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21. In falschem Verdacht

Am stillsten während dieser Schreckensnacht ging es im mohammedanischen Viertel Delhis zu. Die meisten Bewohner desselben hatten sich allerdings dem Aufstande angeschlossen, sie waren ja auch Söhne Indiens und haßten die Unterdrücker des Vaterlandes, da sie aber Mohammedaner waren, so sorgten sie nach der Lehre ihrer Religion dafür, daß ihre Weiber möglichst wenig davon zu hören bekamen.

Nana Sahib, selbst Mohammedaner, hatte den Befehl gegeben, möglichst die Straßen des mohammedanischen Viertels zu verschonen, und man war ihm nachgekommen.

Nur ab und zu streifte eine Bande bewaffneter Indier durch die Straßen, nach Flüchtlingen spähend. Ein Durchsuchen der Häuser fand nicht statt, einmal, weil die Haremsweiber dadurch beleidigt worden wären, und dann, weil in diese Häuser Fremde überhaupt keinen Einlaß fanden, und wären sie auch in noch so großer Gefahr gewesen – dafür sorgten schon die Eunuchen, die Haremswächter, oder die alten Weiber, unter deren Aufsicht die jüngeren Frauen und Töchter standen.

In schnellem Lauf eilte ein Mann durch diese stillen Straßen; der wacklige, unbeholfene Schritt verriet sein hohes Alter.

Eine Patrouille begegnete ihm, er wurde angehalten.

»Zeig dein Gesicht, ob du nicht ein verfluchter Engländer bist!« rief ein Indier und hielt ihm die Fackel unter die Nase.

»Waih geschrien, was hat dir getan der alte Sedrack, daß du ihm verbrennst den grauen Bart!« jammerte der Alte.

»Der alte Sedrack!« lachte einer. »Laßt den Juden laufen!«

»Nein,« rief ein anderer, »oder begleitet ihn in sein Haus und durchsucht es! Bekommt er es bezahlt, so nimmt er auch seinen ärgsten Feind auf, denn er ist ein Jude!«

»Es ist nicht nötig; Sedrack nimmt nicht einmal seinen Freund auf, und bezahlte er noch so viel; denn er fürchtet, das Versteck könnte aufgespürt werden, wo seine Schätze liegen.«

»Der alte Sedrack ist ein armer Jüd,« jammerte der Alte; »er braucht keine Verstecke, denn er hat nichts zu verstecken!«

»Laßt ihn laufen!«

Die Patrouille zog weiter, und Sedrack eilte mit beschleunigtem Schritt davon.

Doch schon an der nächsten Ecke traf er abermals mit einem Trupp Männer zusammen, die keine Indier waren. Sie trugen französische Offiziersuniformen, phantastisch aufgeputzt, mit Schärpen und Schnüren, sprachen Französisch, sangen, lachten und schienen überhaupt in rosiger, etwas angetrunkener Stimmung zu sein.

Der Jude hatte eben einem kleinen, baufälligen Häuschen zustreben wollen, aus dessen vergitterten Erkerfenstern schwaches Lampenlicht strahlte. Beim Anblick der Männer verbarg er indes seine Absicht, dieses Häuschen betreten zu wollen, und versuchte an der Truppe vorbeizuhuschen.

Ein Mann hatte ihn bemerkt und gepackt.

»Hallo, wen haben wir hier? Qui vive, England oder Indien?«

»Soll doch Indien leben hoch bis in die allerhöchste Höhe und soll doch England fahren in den allertiefsten Pfuhl, wo da ist ein Feuermeer von brennendem Schwefel!« schrie Sedrack.

»Ein Jude,« lachten die ihn Umringenden. »Also selbst diese Kerle sind heute patriotisch!«

»Lassen Sie mich gehen, meine Herren, oder ich werde machen einen Radau, wie die Kriegsposaunen, von deren Klang umfielen die Mauern Jerichos.«

»Immer blase zu, heute kann ganz Delhi einfallen.«

»Hallo, das ist ja der alte Sedrack!« rief einer.

»Der alte Sedrack? Bravo, das ist ein kapitaler Fang. Los, alter Sünder, wo ist dein Haus?«

»Hurra, zeig es uns! Der Jude hat Säcke voll Gold in seinem Hause versteckt!« »Er hat Schätze!«

»Und eine schöne Tochter dazu!«

»Die Mirja, jawohl, die können wir diese Nacht gerade gut gebrauchen. Hund, willst du uns nach deinem Hause führen, oder wir schneiden dir Ohren und Nase ab!«

»Wir stehen ja vor seinem Hause; hier, dies alte Gerümpel ist es; er hatte ein böses Gewissen, er wollte daran vorüber!«

»Jude, öffne die Tür und gib uns die Mirja; das Mädchen ist nichts für einen krummbeinigen Judenjungen!«

»Und dein Gold teilen wir ehrlich!«

Der Jude verlor, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, bei dieser gefährlichen Situation den Mut nicht, triumphierend hob er ein Papier in die Höhe, und endlich gelang es ihm, den Lärm zu übertönen.

»So, meine Herren, wer wagt es wohl, das Haus des alten Sedrack zu betreten und die Mirja zu nehmen bei der Hand? Nu, will keiner dran?«

»Was für ein Wisch ist das?« rief einer und riß ihn dem Juden aus der Hand. »Bah, in Sedracks Haus habe niemand Zutritt, darunter ein Stempel, Ti – Tim – weiß der Teufel, was es heißt! Unsinn ist das, öffne dein Haus, Jude!«

»Halt, meine Herren,« rief eine tiefe Stimme, und ein Mann händigte dem Juden das Papier wieder ein; »dieser Zettel erklärt das Haus des Juden für geheiligt, und entweihen wir es, so läßt uns der, der den Stempel darunter gesetzt hat, samt und sonders hängen. Kommen Sie, ich will es Ihnen erklären.«

Schreiend und fluchend entfernte sich die Bande, und schmunzelnd klopfte Sedrack an die Tür des Häuschens.

Sie öffnete sich, ein Lichtschimmer fiel ihm entgegen, schnell schlüpfte er hinein und warf die Tür hinter sich ins Schloß.

Vor ihm stand ein Mädchen, die uns bekannte Mirja, die mit ihren großen, schönen Augen den Vater ängstlich anblickte.

