; der Bote gelangte ins Haus und teilte jenen mit, daß in Mirat Frauen und Kinder niedergemetzelt seien.«

Das Mädchen stampfte zornig mit dem Fuße die Erde.

»Und die indischen Diener?« forschte sie weiter. »Sie benutzten natürlich den gebotenen freien Abzug und ...«

»Sind sie durchsucht worden?«

»Ja, bis auf einen, und nun wollte ich auf diesen einen zu sprechen kommen. Du unterbrachst mich.«

»So sprich.«

»Es dauerte lange, ehe der letzte, der vierzehnte, das Haus verließ, und als wir ihn untersuchen wollten, weigerte er sich. Er sei ein Brahmane.«

»Was?« rief die Begum erstaunt, und Zeichen des Erstaunens machten sich auch unter den anderen Zuhörern bemerkbar.

»Er sei ein Brahmane,« wiederholte der Erzähler, »aber wir glaubten ihm nicht; wir wollten Gewalt anwenden, da jedoch kam ein alter, uns bekannter, ehrwürdiger Brahmane hinzu; er forschte den für einen Brahmanen noch sehr, sehr jungen Mann aus und mußte dessen Aussagen bestätigen.«

Aus dem Kreis trat ein alter Mann mit weißem Bart und Haar, sehr ärmlich gekleidet, und näherte sich ohne Ehrfurchtsbezeugung dem Mädchen; dagegen machten die Umstehenden ihm ehrfurchtsvoll Platz.

»Er sprach die Wahrheit,« begann der Alte mit ruhiger, tiefer Stimme, »und ein Tor ist, wer das nicht für Wahrheit hält, was Buddha uns lehrt. Urteile nicht nach dem Aussehen, noch nach dem Alter, du würdest dich immer wieder täuschen; denn die unscheinbarste Schale enthält den süßesten Kern, und würde er mit dem Alter immer besser, so gäbe es keine hohlen Nüsse. Verstehst du, meine Tochter, was Buddha mit diesem sagen will?«

»Ich verstehe es. Gibt es doch auch Kinder mit dem Geist eines Alten und Alte mit kindischem Geist. Ist dieser junge Brahmane hier?«

»Du kannst ihn sehen, doch ehe du ihn siehst, höre meine Worte, damit du glaubst, daß er ein Brahmane ist.«

»Woraus hast du dies geschlossen?«

»Weil er das weiß, was nur ein Brahmane wissen darf und kann; denn wem stehen die Bücher offen? Wer als die Weisen gibt sich die Mühe, sie zu lesen und dazu erst viele, viele Sprachen zu lernen? Dieser Mann aber wußte viel mehr als ich, ich bin ihm gegenüber an Wissen ein Kind. Er antwortete mir im reinsten Sanskrit, wie Buddha es nicht besser gesprochen haben kann; er kannte die heiligen Formeln, er kannte die Entstehung der Welt, ihre Vernichtung und ihre Wiedergeburt, er zitierte alle Stellen der Veden, des Oupnekhats, des Foe-Kue-ki und alle anderen heiligen Bücher und Schriftsteller, nicht nur der buddhistischen, die ich von ihm zu wissen begehrte, immer wörtlich im Urtext, ja, er kann den ganzen Daraschakoh auf persisch auswendig und die Stellen richtig auslegen. Ist dies kein Brahmane? Wer darf es wagen, ihn anzutasten?«

»Wie aber kommt ein Brahmane nach Fort Oliver? Was hat er dort zu suchen?«

»Er war als Diener dort.«

»Nicht möglich.«

»Er sagte es, und ich muß es ihm glauben. Brahma gibt uns seinen Willen in der Anschauung zu erkennen, und wir gehorchen. Sagt er: ›Erniedrige dich und diene‹, so tun wir es; denn niemand ist so hochgestellt, daß er nicht dienen muß.«

»Du kennst ihn nicht?«

»Wer kennt alle Brahmanen, die in der Einsamkeit leben und nur zuzeiten sich sehen lassen?«

»Wie alt schätzt du ihn?«

»Nach menschlichen Begriffen höchstens fünfundzwanzig Jahre, doch wer Brahma sehen kann, der bleibt ewig jung.«

»Wie, fünfundzwanzig Jahre? Den muß ich kennen lernen.«

Der Kreis teilte sich, und ein junger Indier, ärmlich gekleidet, trat langsam hervor. Er achtete nicht der Umstehenden, seine Augen hingen unverwandt an dem Mädchen. Dieses musterte ihn mit Interesse; aber plötzlich drückte sich in ihren Zügen erst namenloses Erstaunen aus, welches darauf in Verwirrung überging. Um dieses zu verbergen, wandte sie sich an Bahadur und flüsterte mit ihm.

