Adolph Freiherr Knigge
Der Traum des Herrn Brick
Adolph Freiherr Knigge

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Ich will die wenigen Augenblicke, welche ich vielleicht noch zu leben habe, zum Besten meiner lieben Freunde, welche mich in meiner Krankheit so treulich verpflegt haben, anwenden, indem ich euch eine höchst wichtige Nachricht melden will, welche, wenn ihr sie in gute Hände liefert, euch und ganz Europa beträchtliche Vorteile bringen kann. Es ist dies nämlich die Beschreibung einiger, durch sonderbare Zufälle, von mir ganz allein entdeckten unbekannten Länder unter dem Südpol. Kein Europäer außer mir weiß die Lage noch den Weg dahin. Am Ende dieser Handschrift aber werdet ihr beides auf das genaueste bezeichnet finden. Wenn ihr irgendeiner Seemacht diese Entdeckungen mitteilet, so laßt euch gut dafür bezahlen! Versichert euch der Bedingungen vorher, ehe ihr die Reise antretet, denn ihr wißt, daß die großen Herrn oft treulos und eidbrüchig handeln und daß selbst die englische Nation zuweilen unedel mit denen umgeht, die sie durch große Versprechungen angelockt hat, ihr Kräfte und Gesundheit zu widmen, um in fremden, wilden Gegenden Leben, Gut und Blut zum Besten der Nation daranzuwagen. Höret nun meine Erzählung!

Es sind, wie ihr wißt, ohngefähr vierzehn Jahre, nämlich in der Mitte von 1766, als der edle Reyerberg in Braunschweig im »Goldenen Engel« mein niedergeschlagenes Herz mit Trost erfüllte und, dadurch daß er mich einem Schauspieldirektor empfahl, mir Mittel verschaffte, einen ehrlichen Unterhalt zu haben. Ich blieb eine Zeitlang bei dieser Gesellschaft, bis ich Gelegenheit fand, von dem Herrn Abt, welcher in Holland eine Gesellschaft führte, einen Ruf zu erhalten. Ich ging hin und hielt mich zwei Jahre dort auf, wo ich, nicht ohne Beifall des Publikums, die größten Rollen übernahm. Allein ich hatte immer Lust gehabt, fremde Länder zu sehen, und in der Tat überlegte ich auch, daß man doch bei dem Schauspielerleben nur ungewisse Aussichten für sein hohes Alter hat. Da ich nun mit einem Kaufmanne bekannt geworden war, der viel Wohlwollen für mich zeigte und überhaupt ein guttätiger Mann war, so eröffnete ich diesem von Zeit zu Zeit den Wunsch, bald eine andre Aussicht zu meinem Glücke ausfindig machen zu können, und wäre es auch, fügte ich hinzu, in einem fernen Weltteile. – »Wenn das Ihr Ernst ist«, antwortete der Kaufmann, »so kann ich Ihnen, da Sie der Feder mächtig sind, vielleicht in kurzer Zeit eine gute Stelle auf einem Schiffe, das nach Cap de bonne espérance geht, verschaffen.« Ich bat ihn, diese Güte für mich zu haben. Er hielt Wort, und ich reisete bald nachher in Diensten eines reichen Negozianten ab.

Wir hatten die glücklichste Fahrt, die man sich nur wünschen kann, und ich war beinahe der einzige von der Equipage, welcher die ganze lange Reise hindurch fast immer frisch und gesund blieb. Allein kaum kamen wir nach dem Vorgebürge der Guten Hoffnung, als ich anfing zu kränkeln. Die große Hitze, die ungesunden Dünste, die schlechten Nahrungsmittel, der Mangel an frischem Wasser, die hitzigen Getränke – kurz, die ganze ungewöhnte Lebensart zog mir eine hitzige Brustkrankheit zu, an welcher ich lange in Batavia schwerkrank lag und welche mir ein schleichendes Fieber und eine Mattigkeit zurückließ, die mich zu allen Geschäften unlustig machte und mir den Wunsch einflößte, wieder nach Europa zurückkehren zu können.

Ich erwartete hierzu eine schickliche Gelegenheit, als der Kapitän Cook im Jahr 1772, bei seiner großen Reise um die Welt, auf dem Kap ankam. Da wurde ich denn durch die Lust, ferne, unbekannte Länder zu sehen, durch die Hoffnung, daß die gemildetere Luft im Süden, wohin Cooks Fahrt gerichtet war, meine in Batavia zerrüttete Gesundheit wieder herstellen würde, und endlich die Ungewißheit, wie bald ich ein Schiff finden würde, das mich nach Europa brächte (wo ich im Grunde doch auch nichts zu erwarten hatte, wenn ich auch die lange und heiße Reise aushielte), durch dies alles, sage ich, wurde ich bewogen, den Kapitän Cook zu bitten, mir einen Platz in seinem Gefolge zu geben, welches er willig tat und mir eine Schreiberstelle anwies, worauf ich um meinen Abschied in Batavia bat und mit dem berühmten Seefahrer den 27. November 1772 vom Vorgebürge der Guten Hoffnung wegfuhr. Wir stachen frisch in die See, und der Zweck der Reise war, wie bekannt, zu untersuchen, ob unter dem Südpol nicht ein großes festes Land befindlich sei. Wir kreuzten hin und her, stießen aber immer auf große Eisflächen, durch welche es ohnmöglich war hindurchzukommen.