»O, Vater, ich hatte solche Furcht, ich hörte, wie man in unser Haus dringen wollte, um ... «

»Brauchst nichts zu fürchten, Tochterleben,« sagte der Jude und hielt ihr das Pergament hin; »hier ist das Osterlammblut, mit dem die Juden in Ägypten die Pfosten der Türen bestrichen, und der Würgengel ging an ihrem Haus vorüber. Er wird auch an uns vorübergehen. Nimm es, und zeige es, wenn jemand das Haus betreten will.«

»Du willst mich wieder verlassen?«

»Ich will gehen in die Erde und arbeiten, arbeiten bis morgen früh; dann wird Sedrack sein Werk vollendet haben, und die Heiden werden nichts finden, wenn sie kommen zu suchen Schätze bei dem alten Sedrack.«

»O, Vater, bleibe bei mir! Ganz Delhi weiß doch, daß du nicht arm bist.«

»Aber finden werden sie nichts!«

»Die Indier begehren deine Schätze gar nicht. Hast du nicht gesehen gestern den Wagen mit den Diamanten? Sie haben mehr als du, sie werfen die Schätze weg.«

»Ja, wenn ich sie nur hätte! Jetzt leuchte hierher!« sagte der Alte rau.

Mirja leuchtete mit der Kerze in einen Winkel unter der Treppe, der Jude kniete nieder und begann vorsichtig die Dielen aufzureißen.

»Was macht das junge Blut?« fragte er bei dieser Beschäftigung.

»Er schläft und träumt viel.«

»Es ist das Wundfieber. Gib ihm nur regelmäßig die Medizin. Was sagt er im Fieber?«

»Er denkt immer, er sei noch im Turm und kommandiert die Wache, er befiehlt den Soldaten, zu schießen, und ruft dann Bob zu, er solle Alarm blasen.«

»Er ist es,« nickte der Alte; »denn ich weiß, daß er hatte die Turmwache gestern. Nun geh und bleibe bei ihm, und, Mirja, wenn du hörst, daß jemand auf der Straße verfolgt wird, so lasse ihn ein, doch nur, wenn du glaubst, er kann später,« der Alte machte die Gebärde des Geldzählens, »du verstehst mich, so besonders Weiber, nicht in Lumpen gekleidet. Hahaha!«

»Aber die Indier?«

»Denen zeigst du den Zettel, und sie werden sich verbeugen, als wärest du die Frau des Padischah, und ziehen davon. Geh hinein, ich mache das Loch von innen zu, und wenn sich gefangen hat jemand bei mir, so wirst du klopfen mit dem Fuß hier unten, und ich werde kommen und mir lassen geben eine Bescheinigung für meine Mühe. Hahaha.«

Er verschwand in dem durch Aufreißen der Diele entstandenen Loch, Mirja ging die Treppe hinauf.

In dem äußerst ärmlichen Gemach lag auf einem harten Bett ein junger Indier, den man am rotgestreiften Beinkleid als englischen Offizier erkennen konnte.

Rock und Weste waren abgenommen, das Hemd aufgeschnitten worden, und die rechte Brust war wie die rechte Schulter mit nassen Tüchern bedeckt.

Der schöngeformte Arm an der linken Seite hing schlaff herab und zeigte am oberen Teil auf der braunen Haut eine tiefblaue Tätowierung in einer indischen Schrift.

Es war Eugen, der während des Straßenkampfes einen Säbelhieb über Brust und Schulter empfangen und dann noch so viel Besinnung hatte, sich in eine offene Haustür zu werfen, ehe er von den Hufen der Pferde zerstampft wurde.

Hier wurde er von dem alten Juden nach Beendigung des Kampfes gefunden, und der sonst so geizige Alte mochte Grund gehabt haben, diesen Verwundeten, den er erkannte, durch Bezahlen einer bedeutenden Summe an Glaubensgenossen, welche die Toten plünderten, in sein Haus schaffen zu lassen.

Der alte Jude schien überhaupt tief in die Pläne der indischen Anführer des Aufstandes eingeweiht zu sein.

Eugen wußte nicht, wo er war, hatte das Bewußtsein noch nicht wiedererlangt. Er lag im heftigsten Wundfieber und phantasierte, bald leise, bald laut.

Das jüdische Mädchen entfernte den blutigen Verband, wusch die Wunde vorsichtig aus, bedeckte sie von neuem mit in Karbol getränkter Scharpie und legte auf die entzündeten Ränder nasse Tücher. Dann nahm sie vom Seitentischchen ein Glas und führte es an die Lippen des Kranken.

Er hatte eben nur unverständlich gemurmelt, nachdem er den kühlen Trunk aber mit gierigen Zügen geleert hatte, wurden seine Worte lauter, er ergriff die Hand der Pflegerin und umklammerte sie krampfhaft.

»Bleibe bei mir, Bega!« sagte er deutlich mit flehender Stimme. »Geh nicht wieder fort von mir; du kommst nicht wieder, wie damals. Ach, Bega, kannst du mir denn nur gar nicht verzeihen? Habe ich dich denn so unversöhnlich gekränkt, als ich dir meine Liebe erklärte? O, Bega, bleibe bei mir, du sollst mich nicht mehr lieben, habe mich nur lieb, wie du damals wolltest, und ich will zufrieden sein, zufrieden für mein ganzes Leben ...«

Die Worte sanken wieder zu einem Flüstern herab.

Die Jüdin blieb am Bette des Verwundeten stehen, ließ ihm ihre Hand und blickte mitleidig in das fahle Gesicht. Zum ersten Male vielleicht nahmen ihre schönen Züge einen anderen Ausdruck an, sonst waren sie entweder starr oder kalt oder stolz, meist resigniert und niedergeschlagen, war sie doch die Tochter des verachteten, heimatlosen Volkes, fortwährend Hohn und Verfolgung ausgesetzt, jetzt zum ersten Male vielleicht in ihrem ganzen Leben drückte sich darin Mitleid aus.

»Er liebt,« murmelte sie, »und das Mädchen heißt Bega. Wer mag das wohl sein? Gewiß eine schöne, vornehme Dame; der Name klingt indisch. Er liebt sie, und sie scheint ihn nicht wiederzulieben. Ach, Liebe!«

Der Verwundete war eingeschlafen. Leise entzog sie ihm ihre Hand, setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett, stützte den Kopf in beide Hände und schaute träumerisch in das ruhig brennende Licht der Kerze. Sie träumte und träumte, und zu ihren Gedanken paßte die schwermütige Melodie, die sie leise vor sich hinsummte.

Auch dieses Judenmädchen besaß ein Herz, das sich nach Liebe gesehnt und nie welche gefunden hatte, nicht einmal als Kind. Die Mutter kannte sie nicht, den Vater hatte sie versucht zu lieben, aber bald war ihre Liebe zu ihm erkaltet, als sie merkte, daß er das Gold mehr liebe als seine Tochter.