Dieser, der selbst zum Brahmanen bestimmt gewesen war, nickte.

Als sich das Mädchen dem jungen Indier wieder zukehrte, war ihr Antlitz kalt wie zuerst.

»Du bist Brahmane?« forschte sie.

»Du sagst es.«

»Und warst Diener bei Kapitän Atkins? Das ist seltsam!«

»Brahma wollte es so.«

»Wie heißt du?«

»Bodhisatwa.«

»Bodhisatwa? Fürwahr, ein stolzer Name. So hieß Buddha, ehe er ein Weiser Buddha = Weiser. wurde.«

»Ich bin nicht weit davon entfernt, ein Buddha zu werden.«

Das war eine anmaßende Behauptung und rief Aufsehen unter den Umstehenden hervor.

Mit diesen Worten erklärte der junge Indier, daß er bald Anbetung verlangen könne.

»Du bist sehr stolz,« fuhr Begum fort.

»Ich habe Grund dazu.«

»Weißt du, daß ich befohlen habe, jeden der abziehenden Diener nach etwaigen Schreiben zu durchsuchen?«

»Was kümmert mich dein Befehl! Wer will's wagen, einen Brahmanen zu durchsuchen?«

»Oho! Weißt du, wer ich bin?«

»Ein erbärmlicher, aus Erde gemachter Mensch, der nichts ist, wenn er nicht Brahmas Wesen erkannt.«

»Du irrst, ich bin kein gewöhnlicher Mensch. Ich bin die Tochter Sewadschis und der Kali.«

Ein beifälliges Murmeln ward laut, der Indier dagegen stieß ein verächtliches Lachen aus.

»So bist du also das fremde Mädchen, von dem ich schon gehört habe? O, Indier, Indier, welche Torheit, dies zu glauben! Wie kann Sewadschi, ein Mensch, mit einer Göttin ein Kind in der Nirwana zeugen, obwohl doch eben die Nirwana jener Zustand ist, wo man die Gefühle der verlangenden Liebe nicht kennt, der stets Schmerzen folgen müssen. Bist du wirklich dieses Kind, dann gibt es auch keine Nirwana, behaupte ich, dann ist auch dieses Lug und Trug.«

Glaubte der junge Weise, durch diese Worte die Radschas aus einem Wahn zu reißen, so hatte er sich getäuscht; ein Sturm der Entrüstung brach vielmehr los, und das Leben des Brahmanen hing an einem Haar.

»Hund, das wagst du zu sagen?« schrie Nana Sahib, riß das Schwert aus der Scheide und stürzte auf den Brahmanen zu.

Da warf sich zwischen beide die Begum, sie wollte den heiligen Brahmanen mit dem eigenen Leib decken; denn das Schwert zu ziehen, um den herabsausenden Schlag abzunehmen, war nicht mehr möglich.

Doch das Schwert berührte nicht einmal ihre Helmspitze, es fiel auf den Arm des kleinen, vermummten Mannes, und als wäre es ein Glasrohr gewesen, so fiel es zersplittert zu Boden; Nana Sahib behielt nur das Heft in der Hand.

»Verflucht sei, wer einem Brahmanen auch nur ein Haar krümmt!« zürnte der Kleine den erschrockenen Radscha an, der darüber aufs höchste bestürzt war, daß sein Schwert, welches sonst jeden Panzer durchdrang, am Arm dieses Mannes zersplittern konnte.

Die Ruhe war bald wiederhergestellt. Aller Augen folgten scheu und ehrfurchtsvoll der kleinen Gestalt, die gelassen an ihren alten Platz zurückging. Ebenso gleichmütig stand der junge Indier vor dem Mädchen.