Den 9. März 1773 trennten sich die beiden Schiffe, und mich traf die Wahl, auf demjenigen zu bleiben, wovon der Kapitän Furneaux Befehlshaber war. In Neuseeland trafen wir wieder zusammen, ohne weiter sehr wichtige Entdeckungen gemacht zu haben, und fuhren dann miteinander auf Tahiti zu. In dieser schönen Insel wurde meine Gesundheit, welche schon auf der Reise sich merklich gebessert hatte, gänzlich hergestellt. Ich erinnere mich, nie vorher so frohe, sorgenlose Tage verlebt zu haben als hier, glaubte auch damals nicht, daß es ein glücklichers Volk geben könne als die guten Tahitier. So wie indessen mein Körper an Gesundheit und Stärke zunahm, so wurde er denn auch empfänglicher für die sinnlichen Eindrücke. Eine junge Tahitierin, 49 welche uns oft besuchte und sich durch Sittsamkeit, Unschuld und Naivetät von den übrigen ihres Geschlechts sehr unterschied, gefiel mir unbeschreiblich wohl. Ich war fünfunddreißig Jahr alt und hatte noch nie in meinem Leben mit ganzem Herzen geliebt, auch waren mir immer die gezierten Manieren der Europäerinnen, ihre grobe und feine Koketterie, ihr Mangel an wahrhaftem reinen, innigen Gefühl, die stets durchschimmernde Eitelkeit oder Sinnlichkeit an der Stelle der Liebe, die konventionelle Tugend, die studierte Sprödigkeit und die bedächtliche Ergebung nach Zeit und Umständen in den Tod zuwider gewesen. War es daher Wunder, wenn hier Schönheit und Einfalt Eindruck auf mich machten? Meine junge Schöne schien auch bald für mich mehr als gemeine Zuneigung zu fühlen, und diese stieg endlich bis zur größten Zärtlichkeit. Sie lebte nur für mich, brachte mir die schönsten Früchte und war besorgt um mich, sooft ich nur einen trüben Blick auf sie warf. Und das kam nun freilich oft; denn wenn ich dachte, welche selige Tage ich hier verlebte und wie das alles auf einmal vorbei, auf ewig vorbei sein würde, wenn unsre Schiffe wieder abführen, wie ich dann wieder in den gezwungenen europäischen Circuln eingesperrt, von Sorgen, Leidenschaften, Vorurteilen und unnützen Bedürfnissen in einem Wirbel umhergetrieben werden würde, dann konnte ich mich wahrlich oft der Tränen nicht enthalten.

Meine Geliebte, deren Sprache ich in kurzer Zeit gelernt hatte (die Liebe ist eine herrliche Lehrmeisterin), lockte mir endlich mein Geheimnis ab, und ich bekannte es ihr, wie sehr mein Herz von dem Gedanken, sie bald zu verlieren, zerrissen würde. »Oh! wenn du sonst keinen Kummer hast«, rief sie da aus und umschlang mich mit ihren schönen Armen, »so sei ruhig! Nichts soll uns trennen. Ich folge dir durch die ganze Welt.« – »Armes Mädchen!« rief ich. »Nein! so unglücklich will ich dich und mich nicht machen. Du kennst diese glänzenden, geputzten Europäer noch nicht. Ich sollte dich aus dem Schoße deiner Eltern, aus diesen glücklichen, schönen Gefilden fortreißen, um deine Ruhe und Unschuld meinen verderbten Landesleuten preiszugeben? - Nimmermehr! Ach! könnte ich doch hier bei dir bleiben!« – »Und was hindert dich, das zu tun?« sagte sie – »Oh! bester, liebster Bricki!« (so nannte sie mich) – »Oh! bleibe hier!« – Sie bat und flehete so dringend, führte mich zu ihrem Vater, der ein guter alter Mann war und seine Bitten mit den ihrigen vereinigte – kurz, ich gab nach, verschwieg meinen Entschluß vor unsern Leuten und ging in der letzten Nacht vor Abfahrt der Schiffe in das Haus des alten Vaters, der mir seinen ältesten Sohn mitgab, welcher nebst meiner Geliebten mich tief in das Land hineinführte, dort in einem Walde versteckte – und so war ich denn nun ein Einwohner von Tahiti, im Besitz eines lieben Weibes, vergaß Vaterland und Landesleute; dem Kapitän Cook aber schickte ich durch einen Wilden einen Brief, darin ich ihm meinen Entschluß meldete und ihn bat, sich die verlorne Mühe zu ersparen, mich aufzusuchen. Ich dankte ihm für seine mir bezeigte Güte und ließ den größten Teil meiner elenden Habseligkeiten auf dem Schiffe.