Ob sie denn wirklich ein Herz besaß? Es war so öde und leer in ihr, so kalt rings um sie her. Sie konnte sich nicht besinnen, daß sie jemals geweint hatte. Doch, einmal, als sie zur Erkenntnis kam, daß sie eine Jüdin war und keine Gemeinschaft mit anderen Menschen hatte, daß ihrer nichts anderes als Spott, Hohn und Verachtung wartete. Wohl dem, der sich etwas schaffen kann, an das er sein Herz hängt, wie ihre Glaubensgenossen das Gold – sie konnte es nicht. Seitdem hatte sie nie wieder Tränen vergossen, nicht einmal da, als sie eine mächtige Liebe in ihrem Herzen. auflodern fühlte und ihr vollkommene Gleichgültigkeit entgegengebracht wurde.

Sie war ja das verachtete Judenmädchen, wie konnte sie verlangen, daß sich der schöne, edle, starke Mann nach ihr erkundigte, sie nach ihrem Namen fragte? Resignation war das Heilmittel ihres Herzens, ließ es aber auch zu Eis erstarren.

Mirja kannte noch nicht das andere Gegenmittel, welches das Herz aus der Todesstarre wieder zum Leben mit verzehrender Glut erwecken kann – den Haß. Liebe und Haß, zwei entgegengesetzte Pole, und doch ähneln sie sich in ihren Äußerungen.

Sie wußte noch nicht, was Haß ist.

– – – – – – – – – – – –

Plötzlich schrak sie zusammen und lauschte. Auf der Straße erscholl wüstes Geschrei, schnell kam es näher, laufende Schritte erklangen.

»Jetzt haben wir sie,« riefen rauhe Stimmen frohlockend, »jetzt kann sie uns nicht entgehen. Sie ist in einer Sackgasse.«

Vorsichtig spähte Mirja durch die Gardinen des Fensters hinaus. Dort rannte mit Ausbietung aller Kräfte ein Weib, ein junges Mädchen, das weiße Kleid, jedenfalls für eine Festlichkeit bestimmt gewesen, hoch aufgerafft, um den dunkelgeröteten Kopf flatterte wild das aufgelöste, flachsblonde Haar. Zehn Schritte hinter ihr her stürmten die Verfolger, Indier, die Waffen im Gürtel; denn sie wollten die Flüchtige lebendig fangen.

Die Fliehende hatte die Rufe gehört, sie zauderte, sie sah sich nun doch verloren.

»Hier herein, hier bist du gerettet!«

Das Mädchen sah eine geöffnete Haustür und darin eine weibliche Gestalt stehen, sie raffte sich noch einmal zusammen, entschlüpfte der schon nach ihr ausgestreckten Hand und war in dem Flur.

»Die Treppe hinauf, du bist sicher,« sagte Mirja und erwartete die Indier.

Ein Wutschrei entrang sich den Lippen der Verfolger, jetzt blitzten Waffen in ihren Händen. Aber sie stutzten, als sie das braune Mädchen furchtlos in der Türe stehen sahen; einen Mann hätten sie sofort niedergemacht, doch dieses Weib mußte einen sicheren Halt hinter sich wissen.

»Zurück,« rief Mirja, »kein Indier darf dieses Haus betreten!«

»Hei, ist das nicht die Judendirne, die Tochter des alten Sedrack?« rief ein keuchender, schweißbedeckter Mann. »Was fällt dir ein? Heraus mit der Faringi, weg da, oder es geht über deinen Leichnam!«

Mirja hielt ihnen ein Stück Pergament hin.

»Wer dieses Haus ohne meine Erlaubnis betritt, ist des Todes!«

Kaum hatten die Indier den scharfmarkierten Stempel gesehen, als sie sich scheu und flüsternd zurückzogen. Mirja aber warf sofort die Tür zu und begab sich hinauf in das Gemach.

Das gerettete Mädchen lag auf den Knien, das Gesicht in den Kissen am Fußende des Bettes vergraben, die Brust rang nach dem hastigen Lauf heftig nach Atem. Mirja besichtigte noch einmal den Verband des Verwundeten, die Blutung hatte aufgehört, und so erneuerte sie nur die kalten Umschläge. Dann setzte sie sich wieder auf den Stuhl, stützte den Kopf in die Hände und betrachtete das fremde Mädchen ohne große Teilnahme. Es konnte ja von Glück sagen, daß es gerettet worden war, vielleicht konnte es sogar der Gefangenschaft entgehen. Den Vater zu rufen, zögerte Mirja noch.

Jetzt richtete das blonde Mädchen den Kopf auf, sah die Jüdin, stürzte vor ihr auf die Knie und brach in krampfhaftes Schluchzen aus. Der seit langen Stunden aufgespeicherte Schmerz brach sich mit einem Male Bahn.

Die Jüdin wartete, bis das Weinen aufhörte; träumerisch ließ sie die langen, blonden Flechten der Fremden durch ihre braunen Finger gleiten.

»Du hast mich gerettet,« rief diese endlich, »ich müßte dir danken, doch ich kann es nicht.

Ach, hätte ich mich doch lieber auch töten lassen!«

»Wo bist du gewesen, als der Kampf begann?« fragte Mirja.

»Im Fort Oliver.«

»Du bist geflohen?«

»Wir sind gefangen fortgeführt worden, ich benutzte eine Gelegenheit zur Flucht. Hätte ich es doch nicht getan! Wäre ich lieber mit meiner Schwester und meiner Mutter gestorben!«

»Sind diese auch gefangen worden?«

»Ja, alle Frauen und Mädchen! Man fand unser Versteck im Keller und führte uns davon.«

»Dann sei unbesorgt, die Frauen sind nicht getötet worden, sie werden als Geiseln behalten.«

»Wirklich?« rief das Mädchen, und seine Augen glänzten unter den Tränen vor Freude auf.

»Ich weiß es ganz bestimmt, mein Vater sagte es mir, und er weiß alles, was vorgegangen ist und noch vorgeht.«

»O, dann laß mich hinaus, ich will bei ihnen sein.«

»Du freust dich gleich zu viel. Mein Vater glaubt, die Geiseln werden doch noch getötet, weil die Indier mit ihnen nichts erlangen.«

Das Mädchen brach wieder zusammen.

»Das war ein Stich ins Herz,« murmelte sie. »Alles, alles tot! Ich will auch sterben!«

»Kanntest du die Männer, die im Fort Oliver kämpften?« fragte Mirja nach längerer Pause.

»Ach, ich kannte sie, es waren mein Vater und meine Geschwister und – auch sie sind tot.«

»Nein, sie sind gerettet worden, kein einziger ist von ihnen getötet worden.«

»Kein einziger?« rief die Fremde, von neuer Hoffnung beseelt.

»Die Gurgghas haben sie in Sicherheit gebracht, sie halten sich jetzt in den Dschungeln auf.«

Das Mädchen fand vor Freude über diese Nachricht keine Antwort, verklärt blickte es zum Himmel. Mirja betrachtete es mehr aufmerksam, als mitleidig; eine Frage drängte sich auf ihre Lippen.