»Du bist Brahmane, ich glaube es, besonders infolge der Aussage des Alten,« begann Begum dann, »und so darf man dich allerdings nicht untersuchen. Willst du uns nicht selbst das Zeichen sehen lassen, welches du am linken Arm tragen mußt?«

»Nein!«

»Hast du Briefschaften bei dir, die dir vielleicht vom Kapitän Atkins oder vom General Broke oder von dem General-Gouverneur als ganz unschuldig gegeben wurden?«

»Ich verweigere jede Auskunft. Ihr alle habt nicht einmal das Recht, mich zu fragen.«

»Nun gut, wenn wir dieses nicht haben, so haben wir doch das Recht, dich in Gewahrsam zu halten, damit du, wenn dir Papiere anvertraut sind, sie nicht in unrechte Hände gelangen lassen kannst. Es ist dem Brahmanen ja ganz gleich, wo er sich befindet, wenn er sich nur in stille Beschauungen versenken kann!«

»Du sagst es; im Kerker würde mir ebenso wohl wie im freien Walde sein, jedenfalls bin ich dort lieber als in der Gesellschaft dieser Menschen, die von Blut starren.«

»So bist du mein Gefangener.«

Der Brahmane wurde nicht gefesselt, auch nicht bewacht, denn ein Fluchtversuch wäre seiner ganz unwürdig gewesen, so etwas hielt gar niemand für möglich, und außerdem wäre es sehr leicht gewesen, ihn wieder zu fangen.

Ein anderer Krieger kam und meldete, die im Fort Oliver gefangenen Frauen ständen vor der Tür.

Alle begaben sich hinaus, auch der Brahmane.

Da standen dreizehn Frauen und Mädchen und schauten mit entsetzten Blicken die blutigen Gestalten an; auch der Anblick des in Stahl gehüllten Mädchens, das hier zu befehlen hatte, konnte sie nicht trösten. Unter diesem Panzer konnte kein gefühlvolles Herz schlagen.

Besonders eine, eine schöne Frau von vielleicht fünfunddreißig Jahren, betrachtete mit mehr Erstaunen als Furcht die Begum, und ebenso ließ diese lange ihre Augen auf ihr ruhen.

Darauf wendete sie langsam den Kopf und blickte fest den jungen Brahmanen an, der, wie es schien, ein gleichgültiges Gesicht aufzusetzen suchte, was ihm indes kaum gelang.

Überraschung und Schrecken spiegelten sich darin wider.

Um sein Gesicht verbergen zu können, trat er zu einem Pferd, welches neben der Tür angebunden war, und streichelte liebkosend den schlanken, edel gebogenen Hals.

Es war ein herrliches Tier, ein Falbe, so zierlich gebaut wie ein Windspiel, die Fesseln dünn zum Umspannen, aber doch wie aus Stahldraht. Die kleinste Muskel trat wie gemeißelt aus dem schlanken Körper hervor, die eingefallenen Weichen konnten die Schönheit des Tieres nicht entstellen.

Das Tier wendete den klugen Kopf nach der Begum, als der fremde Mann ihm den Hals klopfte, und plötzlich stand diese neben dem Brahmanen. Sie beschäftigte sich mit dem prachtvollen Sattel, es war fast, als zöge sie unter der Purpurdecke einen Gegenstand hervor und steckte ihn zu sich.

»Merkwürdig,« murmelte sie dabei, für den Brahmanen bestimmt, »dein Name ist Bodhisatwa, und mein Pferd habe ich Kantakana genannt. Wie sagt Bodhisatwa, als er zum letzten Male sein Pferd satteln läßt, um aus der väterlichen Residenz in die Wüste zu fliehen?«

»Ich sehe, auch du bist in den Büchern des Foe-Kue-ki bewandert,« entgegnete der Brahmane. »Bodhisatwa sagte: nur diesmal noch, o, Kantakana, trage mich von hinnen, und wenn ich werde Buddha geworden sein, werde ich deiner nicht vergessen!«

Das Mädchen streichelte noch einmal das Tier und ging dann zu den Genossen zurück, den Brahmanen beim Pferd lassend.

Durch die Straßen zogen nicht mehr die die Häuser absuchenden Indier; überall erklangen Hornsignale und sammelten die Krieger, denn beim ersten Morgengrauen sollte die Treibjagd auf die Entkommenen beginnen. Die Straßen waren daher nicht mehr mit Menschen überfüllt.