Nie habe ich lebhafter empfunden als damals, welches Elend wir uns selbst, durch Vervielfältigung unsrer Bedürfnisse, aufladen. Glücklich in dem Besitze eines lieben Weibes, an ihrer Seite, unter dem Schatten eines Baums ruhend, dessen wohlschmeckende Frucht mir zugleich die herrlichste und gesundeste Nahrung gab, in einer einfachen Hütte gegen die Launen des Wetters geschützt, bezaubert von dem schönen Anblicke der reichen, immer neuen, unterhaltenden Natur, gekleidet und bedeckt mit einem Stoffe, dessen Zubereitung mir sowohl gesunde Bewegung als Zeitvertreib verschaffte; ohnverfolgt von dem Neide, der Hinterlist und der Habsucht, ungekränkt von dem Stolze der feinen Europäer; da, wo kein wollüstiger Fürst meinem treuen Weibe nachstellen, kein dummer Tyrann meine gesunden Glieder an auswärtige Potentaten verkaufen noch mein Vieh aus dem Stalle holen konnte, um eine Arie trillern zu hören, eine Pastete zu fressen, einen Dieb mehr zu besolden, einen Hirsch mehr totzumartern oder ein rares unnützes Tier mehr in der Menagerie zu füttern – wer hätte nicht sagen sollen, daß man in diesem seligen Zustande Ewigkeiten lang vergnügt, ohne mehr zu wünschen noch zu fürchten, fortleben könnte? – Aber die Mängel einer unzweckmäßigen Erziehung drückten mich auch hier. Sobald der erste Reiz der Neuheit (leider! das einzige, womit man den verwöhnten Kunstmenschen fesseln kann) vorüber war, da fing ich an, mehr zu wünschen. Bald erzählte ich meinem Weibe von europäischen Künsten und Wissenschaften, damit ich Gelegenheit haben möchte, durch ihre Fragen und Gespräche wieder an jene glänzende Armseligkeiten erinnert zu werden; dann wollte ich mich bemühen, sie unsre rauhen, unbiegsamen Sprachen reden und schreiben zu lehren; ein andermal schnitt ich mir eine Flöte aus Schilf und begleitete den einfachen Herzensgesang der Natur mit meinen erkünstelten Tönen; ich wünschte mir Bücher und hatte doch das große Buch des Schöpfers, das man nie auswendig lernt, vor mir; ich war nicht gewöhnt, wenn ich aß, meinen Hunger, sondern meinen Appetit zu fragen, aß mehr, trank mehr, als ich nötig gehabt hätte; dann war mir die Speise zuwider geworden, und ich suchte Abwechselung; oder ich empfand Kopfschmerzen und wünschte mir, aus der Apotheke ein schmerzstillendes Gift holen zu können; meine Schnupftabaksdose war leer, ich suchte Kräuter, die mir das Gehirn kitzeln und mich betäuben könnten; ich legte künstliche, nach der Schnur gezogene Gärten an, da, wo der Schöpfer Mannigfaltigkeit verordnet hatte, und pflanzte auf einem Fleck zusammen, was die Natur in so herrlicher Schattierung verteilt; dann hätte ich gern die Eingeweide der mütterlichen Erde durchwühlen und das unglückliche Metall herausholen mögen; auch fing ich an, die Jugend zu kultivieren; sie mußten die Füße auswärts setzen, welche Gott gradehin hat wachsen lassen, und wenn sie die Heiterkeit ihres frohen Herzens in ungezwungenen Sprüngen entfalten wollten, so lehrte ich sie, nach einer schalen Weise, in der Figur von gotischen Zahlen, von Schneckenlinien und Ketten sich gleichförmig durcheinander hindurchzwängen – ja, soll ich es bekennen? Wenn dann mein Geblüt erhitzt war und ich sah, mit welcher natürlichen Grazie ein junges blühendes Mädchen dahinhüpfte, dann erwachten strafbare Begierden in meiner Seele – Pfui! sagte ich zu mir selbst, schändlicher Europäer! Wie wenig verdienst du, unter unverderbten Menschen zu leben, und doch bist du keiner der Schlechtesten unter deinen Landesleuten.

Auf diese Art nagte das Gefühl meiner eigenen Unwürdigkeit, die unruhige Tätigkeit und das gewöhnte Verlangen nach immerwährendem Wechsel (welch ein Widerspruch!) an meinem Gemüte. Mein Weib sah es, sie war im fünften Monate schwanger, und härmte sich darüber, daß ich nicht mehr so heiter als ehemals aussah.

Eines Morgens, nachdem ich ohngefähr dreiundzwanzig Wochen in Tahiti gelebt hatte, ergriff mich auf einmal ein verzweifelter Gedanke. Ich saß einsam am Ufer des unruhigen Meers und machte mir selbst Vorwürfe, daß ich im Begriff wäre, ein ruhiges Völkchen durch meine armselige Kultur um Glück und Frieden zu bringen. – »Flieh, weil es noch Zeit ist, und sollte dir's das Leben kosten!« rief ich aus und sprang plötzlich auf. – Es stand ein Nachen, ein kleiner unsichrer Nachen am Strande; ich schwung mich hinein. – Wohin willst du, Elender? Du wirst den Tod in den Wellen finden – Bleib – Was wird dein treues Weib sagen? Es war zu spät; eine Welle hob das leichte Fahrzeug und trieb mich schnell vom Lande weg. Außer einem kleinen Ruder und einigen Nahrungsmitteln, welche von ohngefähr in dem Nachen lagen, fand ich nichts darin. Ich mußte der Gewalt des starken Elements weichen und erwartete ruhig, wohin ich verschlagen werden könnte.