»Du liebst Vater und Geschwister wohl recht sehr?«

»Wie kannst du so fragen!«

»Liebst du sonst noch jemanden außer diesen?«

Das Mädchen sprang auf und breitete die Arme aus, als wolle sie den umfangen, an den sie dachte.

»Ja, ich liebe noch jemanden,« rief sie begeistert, »und wenn du die Wahrheit sprichst, so befindet er sich mit unter den Geretteten, unter den Lebenden!«

Mirja stand auf.

»Ich will meinen Vater rufen. Er kann dich in Sicherheit, vielleicht sogar zu denen bringen, die du liebst.«

Das Mädchen hielt sie noch einmal zurück. »Und wer bist du? Wem habe ich meine Rettung zu danken?« »Siehst du das nicht? Ich bin eine arme, verachtete Jüdin, weiter nichts.«

»O, sprich nicht so, du besitzt ein teilnehmendes, liebevolles Herz, denn du nimmst dich der Verfolgten an, du und dein Vater.«

Um Mirjas Lippen schwebte ein geringschätziges, spöttisches Lächeln, als sie fragte: »Hast du Geld bei dir?«

»Ich? Nein.« war die erstaunte Antwort.

»Keine Juwelen, kein Geschmeide?«

»Nichts. Wozu denn nur?«

»Hast du Verwandte in deiner Heimat, die reich sind?«

Immer erstaunter wurde das Gesicht der Gefragten.

»Nicht, daß ich wüßte!«

»Einen Gatten?«

»Ich bin unverheiratet.«

»Armes Mädchen, dann sieht es schlimm mit dir aus. Nun, ich will meinen Vater rufen.«

Da plötzlich ging dem Mädchen das Verständnis auf, und angstvoll hielt es Mirja abermals zurück.

»Jetzt verstehe ich erst, was du meinst. Ihr wollt bezahlt werden, wenn ihr mich rettet?«

»So ist es.«

»O, wie habe ich euren Edelmut verkannt!«

»Edelmut? Wir sind Juden. Ist man etwa gegen uns edelmütig?«

Die Fremde trat vor Mirja hin und legte ihr beide Hände auf die Schultern.

»Bist du auch eine Jüdin, so hast du doch ein Herz,« stieß sie hervor, »und hast du keins, so will ich es in dir erwecken. Mädchen, hast du nie die Liebe gekannt?«

»Liebe? Nein.« seufzte die Jüdin.

»Oh, so lerne sie kennen; du wirst sie noch kennen lernen. Sieh, unter denen, welche aus Fort Oliver geflohen sind, befindet sich mein Geliebter. Bringe mich zu ihm, ich flehe dich an darum, ich weiß auch, du hast die Macht dazu, du besitzt einen Talisman, der dich gegen die Waffen der Indier schützt; bringe mich zu ihm, zu meinem Geliebten, und sollte es uns nicht möglich sein, dir mit Geld zu lohnen, so sollst du von uns etwas viel Schöneres, Wertvolleres zum Lohn erhalten. Du nennst dich arm, verachtet, du sollst es nicht mehr sein, wir wollen dir unsere Liebe schenken, wir wollen dich Schwester nennen, dich auf den Händen tragen.

Bringe mich zu ihm, und sein, wie mein Dank soll keine Grenzen kennen; und bringst du mich tot zu meinem Geliebten, so wird er dir dennoch zu deinen Füßen danken.«

In immer wachsender Erregung hatte sie gesprochen, und immer glänzender waren Mirjas Augen geworden.

»Hast du diesen Mann so sehr lieb?« fragte sie leise.

»Über alles in der Welt, tausendmal lieber als mich selbst.«

»Und er liebt dich ebenso, wie du ihn?«

»Hätte er tausend Leben, er würde sie alle einzeln für mich hingeben.«

Mirja schüttelte wie ungläubig den Kopf.

»Glaubst du das nicht?«

»Ach, ich kann nicht glauben, daß man so geliebt werden kann.«

»Könntest du nicht so lieben?«

»Ich? O ja, ich könnte es,« sagte sie schwärmerisch; »aber mich?« setzte sie seufzend hinzu. »Mich liebt nicht einmal – mein eigener Vater.«

»Armes Kind, ich möchte, ich könnte dir von unserer Liebe mitteilen! Führe mich zu meinem Geliebten, und du sollst die Dritte in unserem Bunde sein.«

»Ich will den Vater rufen.«

»Nein, tu es nicht!« sagte das blonde Mädchen ängstlich. »Er will Geld, und ich habe keins, kann auch keine Bürgschaft stellen, denn ...«

»Sei ohne Sorge,« sagte Mirja warm, »ausliefern soll dich mein Vater nicht. Wenn du ihn nicht zufriedenstellen kannst, dann werde ich selbst dich retten.« Nach einigen Minuten kehrte sie mit dem alten Juden zurück, der sich noch den Lehm von den Händen rieb. Freundlich grinsend begrüßte er das Mädchen, das ihn ängstlich betrachtete, und war sofort ganz Geschäftsmann.

»Mirja hat mir erzahlt, alles erzählt. Hm, ja, ja, wäre schade um ein solch junges Täubchen, jammerschade; denn der Hals umgedreht würde ihm doch! Na, der alte Sedrack ist ein ehrlicher Mann, hat das Herz auf dem rechten Flecke; wollen sehen, was sich machen läßt, kostet freilich etwas Geld, dich durchzubringen, und der alte Sedrack hat nichts, gar nichts, ist bettelarm; na, wollen sehen, wollen sehen. Setz dich, so, und sei nicht so traurig!«

Nach dieser Einleitung mußte sich das Mädchen setzen, Sedrack holte aus einem Wandschrank Tinte und Papier, legte es auf den Tisch und hockte sich auf den Bettrand, während Mirja sich nach orientalischer Sitte in einer Ecke niederkauerte.

»So, mein Täubchen, nun sei recht freundlich! Du bist hier sicher wie in Abrahams Schoß.

Weiß, im Fort Oliver alles gerettet, nur die Frauen nicht, bist entflohen, weiß schon alles.