»Welches Tor hast du für die Boten bestimmt, Nana Sahib?« fragte die Begum.

»Das vierte Tor.«

»Wie ist dort das Losungswort?« »Upanischad.«

Das Mädchen hielt die Hand über die Augen und spähte in die Ferne.

»Seht ihr den roten Schein am Horizont? In welcher Gegend mag es brennen?«

Alle schauten dienstbeflissen nach der bezeichneten Richtung.

In diesem Augenblick erscholl hinter ihnen ein leichter, flüchtiger Hufschlag; blitzschnell wandten sie sich um und konnten eben noch sehen, daß der Falbe wie ein Pfeil davon schoß, und der im Sattel saß, war niemand anderes als der junge Brahmane.

Aber nicht allein, daß er entfloh – als er an den gefangenen Frauen vorbeikam, bückte er sich, ein Ruck, und die ihm Zunächststehende lag vor ihm im Sattel.

Nana Sahib war der einzige, welcher die Geistesgegenwart nicht verlor. Er riß sein Pistol aus dem Gürtel und hob es, den Reiter herab zuschießen.

Wieder aber wurde ihm die Waffe von dem Arm des kleinen Mannes in die Höhe geschlagen, der Schuß ging in die Lust.

»O, meine schöne Falbe, meine treue Kantakana, er hat sie geraubt!« brach das Mädchen in Jammern aus.

»Was hinderst du mich, den Räuber vom Pferd zu schießen?« fuhr Nana Sahib auf.

»Er ist ein Brahmane,« entgegnete der Kleine. »Ich möchte deine Hand von seinem Blute reinhalten.«

»Ein Schurke, ein Spion war er, kein Brahmane!«

»So? Und wie kommt es, daß ihn dieses Tier nicht abwirft? Du selbst, der du dich als den besten Reiter Indiens rühmst, kannst Kantakana nicht reiten, weil sie keinen anderen als ihre Herrin auf ihrem empfindlichen Rücken duldet. Doch willig folgt sie dem Brahmanen, sie fühlt an seiner Hand, daß er der Herr alles Lebendigen ist.«

»Aber meine Kantakana,« rief die Begum, »sie ist mir verlorengegangen, und wie finde ich ein solches Roß wieder?«

Da trat der Verhüllte zu ihr.

»Begum, du kannst mich nicht täuschen,« raunte er ihr zu, »nicht du allein, auch ich habe diesen jungen Brahmanen wieder erkannt. Verlange nicht das Unmögliche von mir.«

Der Zug der gefangenen Frauen, zu denen noch andere hinzugekommen waren, mußte sich ordnen und wurde von der Begum selbst begleitet.

Kaum waren sie fort, als sich durch die Reihen der immer mehr anwachsenden Anführer ein alter Mann durchdrängte, schwatzend und gestikulierend; und überall machte man ihm halb mit Ärger, halb mit Abscheu Platz.

»Wo ist der Mann,« rief der Alte mit der größten Zungengeläufigkeit, »der allwissend ist wie der Gott meiner Väter, der Blitze schleudern kann, und dem keine Waffe etwas schadet, als wäre sein Körper von Stahl und Eisen zusammengeschweißt, der die Stärke eines Simson besitzt, vor dem sich die Mächtigsten beugen, und der doch manchmal den alten Sedrack besucht, um mit ihm zu sprechen heimlich im Vertrauen ...«

»Suchst du mich,« redete ihn der kleine Vermummte schnell an, »so schweige, oder ich stopfe dir den Mund. Was willst du, Jude?«

Dieser flüsterte ihm etwas zu, und sofort wurde er abseits geführt. Aufmerksam hörte ihm der Kleine zu.

»So liegt er noch in deinem Hause?« fragte er dann.