Umsonst würde ich es versuchen, euch die Gemütsverfassung zu schildern, in der ich drei Tage hindurch zubrachte, während welchen ich so schnell fortgetrieben wurde, daß ich zuweilen in Ströme geriet, welche mich geschwinder als ein Pfeil fortschossen. Der Nachen war federleicht; es gelung mir, mit meinem alten Hute das einschlagende Wasser auszuschöpfen. – Die Hand der Vorsehung erhielt mein Leben, um mich größere Erfahrungen machen und dann hier in meinem Vaterlande auf dem Bette meinen Geist aufgeben zu lassen.

Nachdem gegen den vierten Tag meine Nahrungsmittel beinahe aufgezehrt waren und ich schon den nahen Tod vor Augen zu sehen glaubte, stieß ich grade auf die große Eisfläche, durch welche Cooks Schiffe nicht kommen konnten. Schon war ich im Begriff, mich aus Verzweiflung in die See zu stürzen, als ein reißender Strom, mitten durch die ungeheuren Eisschollen hindurch, mir einen Weg bahnte. Mein kleines Fahrzeug wurde mit ungeheurer Schnelligkeit auf diesem schmalen Kanal fortgetrieben, und – o überschwengliches Wunder! – nach acht Stunden kam ich, durch alle diese Berge von Eis hindurch, in ein stilles Meer, das, je näher ich dem Südpol rückte, um desto wärmer und lieblicher schien.

Nun wurde mein Herz von einer nie zuvor gefühlten Wonne durchströmt. Ich bekam Mut, Hoffnung, das unter dem Pol liegende Land zu erreichen, und diese Hoffnung trog mich nicht. Nachdem ich mein Ruder ergriffen und, soviel die durch Freudigkeit gestärkten Kräfte erlaubten, gearbeitet hatte, sahe ich gegen Abend das flache Ufer eines schönen Landes voll herrlicher Gewächse und Bäume vor mir hingebreitet. Ich verdoppelte meine Mühe, kam glücklich hin, stieg an das Land, warf mich auf die mütterliche Erde nieder und dankte mit heißen Tränen meinem Schöpfer und Erretter.

Ich weiß wohl, meine wertesten Freunde, daß es euch unglaublich vorkommen wird, wenn ich euch erzähle, daß grade unter dem Pole ein so liebliches Klima herrscht, da es, nach der gemeinen Meinung, nirgends kälter sein müßte als da. Allein ich ersuche euch, gewöhnt euch, an keinem Dinge zu zweifeln, das ihr nicht gesehen habt, und da ich gewiß der einzige Europäer bin, der bis dahin gedrungen ist, so glaubt mir vorerst – es ist ein Glauben, der auf eure Sittlichkeit keinen Einfluß hat.

Epikur behauptete, man könne nicht beweisen, daß die Sonne größer sei, als sie unsern Augen schiene. Alte und neue Persifleurs fanden diesen Satz sehr dumm; ich finde ihn nicht also. Wer weiß denn, ob dieselben Regeln der Meßkunst, die unsern groben Sinnen einen Körper in dieser oder jener Größe darstellen und ihn anders darstellen würden, wenn wir anders organisierte Sinne hätten, wer weiß, ob diese uns so heilig wahr scheinende mathematischen Gesetze in andern Regionen anwendbar sind? Wer weiß, ob dort nicht ein Körper größer scheint, je weiter er entfernt ist? Ihr seht in einiger Entfernung einen Baum stehen. Ihr nennt das Entfernung und, was dazwischen ist, Raum, weil eure zwei groben Sinne, Gesicht und Gefühl, nicht eher anstoßen, sondern den Zwischenraum für Luft halten, bis zu diesem Baume. Aber wer sagt euch, daß, wenn ihr feinere Sinne hättet, ihr nicht alles voll von Körpern und zwischen euch und einem Baume eine solche Kette von materiellen Wesen finden würdet, daß ihr den Baum und euch selbst nicht als zwei abgesonderte Stücke, sondern als ein zusammenhängendes Wesen ansehn müsset? Wenn nun soviel Unsicherheit in der Erkenntnis der Dinge hier unten ist, mit welcher Gewißheit wollt ihr von den fernen Wesen dort oben reden? Also gehet gnädig um mit Geistersehern und spekulativen Köpfen! Bauet nicht eure Glückseligkeit auf Dinge, die außer eurer sinnlichen Empfänglichkeit sind, aber disputiert nicht weg, was ihr nicht sehet oder fühlet.C'est une singuliere tête que ce Monsieur Brick! Doch verdient, was er hier sagt, einige Aufmerksamkeit. Nach seinem System wäre aller Begriff von Größe, Form, Gestalt, Farbe, Entfernung usf. Täuschung. Die mathematischen Wahrheiten wären also, gegen die gemeine Meinung, von allen die unsichersten, die moralischen Gesetze hingegen unwandelbar, teils weil sie die Harmonie des ganzen Sichtbaren und Unsichtbaren befördern, teils weil das, was wir tun sollen, sich nur nach demjenigen bestimmen läßt, was wir kennen. Es könnten also eine Menge Dinge theoretisch wahr sein, ohne daß wir sie einsähen; und umgekehrt aber praktisch wahr für uns könne nur das sein, was für uns theoretisch begreiflich wäre. Ein weiser Mann sei also derjenige, der nichts fest behauptete, als was er klar einsähe, dennoch aber an nichts zweifelte, was er nicht einsähe, und der in seinen Handlungen nur nach dem Maßstabe seiner Erkenntnis konsequent handelte; einen Schwärmer und Toren müßte man denjenigen nennen, der seine Handlungen nach möglichen Wahrheiten, die er nicht einsähe bestimmte, einen Bösewicht aber nur den, welcher wider seine Einsicht handelte.