Nun, mein Täubchen, bist wohl die Tochter eines der Offiziere, die sind gerettet worden durch die Gurgghas und sich jetzt befinden in Sicherheit, daß sie entgehen werden den Schwertern der ruchlosen Feinde und dafür werden spalten die Köpfe der Indier?«

Besser als mit ›mein Täubchen‹ konnte er das Mädchen nicht anreden; denn wie ein Vögelchen mit gebrochenen Flügeln lehnte das Mädchen im Stuhl, während der Alte mit den runden Augen und der großen, gebogenen Nase ganz einem Geier glich. Die Fremde raffte ihren ganzen Mut zusammen. »Nein, mein Name ist Franziska Reihenfels, und ich bin die Tochter des von der englischen Universität Oxford nach Indien gesandten Gelehrten Friedrich Reihenfels.«

»Sooo?« sagte der Jude gedehnt und warf wie enttäuscht die Feder hin. »Da steht's freilich faul mit dir, Täubchen. Der Reihenfels ist ein Narr, der gibt sein schönes Geld für Mumien und Papier, für die zahlt kein ehrlicher Jüd einen Pfennig, und was er behält, schleudert er fort an Arme, die haben mehr als er. Der Mann ist meschukke, durch und durch meschukke. Na,« fuhr er fort, als er sah, wie Franziska trostlos zusammensank, »wollen nochmals sehen. Du bist Engländerin?«

»Ja.«

»Hast du noch Verwandte drüben?«

»Nein.«

»Hm, ich weiß, ich weiß, seid alle hier. Hast keinen Schatz, der dir schneidet die Cour und hat geworfen sein Auge auf dich?«

Franziskas bleiches Gesicht rötete sich vor Entrüstung.

»Ja,« hauchte sie dann.

»Hm, wollen sehen. Wie tut er heißen?«

»Das – werde ich nicht sagen.«

»Unsinn, mein Täubchen,« kicherte der Alte, »werd's nicht erzählen, daß man's ausposaunt. Hat er Geld?«

»Ich weiß nicht.«

»Wie heißt er? Sag mir's ins Ohr.«

Der Jude neigte den Kopf über den Tisch, doch Franziska ekelte sich vor dem schmutzigen Gesicht in ihrer dichten Nähe, sie lehnte sich zurück.

»Nun, willst du's nicht sagen dem alten Sedrack?«

»Lord John Canning.«

Wie von einer Tarantel gestochen, fuhr der Jude empor.

»Lord Canning, der Oberstatthalter?«

»Ja, Lord Canning, der Generalgouverneur von Indien, ist es; ich bin seine Braut,« sagte Franziska feierlich.

Ein Schrei erklang in der Ecke, auch Mirja war aufgefahren.

»Der große Gouverneur!« rief sie. Doch gleich sank sie bewegungslos zusammen, ihre Augen nahmen einen seltsam stechenden, gehässigen Ausdruck an, als sie Franziska betrachtete.

Der alte Jude begann rastlos im Zimmer auf und ab zu wandern, daß die Schöße seines langen Kaftans wie die Flügel einer Fledermaus auseinander flatterten.

»Lord Canning, Oberstatthalter von Indien,« murmelte er, bald für Franziska, bald nur für sich bestimmt, »so so, also du bist seine Braut – ein edler, ein schöner Mann, hat eine schöne Braut, wird sie nicht vergessen – Lord Canning, hm, ist ein schwerreicher Mann, ist Lord von Windsor, weiß es wohl – hm, er ist sicher, brauchst keine Angst um ihn zu haben, mein Täubchen, die Gurgghas haben gebaut eine eherne Mauer um ihn, und wie lange wird's dauern, so sitzt er wieder oben – ein edler Mann, Lord Canning – ist Generalgouverneur – seine Braut ...

Mit einem Ruck blieb er vor dem Mädchen stehen.

»Er liebt dich?«

»Gewiß, wir sind schon lange verlobt.«

»Wer weiß das?«

»Noch niemand.«

»Aha, ich verstehe, der alte Sedrack ist nicht so dumm – desto besser, heimliche Liebe, das freut den alten Sedrack. Hm, mein Täubchen, würde dein Schatz mir wohl geben wieder die Auslagen, die ich hätte, wollte ich dich bringen zu ihm?«

»Alles,« rief Franziska überzeugt, »jede Summe, die du verlangtest als Belohnung.«

»Jede Summe!« wollte der Jude entzückt rufen, unterdrückte aber schnell die Worte.

»Nichts, nichts von Belohnung,« sagte er und setzte sich wieder. »Der alte Sedrack ist ein ehrlicher Mann, er will nur haben das, was er hat ausgelegt, und eine kleine Entschädigung für Zeit und Mühe. Freilich – hm, es ist nicht so billig.«

»Das schadet nichts, wenn ich nur mit ihm vereint werde, so bald wie möglich!« rief Franziska jubelnd.

»Sollst's werden, sollst's werden, mein Täubchen. Aber da sind die Wachen des Tores, die müssen werden bestochen, die Führer der Banden, welche durchstreifen die Straßen, und dann die großen Kosten, überall offene Hände – –«

So ging es fort, der Jude zählte alle wahrscheinlichen Schwierigkeiten auf und nannte dann auch die nötige Summe, um sie zu überwinden.

»Tausend Pfund würde es kosten, so wahr ich ein ehrlicher Mann bin und dabei nichts verdienen will,« schloß er seine langen Auseinandersetzungen, denen Franziska ungeduldig und kaum ihrer achtend zugehört hatte.

»Und wenn es hundertmal mehr kostete, bringe mich zu ihm, und du wirst bezahlt werden.«

»Hm, mein Täubchen, Geschäft bleibt Geschäft, ich muß auch haben Sicherheit. Kann ich nicht sonst zusetzen alles, was ich mir erst muß leihen, und bin dann ein geschlagener, ein ruinierter Mann?«

»Ich kann dir keine Sicherheit geben,« seufzte das Mädchen.

»Kannst du nicht? Gib mir was Schriftliches von deiner Hand, daß ich dich habe gerettet aus den Händen der Indier und dich will bringen zu deinem Schatz, und ich habe die Sicherheit.«

»Wie soll ich das tun?«

»Schreib ihm so und so, du bist beim alten Sedrack, der dich hat gerettet, dich aufgehoben, und wenn er will zahlen 1000 Pfund Sterling in englischem Gold, wird Sedrack dich bringen dahin, wo er dich will haben.«

Schnell war jedes Bedenken des Mädchens besiegt; mit zitternden Händen schrieb es unter Anweisung des Juden den Brief.

»Wenn aber nun Lord Canning selbst in großer Gefahr ist?«

»Er ist nicht in großer Gefahr, sage ich dir, und kann ich dich nicht bringen zu ihm, bringe ich dich anderswohin, wohin er dich haben will, wenn er wird bezahlen die Auslagen.« »Und wann führst du mich zu ihm?«

»Sobald sein wird die Luft rein, mein Täubchen, vielleicht schon morgen! Bleibe hier bei Mirja, ist ein gutes Töchterchen, und dir soll es an nichts mangeln, will dich halten wie mein eigenes Kind.«

Der Jude faltete das Papier zusammen und verbarg es in der geheimsten Falte seines Kaftans. Als er das Zimmer verließ, um wieder an seine unterirdische Arbeit zu gehen, schwebte ein triumphierendes Lächeln um seine bärtigen Lippen.

Franziska wußte noch nicht, ob sie sich freuen oder bangen Gedanken Raum geben sollte.