»Werde ich doch nicht ausstoßen, solch einen schönen, jungen Mann, weiß ich doch auch, was wert ist euch sein Leben, und wird man mir doch auch bezahlen meine Pflege.«

»Schwer verwundet?«

»Der alte Sedrack würde daran sterben, dem jungen Blut schadet's so viel, als wenn ich mich ritze mit einer Stecknadel. Laß ihn nur pflegen durch Mirja, in drei Tagen ist er gesund wie ein Fisch und wird wieder nehmen das Schwert, abzuschlagen den Indiern die braunen Köpfe.«

Der Kleine brachte ein Pergamentpapier zum Vorschein und drückte darauf in der hohlen Hand einen Stempel. »Hier hast du Sicherheit für dein Haus. Aber wehe dir, Jude, wenn du mich belogen hast und du unseren Feind nur beherbergst, um Geld von mir zu erpressen.«

»Beim Gott meiner Väter, ich spreche die Wahrheit, und du weißt, Mächtigster der Mächtigen, der alte Sedrack ist nicht geldgierig, sonst wäre er nicht so arm und ...«

»Geh! Ich selbst komme dann, mich zu überzeugen, und finde ich einen anderen vor als den Betreffenden, so lasse ich dir dein Haus überm Kopf anzünden.«

»Und ich sollte mit ihm verbrennen?«

»Ja. Es würde dir auch nichts nützen, wolltest du dich in deinem selbst gegrabenen Keller verstecken.«

Der Jude sank vor Schreck bald in die Knie, raffte sich jedoch alsbald auf und floh, wie von Furien gepeitscht, davon.

Der Kleine rief Bahadur und Nana Sahib zu sich, alle drei entfernten sich weit von den anderen.

Die beiden Anführer horchten hoch auf, als ihnen der Kleine mit kurzen Worten etwas erzählte.

»So muß die Begum sofort hin,« riefen beide wie aus einem Munde.

Abwehrend hob der Kleine die Hand.

»Zu spät!« sagte er. »Dafür ist die Begum verloren.«

»Wie, sie ginge nicht mehr darauf ein?«

»Nein. Ihr könnt die Frauen nur so weit beurteilen, wie ihr sie in euren Harems kennen lernt, doch es gibt auch andere. Die Begum wird sich nicht zu der Rolle hergeben, für die wir sie bestimmt haben.«

»Aber was dann?« riefen beide bestürzt.

»Ich wüßte einen Rat,« entgegnete der Kleine sinnend; »ich kenne ein Mädchen, eine Bajadere, welche – hm – Bahadur, du bist der Schutzherr von Wischnus Tempel.«

»Ich bin's.«

»Wie heißt das Mischblut, jene Bajadere von unbekannter Herkunft?«

»Kalidasa.«

»Richtig, Kalidasa.«

»Kalidasa, wahrhaftig,« rief Nana Sahib lebhaft. »Sinkolin, ich durchschaue deinen Plan, er ist gut und wird zum Ziele führen. Ich kenne sie, sie sieht der Begum zum Verwechseln ähnlich.«

»Zu spät,« sagte Bahadur, »Kalidasa wird beim Anbruch der Morgenröte auf Siwas Scheiterhaufen geopfert worden sein.«

»Du irrst!« rief Sinkolin. »Du meinst Sakuntala, die sich weigerte, unter den Rädern des Götterwagens zu sterben.«

»Nein, ich meine Kalidasa; sie stirbt in Gemeinschaft mit Sakuntala, ich selbst habe das von den Priestern mir vorgelegte Todesurteil unterschrieben. Sakuntala war einstweilen gefangen gesetzt worden, und da hat Kalidasa versucht, die Freundin zu befreien. Sie wurde dabei ertappt, und nun sterben beide Freundinnen gemeinsam auf dem Scheiterhaufen.

Wohin, Sinkolin?«

»Kalidasas Tod vereiteln, wenn es noch möglich ist.«

»Du kannst es nicht, du beleidigst die Priester.«

»Und sollte ich sie dazu zwingen, sie müssen Kalidasa freigeben, ich brauche sie!«

»So nimm wenigstens meine Vollmacht mit!«

»Es dauert mir zu lange, jede Minute ist kostbar!«

Der Vermummte eilte davon, die beiden Zurückbleibenden schauten ihm nach.

»Gelingt es ihm, das Mädchen zu befreien,« sagte Nana Sahib leise, »so haben wir von nun an zwei Begums statt einer. Hahaha, es wird immer besser!«

»Diese neue haben wir nicht zu fürchten, desto mehr die andere,« entgegnete Bahadur.

»Auf, Nana Sahib, stelle die Anführer an zur Jagd auf die Entkommenen, es soll ein lustiges Treiben werden!«


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