Peter Clausens Anmerkung

Doch ich entferne mich von meinem Zwecke. Genug! unter dem Pole hören die Gesetze der Natur, wie sie in den übrigen Erdgürteln herrschen, auf, und sobald man durch die Eisburg, welche diesen Pol von den andern Weltteilen absondert, hindurch ist, ruht ewiger Frühling, unbeschreiblich sanftes Klima auf den glücklichen Gefilden, die ich euch beschreiben will. Vermutlich wird es unter dem Nordpol ebenso sein.

So ungewiß es auch war, welches mein Schicksal sein, ob ich hier lebendige Wesen antreffen, ja, ob ich je wieder Geschöpfe meiner Art erblicken oder nicht vielleicht einsam eines traurigen Todes sterben würde, von keinem Freunde, der mir die Augen zudrücken könnte, mit einem Labetrunke erquickt, ohne Trost, ohne Pflege, ohne Schmerzenslinderung, so fiel mir doch ein solcher Gedanke gar nicht ein. Nur das einzige Gefühl, mich von den Gefahren der See errettet und Gottes schönen Erdboden, die herrlichsten, reichsten Gefilde vor mir ausgebreitet zu sehen, erfüllte meine Seele mit überströmender Wonne. Ich bemerkte keine Spur von Fleiß und Arbeit der Einwohner, kein Fahrzeug am weiten Ufer hinunter, keine Pflanzungen, keine Hütten, aber doch war ringsumher das ganze Land, soweit ich sehen konnte, mit den schönsten Bäumen und Gewächsen bedeckt. Allein alle diese Erdprodukte waren mir ihrer Gestalt nach völlig fremd, ja, ich erinnerte mich nicht einmal, in Tahiti einige derselben gesehen zu haben.

Nachdem ich eine Stunde lang freudetrunken diesen schönen Anblick genossen hatte, fing nagender Hunger an, sich bei mir zu melden. Schöne Früchte, von denen die Bäume voll hingen, schienen mich einzuladen, Erquickung bei ihnen zu suchen; ich brach einige ab – und ach, welch ein Geschmack! Ich fühlte neues Leben durch mein Wesen hingegossen. Eine Quelle, hell, lieblich und von Geschmack so süß, reichte mir den Trunk dar. Vögel aller Art und kleine, freundliche vierfüßige Tiere hüpften um mich herum und schienen mich gar nicht zu scheuen, sondern mich vielmehr als ihren ältern Bruder und Beschützer zu betrachten. Ein kleines Tier, das viel Ähnlichkeit mit unserm Eichhörnchen hatte, kratzte mit seinem Pfötchen in der Erde und brachte endlich einige Wurzeln hervor, die es begierig verschlang. Mich wandelte die Lust an, diese Wurzeln auch zu versuchen; ich zog einige heraus und fand sie wohlschmeckend und sättigend. Nachdem ich nun also eine gar erquickende Mahlzeit gehalten hatte, ergriff der Schlaf meine müden Glieder. Eine grüne Aue, voll schöner duftenden Kräuter, war mein Lager. Ich schlief ein und erwachte erst, nachdem ich vielleicht zwölf Stunden lang geschlafen haben mochte.

Sobald ich die Augen öffnete, sah ich mit Verwunderung zwei menschliche Geschöpfe neben mir stehen, die mich aufmerksam betrachteten und wahrscheinlich schon lange, während meines Schlafs, mich beobachtet hatten. Es war ein Mann und ein Weib, meiner Beurteilung nach die höchsten Ideale von Schönheit, weiß von Haut, geschmückt mit langen gelben Haaren; schöne schlanke Glieder, die kein unnatürliches Gewand bedeckte, denn sie waren, bis auf einen Schurz noch, gänzlich bloß; Gestalt und Blicke voll Milde, Hoheit und Güte, von keiner ängstlichen noch sträflichen Leidenschaft verzerrt, durch keine Kränklichkeit erschlafft – das strahlende Ebenbild des großen Schöpfers glänzend auf der heitern Stirne.