Fragend wendete sie den Kopf nach Mirja und bemerkte noch eben einen seltsamen, höhnischen Ausdruck in deren Augen.

Die Jüdin erhob sich schnell, legte dem Verwundeten nasse Umschläge auf und trat dann zu dem Mädchen. Ihre Züge waren wieder so starr wie früher geworden. Mit verschränkten Armen blieb sie vor Franziska stehen.

»Armes Mädchen,« sagte sie, »also Lord Canning, der Generalgouverneur von Indien ist der Mann, den du so sehr liebst, und der dich auch liebt?«

»Ja, du weißt nun, wer er ist. Wird dein Vater mich wirklich zu ihm bringen?«

Mirja zuckte die Schultern.

»Was? Nicht?« schrie Franziska entsetzt.

»Nicht doch, er wird dich wohl hinbringen, wenn – er es kann.«

»Was willst du damit sagen? O, sprich die Wahrheit, verhehle mir nichts, ich flehe dich darum an!«

»Mein Vater hat dir vorhin nicht die Wahrheit gesagt. Lord Canning ist nicht in Sicherheit; er wie alle übrigen, die aus Fort Oliver entkommen sind, werden von den Indiern wie die wilden Tiere und noch schlimmer durch die Dschungeln und Sümpfe gehetzt.«

Erschrocken war Franziska aufgesprungen.

»Warum aber,« stammelte sie, »erzählt er mir das Entgegengesetzte?«

»Um dich gefügig zu machen, den Brief zu schreiben, der so gut wie eine Anweisung ist.

Mein Vater wird an die Zahl sicherlich noch eine Null hängen.«

»Das schadet nichts, wenn er mich nur zu ihm bringt.«

»Nimmermehr wird er das tun,« rief Mirja mit starker Stimme, »er wird dich gefangenhalten und dich nur als Mittel benutzen, Summe um Summe aus Lord Canning zu locken, und wenn dies nicht möglich ist, wird er, wahrscheinlich sofort, seine Unterschrift zu erlangen suchen.«

»O, mein Gott,« schrie Franziska auf, »jetzt erst wird mir alles klar. Mirja, erbarme dich meiner! Du bist ein Kind Indiens, kannst du mich nicht zu ihm führen? Und ist er in noch so bedrängter, gefahrvoller Lage, ich will sie mit ihm teilen, nur bei ihm muß ich sein! Mirja, kannst du mich nicht zu ihm bringen?«

»Ich kann es.«

Franziska fiel der Jüdin zu Füßen und umklammerte ihre Knie. Sie sah nicht, wie höhnisch Mirja auf das gebildete, angesehene Mädchen herabblickte.

»So tue es!« rief Franziska leidenschaftlich.

»Ich will nicht!«

»Wie, du willst nicht?«

»Nein!« schrie jetzt Mirja plötzlich und schleuderte die Kniende mit einer gewaltsamen Anstrengung von sich. »Nein, ich will nicht, weil ich Lord Canning, deinen Bräutigam – weil ich ihn hasse!«

Franziska hatte sich bestürzt aufgerafft. Bei diesen letzten Worten taumelte sie zurück.

»Was, du haßt ihn?« brachte sie hervor. »Warum?«

In der so schüchternen, resignierten Jüdin brach mit einem Male eine dämonische Wut hervor; sie blitzte aus ihren Augen. Wie eine Rachegöttin stand sie vor dem bis zum Tode erschrockenen Mädchen. »Weil ich ihn hasse!« wiederholte sie zischend, mit immer wachsender Leidenschaft.

»Und ich will dir sagen, warum, ich will dir erzählen, was für ein Mann dein so genannter Bräutigam ist, hahaha, dein Geliebter! Ein Schurke ist er, ein elender Wollüstling, der ...«

»Du lügst!« fuhr sie Franziska an; der Zorn, ihren Geliebten schmähen zu hören, verdrängte jedes andere Gefühl.

»Ich lüge? So? Laß dir erzählen! Ich traf einst mit ihm in einem Dorfe zusammen, ich wurde wie gewöhnlich geschmäht, verachtet, zurückgesetzt; aber der große Generalgouverneur war da, er duldete nicht, daß man die arme Jüdin verachtete, er war so freundlich gegen sie, er ließ ihr den Wassereimer zu allererst füllen, alle anderen mußten warten, so edel war Lord Canning. Aber nicht genug damit, er wollte auch nicht, daß das arme, schutzlose Judenmädchen in der Karawanserei allein unter den rohen Männern schliefe, er hatte Mitleid mit ihrer Jungfräulichkeit, er ließ neben seinem Zimmer eines für sie bereiten, er ließ sie zu sich kommen, setzte ihr Essen und Wein vor, sprach so schön von seiner Menschenfreundlichkeit mit ihr, daß er, Lord Canning, auch die Juden als Mitmenschen achte, und dann, dann hat er dies wehrlose Judenmädchen auf sein Bett geworfen, und als es sich wehrte, hat er es mit Fausthieben auf den Kopf zu betäuben versucht –«

Wie eine Rasende sprang Franziska auf sie ein.

»Halt ein, schamlose Verleumderin! Ein jedes Wort, das aus deinem Munde kommt, ist eine Lüge!«

Drohend hielt ihr das Mädchen die Hand entgegen.

»Verflucht will ich auf der Stelle sein, wenn ich ein Wort der Lüge spreche. Ich, ich war jene Judendirne, die der Gouverneur, dein Bräutigam, mit roher Gewalt zu überwältigen suchte, und wäre nicht ein edler Mann dazwischengekommen, so wäre die Schurkerei gelungen. Sieh,« fuhr sie zu der Erstarrten fort, »ich wollte dich retten, und zwar ohne Hilfe meines Vaters, denn ich weiß, daß er ein Seelenverkäufer ist und dich nur gefangenhalten will bis aus Lord Canning nichts mehr herauszupressen ist; ich wollte dich deinem Geliebten zuführen, denn ich, die ich selbst nie Liebe zu kosten bekommen habe, wollte wenigstens dazu beitragen, zwei Menschen auf der Welt glücklich zu machen. Aber nun, da ich weiß, welch erbärmlicher Wicht dein Geliebter ist, ändere ich meine Absicht. Er ist es nicht wert, daß ihm sein Wunsch, seine Braut zu besitzen, in Erfüllung geht, und selbst mein Mitleid zu dir reiße ich aus dem Herzen, um ihm die Nachricht bringen zu können, daß seine Braut unter den Messern der Indier das Leben ausgehaucht hat, und die ihm diese Nachricht bringt, ist das verachtete Judenmädchen, das er überwältigen wollte. Ja, so versteht sich die Judendirne zu rächen.«

Grell lachend eilte Mirja die Treppe hinab.