Gern bekenne ich es, ich konnte den Anblick so vieler edler Größe kaum ertragen; ich raffte mich von meinem Lager auf und verneigte mich vor ihnen, indem ich zugleich ein Zeichen machte, welches soviel ausdrücken sollte, als daß ich sie um Schutz und Schonung bäte, daß ich unglücklich und ohne meinen Willen vom Meere hierhergetrieben sei. Der junge Mann verstand mich, reichte mir die Hand und führte mich nebst seiner Frau leutselig mit sich fort. Unterwegens sprachen beide viel miteinander. Ich verstand wenig davon, doch hörte ich zu meiner größten Befremdung, daß es eine Art von hebräischer Mundart war. Ich hatte, wie ich noch als Sachwalter viel Prozesse für Juden führte, einige Unterweisung in dieser Sprache genommen, um Handlungsbücher und andre jüdische Dokumente verstehen zu können, aber freilich war mir teils viel davon wieder aus dem Gedächtnis gekommen, teils schien mir das, was diese Wilden redeten, eine viel reichere Sprache zu sein als das gewöhnliche Hebräische, so wie wir es itzt aus den Büchern des Alten Testaments lernen. – Doch wie kann ich diese sanften, einfachen Naturmenschen Wilde nennen? Zehnmal richtiger verdienten wir verderbten, verwilderten Europäer den Namen.

Meine Führer betrachteten meinen Anzug, der halb europäisch, halb tahitisch war, mit Mitleiden. Sie zeigten mit Fingern auf die vielfachen unnötigen Stücke, aus denen er zusammengesetzt war, und überhaupt schienen sie mehr Bedauern als Verwunderung zu empfinden, sooft sie ihre Augen auf mich hefteten. – Nie ist mein europäischer Stolz so sehr gedemütigt worden als hier, da ich bemerkte, wie geringe die Achtung war, mit welcher diese ungezierten Geschöpfe auf ein Männlein herabblickten, das zu einer Nation gehört, die sich rühmt, die Herrschaft des Erdbodens zu Wasser und zu Lande zu besitzen und alle übrigen Völker zu kultivieren, wenn sie sich die Freiheit nehmen darf, in bretternen Kasten sich von Wind und Wasser umhertreiben zu lassen, dann auf fremden Küsten einen Rosenkranz zu beten oder eine Fahne mit einem Wappen aufzupflanzen, das dort niemand kennt, und unschuldige Geschöpfe ungestraft zu morden, wenn sie uns nicht erlauben wollen, was die Erde für alle trägt, allein uns Einwohnern eines kleinen unbeträchtlichen Erdfleckchens zuzueignen oder wenn sie nicht als unentbehrlich zu ihrer zeitlichen und ewigen Glückseligkeit ansehn wollen, was ein paar schiefe Köpfe erfunden und dann der übrigen Welt zu glauben aufgedrungen haben.

Wir kamen bald in ein reizendes Tal, in welchem weit umher eine Menge Hütten zerstreuet lagen – ein herrlicher lachender Anblick! Die Hütten waren äußerst einfach gebauet – doch was sage ich, gebauet? –, gepflanzt, von den schönsten blütevollen Bäumen, deren Zweige dicht ineinander geflochten und verwachsen waren. Vor den Eingängen dieser Hütten saßen alte Leute und erquickten sich an dem Anblicke der schönen Natur und an der Freude ihrer Kinder und Enkel, deren einige fröhlich herumsprangen und sich mit allerlei körperlichen Übungen ergötzten, indes kleinere Knaben und Mädchen im bunten Grase spielten – Gesundheit, Freude und Unschuld auf den Gesichtern aller, mit Gottes Finger lesbar gezeichnet.

So wie wir nach und nach vor einigen Hütten vorbeigingen, kamen die Kinder herangesprungen, zupften mich verwundrungsvoll, nicht unbescheiden, an den Kleidern, sahen sich dann einander mit einer Art von Besorgnis an und machten Zeichen, als wenn sie mich für einen kranken, halbtoten Menschen hielten. Die Älteren aber redeten mit meinen Begleitern und kehrten dann, ohne übermäßige Neugier zu zeigen, zu ihren Spielen und Arbeiten zurück. Aber diese Arbeiten waren nicht saure Anstrengungen, im Schweiß des Angesichts unnütze Bedürfnisse zu schaffen – nein! einer bereitete seinem alten Vater ein kleines Mahl aus Früchten, die er von den reichen Bäumen abpflückte und, ohne den besten Saft am Feuer auszutrocknen, auf großen Blättern frisch dem Greise, der ihm dankbar entgegenlächelte, hinreichte. Ein andrer bauete an seiner kleinen Wohnung, ein dritter flochte sich einen Schurz.

Endlich näherten wir uns einer Hütte, an deren Eingang ein alter ehrwürdiger Greis mit seinem Weibe saß. Es waren die Eltern meines Führers und seiner Gattin. Freundlich nahm mich der Hausvater auf, und indes die jungen Leute ihm erzählten, auf welche Art sie zu meiner Gesellschaft gekommen wären, brachten mir die jüngern Kinder Obst, Wurzeln und, in großen Schalen von Nüssen, den ausgepreßten Saft einer Frucht, den köstlichsten, erquickendsten Trank, den ich jemals genossen habe.

Ich werde euch nicht damit aufhalten, hier ein ordentliches Tagebuch von der obgleich kurzen Zeit fortzuführen, welche ich in diesen seligen Gefilden des Friedens zubrachte. Nur im allgemeinen will ich euch sagen, was ich dort gesehen und erfahren habe.

Es wird selten Nacht daselbst, und da ich mich nie recht in der dortigen Zeitrechnung habe finden können, so kann ich nicht zuverlässig bestimmen, wie lange ich mich hier aufgehalten habe, aber so viel ist gewiß, daß es kein voller Monat gewesen ist. Und hierüber werdet ihr euch nicht wundern, wenn ich fortfahre, euch zu erzählen, wie sehr die dortige Lebensart gegen die unsrige absticht.

Es gelung mir in kurzer Zeit, mit Hülfe der geringen hebräischen Sprachkenntnis, die ich hatte, und ihrer natürlichen, über die Vorstellung einförmigen, laut redenden Pantomime fast alles zu verstehen, was mir die Einwohner von ihrer Geschichte, Sitte und Einrichtung erzählten. Ob diese Geschichte und Mythologie wahrhaft und echt oder nur, wie die mündlichen Überlieferungen mancher Völker, fromme Fabel gewesen, darüber gebührt mir nicht zu urteilen; ich kann nur erzählen, was ich gehört habe.

Sie glaubten nämlich, ihrer Tradition nach (denn von Schreibekunst sahe ich auch nicht eine Spur bei ihnen), unmittelbar von einem Sohne Adams abzustammen, der, als Verderbnis und Sünde unter den übrigen Kindern einriß, mit seiner Schwester, die sein Weib war, von einem Engel geleitet, zu Lande hierherflüchtete. Wie das möglich gewesen, überlasse ich den klugen Naturkündigern auszuforschen, und ob etwa damals ein Teil des Meers Erde gewesen, nachher aber durch die Sündflut überschwemmt worden oder auf welche andre Art der Sohn Adams hierhergekommen. Genug, er gründete eine Kolonie unverderbter Menschen, welche von der großen Überschwemmung verschont blieben, das patriarchalische Regiment, Reinigkeit der Sitten und den wahren Gottesdienst behielten, also sich der traurigen Verkündigung entzogen, die Gott auf den übrigen Teil des menschlichen Geschlechts, der Sünden wegen, legen mußte. Jeder Hausvater blieb König in seiner Familie und Priester vor Gott, dem sich nur der von Verderbnis und Laster freie Mensch, welcher das heilige Ebenbild nicht entweihet hat, nähern darf. Zwar hatten sie die Unsterblichkeit verloren, aber doch nie Krankheit noch Gebrechen gelitten. Ein sanfter Schlaf nahm jeden zu einer bessern Sphäre Vorbereiteten nach einer langen Reihe glücklich und sorgenlos verlebter Jahre aus der sichtbaren Welt hinweg. Indes war auf dieser Erde Studium und Anschauen der schönen Natur und Verfeinerung, Hinaufschwingen des geistigen Teils zu höhern Wesen, Umgang und Gemeinschaft mit diesen die selige Beschäftigung der von allen übrigen Sorgen und Bedürfnissen freien Menschen. Welchen reichen, mannigfaltigen Genuß diese höhere Glückseligkeit, keinem Wechsel und keinem Ekel unterworfen, ihnen gewähren mußte, davon können freilich wir, mit unsern gröbern Sinnen, keinen Begriff haben. Aber ich sah es und fühlte es, was ich nie wiedererzählen kann, auf welcher Stufe von Erhabenheit diese Geschöpfe Gottes über mir standen, wie ihr Geist in die Zukunft hineinschauete und tiefe Blicke in mein innerstes verderbtes Wesen tat, wie der Allgegenwärtige unmittelbar in und um ihnen war – Allein ich schweige – unwürdig – mißmütig – zu sein, was und wie ich bin –

Die einfache Kost von den Früchten der reichen Erde, welche keines künstlichen Salzes bedurfte, um fruchtbar zu werden, erhielt den gesunden, mit aller Schnellkraft und Stärke ausgerüsteten Körper (das Meisterstück des höchsten Baumeisters) stets unzerrüttet. Sie aßen nie von dem Fleische ihrer Mitgeschöpfe. Ein kurzer, ruhiger Schlaf war hinreichend, den Gliedern neue Geschmeidigkeit zu geben, ein gelinder Regen und der süße Tau des schaffenden Himmels erhielt die wohltätige, von keiner dürren Hitze getrennte noch von herbem Froste verschlossene Erde stets bereit, aus ihrer Fülle ihren Kindern gesunde Säfte darzureichen. – Welch ein Leben! – Keine Krankheiten – kein Eigentum – kein Luxus – keine Leidenschaften – keine Fürsten – keine Pfaffen!

Der Trieb der Fortpflanzung wurde nicht durch reizbare, widernatürliche Speisen gekitzelt, und der mäßige Ruf der Natur ließ, wenn er befriedigt war, keine mißklingende matte Stimmung zurück.

Also hatte der Patriarch das Glück, seine Nachkommen bis in das vierte Glied um sich her sich ihrer Existenz freuen und ihren Schöpfer preisen zu sehen, den sie in harmonischen Gesängen, welche meinen Ohren so lieblich als ein Sphärenklang vorkamen, erhoben.