Halb betäubt stand Franziska da, sie griff sich an den Kopf, sie glaubte zu träumen, doch wie Donnergetöse hallten ihr die eben gehörten Worte in den Ohren wider, und so aufrichtig und überzeugend hatte Mirja gesprochen, daß sie selbst an die Wahrheit glaubte.

Auf der Straße erklangen Waffenlärm und Schritte.

»Hierher! Hier hält sich eine Faringi versteckt!« hörte sie Mirja unten rufen.

Schritte kamen heraufgestürmt; Indier stürzten ins Zimmer, allen voran Mirja, wie eine Teufelin anzusehen.

»Dort steht sie, nehmt sie, gebt gut acht auf sie, sie ist schon einmal entflohen.«

Franziska wurde unter stürmischem Jubel von rohen Fäusten ergriffen. Das war zuletzt noch eine gute Beute. Ein Indier packte sie an dem vorn etwas ausgeschnittenen Kleid und riß ihr dabei die Taille auf.

Ein blinkender Gegenstand fiel herab, man merkte es nicht. Was galt jetzt Geld, was Gold? – Lebende Faringis wollte man haben! Das Mädchen warf noch einen schmerzlichen Blick auf die Verräterin, dann wurde es hinabgerissen. Drinnen stand Mirja mit keuchender Brust, beide Hände vor den Augen. Als sie die Hände sinken ließ, zeigten ihre Züge einen befriedigten Ausdruck. Ja, die verachtete Judendirne hatte sich zu rächen verstanden, und eine Rache, die größte vielleicht, harrte ihrer noch.

Ruhig, als wäre nichts geschehen, erneuerte sie den nassen Umschlag auf der Brust des Verwundeten, der, durch den Lärm aus dem Schlafe gestört, zu neuen Fieberträumen erwachte.

Ihre Augen fielen auf einen kleinen, glänzenden Gegenstand, der dort in der Ecke lag.

Was war das? Mechanisch hob sie es auf, eine kleine, goldene Kapsel, ein Medaillon, das Mirja sofort öffnete.

Ah, die eine Seite der Kapsel zeigte das Bildnis der Faringi, welche sie eben den Häschern ausgeliefert hatte, und die andere Seite der Kapsel enthielt – Heiliger Gott, das waren seine Züge, diese ernsten männlich schönen Züge, sie gehörten dem Manne an, dessen Bild die Gedanken der armen Jüdin Tag und Nacht beschäftigte. Das war der Mann, der sie einst aus dem Wasser, aus dem Feuer und aus dem Rachen der Krokodile zugleich gerettet hatte, der sie erst vor wenigen Tagen aus den Händen jenes Bösewichtes befreite, der den höchsten Posten in Indien bekleidete und seine Macht dazu mißbrauchte, wehrlose Mädchen zu sich zu locken. Das war er, er, den Mirja seit Jahren gesucht, um sich ihm zu Füßen zu werfen und ihm ihr Leben als Sklavin anzubieten, und dem sie, als sie ihm wieder begegnete, doch nicht danken konnte, weil sie, von ihm abermals gerettet, halb bewußtlos von den Schlägen auf den Kopf gewesen war.

Doch sie wollte ihn noch zu finden wissen. Jetzt, da sie wußte, daß sie ein Herz im Busen besaß, der Rache fähig, wollte sie es auch auf Liebe probieren, und liebte er sie nicht, weil er schon einer anderen gehörte, so wollte sie ihm als Magd dienen, ja, selbst der, welche er liebte. Sie wollte sich nicht selbst, ihr Leben sollte ihm gehören.

Aber wer war er? Wie hieß er? Und vor allen Dingen, wie kam dieses Mädchen, das eben noch hier gewesen, und das sie als Braut jenes Schurken haßte, neben sein Bild? Mirja hatte Lust, es herauszureißen und mit Füßen zu treten. Aber die Spur, welche sie hier gefunden, und durch die sie vielleicht auch seinen Namen erfahren konnte, beschäftigte sie zu sehr.

Der Kranke stöhnte, er öffnete die Augen.

»Wo bin ich?« fragte er.

Mit einem Sprunge war Mirja bei ihm.

»In guten Händen! Du bist gerettet! Hier, trink! Das gibt dir das Bewußtsein völlig wieder.«

Eugen trank.

»Wo sind – die Engländer – die Sepoys – gerettet?« stammelte er mit schwacher Zunge.

»Ja, sie sind gerettet, in Sicherheit, sie sammeln sich zum neuen Kampf. Doch sieh, dieses Bild, wen stellt es vor? Kennst du ihn?«

Der Verwundete ließ seine matten Augen lange auf dem Bilde ruhen, ein flüchtiges Lächeln huschte über sein blasses Gesicht.

»Ob ich ihn kenne? Es ist der Stellvertreter – der Königin – der ich – Treue geschworen –«

»Wer, wer? Den Namen,« drängte Mirja.

»Es ist – Lord Canning.«

»Wer?« schrie Mirja und packte den Arm des Kranken, daß dieser schmerzhaft zusammenzuckte.

»Der Generalgouverneur – von Indien.«

Das Medaillon entfiel Mirjas Hand; entsetzt starrte sie den Sprecher an.

»Du phantasierst noch!« keuchte sie. »Aus dir spricht das Fieber.«

»Ich bin – bei Bewußtsein – ach – daß ich's nicht wäre!« Schnell hob sie das Medaillon wieder auf und hielt's ihm nochmals hin.

»Wer soll das sein?«

»Der Generalgouverneur – Lord Canning – quäle mich – doch nicht – länger!«

»Aber das andere Bild!«

»Das ist – ja – das ist – Franziska Reihenfels.«

»Die Braut Lord Cannings?«

Eugen war so überrascht von dieser Frage, daß er sich, seine Schmerzen vergessend, etwas aufrichtete.

»Woher weißt du das? Kapitän Atkins hat es mir unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit mitgeteilt, und du – o, wie das brennt,« stöhnend sank er zurück, »wie das brennt! Ach, wäre ich doch tot – mit den anderen – die ich fallen sah – tot, tot – alles tot – die Sepoys – blase Alarm,« rief er plötzlich laut, wieder in Phantasien verfallend, »die Sepoys meutern – Feuer –«

Das Mädchen hörte nicht mehr seine Worte; mit entsetzten Augen betrachtete es die beiden Bilder.

»Lord Canning – seine Braut! O, ich Unglückliche, was habe ich getan!«

Heftig warf sie sich vor dem Stuhl auf die Erde, raufte sich die Haare und brach in Jammern, Weinen und Schluchzen aus.

Die Tränen, die sie früher nicht gekannt, jetzt kamen sie plötzlich.

Leiser und leiser wurde ihr krampfhaftes Schluchzen, und dann lag sie lange so da, das Gesicht mit den Händen verhüllt.

Ein Schritt kam die Treppe herauf, und Mirja erhob sich. Die Tränen waren versiegt, ihr Antlitz war wie von Stein. Eine furchtbare Entschlossenheit war darin zu lesen. »Der Kranke fiebert,« sagte der eintretende Vater, »du mußt ihm geben die Medizin. Nun, Mirjaleben, wo ist das Täubchen, die vornehme Braut?«

»Vater,« entgegnete Mirja leise, »weißt du, wer der Mann ist, welcher mich am Ganges gerettet hat?«

»Wie soll ich ihn kennen? Hat er sich doch nicht bei mir gemeldet, abzuholen seine Belohnung. Wo ist denn mein Täubchen?«

»Hast du den Generalgouverneur von Indien, Lord Canning, schon einmal gesehen? Kennst du ihn? Weißt du, wie er aussieht?«

»Haben ihn meine Augen doch noch niemals geschaut, wie soll ich wissen, wie er aussieht? Wo ist sie denn? So so, in deiner Kammer! Das ist recht!«

Er humpelte nach der Holzwand und öffnete den Verschlag. Mirja wühlte in einem Blechkasten und entnahm ihm ein Kopftuch.

»Gott Jakobs und Isaaks, wo ist denn das Täubchen hingeflogen? Sie ist doch nicht fort?«

rief der Jude erschrocken.

»Sie ist fort!« war die gleichgültige Antwort.

»Was? Wohin?«

»Ich habe sie den Indiern ausgeliefert.«

»Mirja, du bist meschukke!«

»Nein, Vater, ich bin es nicht, ich werde sie aber suchen.«

Sie band sich das Tuch um den Kopf.

»Mirja, wo willst du hin? Du darfst jetzt nicht gehen auf die Straße. Und hast du sie gelassen hinaus, oder hat sie gewittert Unrat, so schadet ja das nichts. Das Papierchen habe ich mit der Zahl, und mache ich eine Null dahinter, werde ich haben zehnmal soviel, und werde ich sagen dem großen Gouverneur – Mirja, wo willst du hin?«

»Fort!«

»Tochterleben, was fällt dir ein?«

Mirja trat vor den Alten hin, zum Fortgehen bereit.

»Vater,« sagte sie mit dumpfer Stimme, »tue, was du willst. Ich weiß, du bist ein Menschenverkäufer und handelst mit Seelen, und ich weiß, was ich zu tun habe. Das aber will ich dir sagen. Gehst du hin zu Lord Canning und sagst ihm, seine Braut sei bei dir in Sicherheit, und du wolltest sie ihm zuführen, wenn er dich bezahlen kann, so sollst du zehnmal das zu fühlen bekommen, was du mir bisher angetan hast. Sprich nicht, verteidige dich nicht, ein jedes Wort wäre umsonst! Mir ist ein Licht aufgegangen, ich habe es leuchten sehen, und wie Schuppen ist es mir von den Augen gefallen. Vater, Sklavenhändler, bete zum Gott deiner Väter daß ich nicht einst berufen werde, von dir Rechenschaft zu verlangen! Laß mich, folge mir nicht, ich kenne den Weg, den ich zu gehen habe, und, Vater,« langsam, drohend hob sie die geballte Hand, »kreuzen sich unsere Wege, dann –«

Sie drehte sich kurz um und ging die Treppe hinunter.

Wie vom Donner gerührt stand der Alte da. War denn das seine Tochter, die stille, schüchterne, zum Leiden und Dulden geborene Mirja ohne eigenen Willen? »Mirja, Tochterleben,« schrie er und stürzte ihr nach, »du bist meschukke! Gott der Gerechte, du bist vom Teufel besessen. Mirja, Mirja, ich bin ja dein Vater, dein guter Vater, der dich liebt mehr als alle Schätze in der Welt!«

Er stand in der leeren Tür.

»Fort,« murmelte er und kraulte sich in den langen Locken, »fort! Der Teufel, der Beelzebub, der gepeinigt hat den Kranken, ist gefahren in sie und hat ihr verwirrt die Sinne.

Mirja, Mirja,« schrie er noch einmal laut in die Nacht hinaus, »komm zurück zu deinem alten Vater, der dich liebt wie seinen Augapfel!«

»Was schreist du so, verfluchter Jude?« erklang es zurück und vor dem Alten standen zwei kleine durch Tücher unkenntlich gemachte Gestalten.

Sedrack trat zurück und verneigte sich so tief, daß sein Bart fast den Boden berührte.

»Meine Tochter ist gegangen von mir im Zorn, o, Mächtigster der Mächtigen.«

»Ich bringe dir eine andere Tochter. Wie geht es dem Kranken?«

»Er fiebert stark.«

»Führe uns hinauf!«

»Der Jude schien seine Tochter plötzlich ganz vergessen zu haben, er war die Unterwürfigkeit selbst.

Im Lichte der Kerze konnte man erkennen, daß der eine Sinkolin war. Die andere Gestalt war schlanker, die Bewegungen abgerundeter, sie gehörte offenbar einem Mädchen an.

Eugen fieberte stark, er sprach laut, rief nach Bega und beschwor sie, nicht von ihm zu gehen und ihm seine Liebe zu ihr zu verzeihen.

»Das Mädchen bleibt vorläufig bei dir, Jude!« redete Sinkolin den Alten an. »Behandele sie, als wäre sie meine Schwester. Dein Kopf fällt, wenn sie sich einmal beschwert. Hinaus mit dir!«

Der Jude verbeugte sich und verschwand.

Jetzt wandte sich Sinkolin an das Mädchen, welches den Schleier noch nicht gelüftet hatte.

»Dort liegt er!« sagte er, nach dem Verwundeten deutend. »Bist du noch gesonnen, das auszuführen, was ich dir aufgetragen?«

»Ich bin's, Herr,« entgegnete eine melodische Mädchenstimme.

»Ich warne dich, einen anderen Plan selbständig zu fassen. Merke ich dies, so überliefere ich dich wieder dem Scheiterhaufen, dem ich dich entrissen habe, und deine Freundin Sakuntala stirbt mit dir.«

»Herr, ich selbst fürchte den Feuertod nicht, doch um Sakuntalas willen tue ich alles, und verlangtest du das Unmöglichste.«

»Ich verlange nicht viel und komme täglich, dir zu raten. Du bist in der Krankenpflege bewandert. Gebrauche nur die Medizin, die ich dir gab.«

»Bega, Bega,« phantasierte der Verwundete, »ich sterbe, wenn du fern bleibst von mir! Nur deine Hand gib mir, und ich werde gesund!«

Schnell trat das Mädchen zu ihm; eine kleine, zarte Hand schlüpfte unter dem Tuche hervor und ergriff die Eugens. Ein glückliches Lächeln legte sich sofort über seine Züge.


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