Dieser glückliche Zustand aber würde nicht lange gedauert haben, wenn nicht der Allgewaltige, nach der Sündflut, das Gleichgewicht der Erde verändert und um dieses geweihete Paradies eine Burg von Eis gelegt hätte, welche seine frommen Kinder von einer andern Insel, welche ich, leider! bald nachher auch sehen mußte, getrennt hätte.

Sie bedurften der geschriebenen Offenbarung nicht, doch wußten sie, was Gott für den übrigen, tiefer gefallnen Teil der Menschen getan hatte, und sie, die sich näher der größern Erlösung fühlten, nahmen innigen, liebevollen Anteil an dem Schicksal der Brüder, welche weiter vom Ziele waren.

Für mich war kein Bleibens hier in diesen seligen Wohnungen. Die Höhe zu erreichen, auf welcher jene edlere Wesen standen, dazu fühlte ich mich bald zu schwach. Von Jugend an im Verderbnisse aufgewachsen, von einem Heere unruhiger Leidenschaften bestürmt – wie hätte ich da je den göttlichen Frieden finden können, wozu Körper, Seele und Geist in vollkommnen Einklange stimmen müssen? An einem schönen heitern Abende rief mich ein alter Greis zu sich vor die Tür seiner Hütte, ergriff mich väterlich bei der Hand und sprach, teils in Worten, teils durch Zeichen, also zu mir: »Armer Fremdling! Ich sehe es, du trauerst, weil du nicht ganz bist, wie wir sind. Allein verzage nicht, guter Mensch! Einst in einer andern Welt wirst auch du zu einer größern Stufe von Vollkommenheit gelangen, wenn du hier deine Bestimmung treu und fleißig erfüllst. In unsern Gefilden aber darfst du nicht länger bleiben. So will es der weise Schöpfer, daß du noch andre ferne Länder sehest und endlich in deinem Vaterlande deine irdische Hülle ablegest, daß deine Gebeine gesammlet werden zu den Gebeinen derer, die du kanntest und die von deinem Stamme und Geschlechte sind. Genieße von dieser Frucht, und du wirst in einen Schlummer fallen, und wenn du erwachst, dann werden deine Augen mehr sehen, als du erwartest.«

Der ehrwürdige Mann gab mir eine rötliche Traube, die ich auf sein Geheiß verzehrte, und kaum hatte ich die letzte Beere genossen, als ein unwiderstehlicher Schlaf mich ergriff.

– Wie ich endlich aufwachte –

Wie ich endlich aufwachte, befand ich mich an eben dem Orte, wo ich zuerst aus meinem Nachen gestiegen war, und zwar so hungrig als möglich. Jetzt schien mir alles, was ich gesehen und gehört hatte, ein Traum zu sein. Sollte es, dachte ich, möglich sein, daß ich, aus Ermattung und Müdigkeit, in einen so heftigen Schlaf verfallen wäre, daß die beiden Personen, von denen es mir vorkam, als wenn sie bei meinem Erwachen vor mir gestanden hätten, mir nur der geschäftigen Phantasie nach erschienen wären und daß Morpheus mir den häßlichen Streich gespielt hätte, das ganze Bild eines unschuldigen Volks nur im Schlafe vor meine Augen zu stellen? – Wer wird es wagen, meine Freunde, zu entscheiden, ob es würklich also gewesen ist oder nicht? Ihr wißt, wie wenig Gewißheit in unsern Vorstellungen, selbst bei offnen Augen, im Sinnlichen und Intellektuellen herrscht. Und wie soll man es anfangen, andre zu überzeugen, daß das würklich existiere, was wir gesehn zu haben vorgeben, da ihr täglich wahrnehmen könnt, wie die klügsten Menschen sich einander Dinge abstreiten, die viele von ihnen genau bemerkt und geprüft zu haben vorgeben? Sieht der, dessen Augen weit in die Ferne tragen, nicht würklich Dinge, welche für den Blödsichtigen gar nicht existieren? Sieht der Mann mit dem Fernrohre nicht noch eine andre Welt? Soll hier die Übereinkunft mehrerer entscheiden? Ja, dann muß das Heer der Geisterseher und Geisterglauber gegen die Armee derer, die dergleichen leugnen, entscheiden. Soll das Urteil der Scharfsichtigern das Übergewicht geben? Wer wird sich dann nicht dafür halten wollen? Genug! ich glaube noch immer, das alles erlebt zu haben, und wer es nicht mit mir glauben will, der reise selbst hin, auf Gefahr gleichfalls, wenn er zurückkömmt, für einen Windbeutel gehalten zu werden. Mir wäre es wahrlich fast lieber, wenn es nur ein Traum gewesen wäre; denn einen so seligen Wohnort gefunden zu haben und ihn gleich wieder verlassen zu müssen – das ist keine angenehme Sache! Höret indessen weiter!

Ich befand mich auf demselben Platze wieder, auf der Erde liegend und vor Hunger schmachtend. Sobald ich mich aber von meinem Lager erhoben hatte, um die Gegend umher zu durchschauen, sahe ich, zu meinem größten Erstaunen, daß das Land nicht, wie es mir vorher geschienen, unbebauet, sondern, von allen Seiten her weit hinaus, an Flüssen, Bergen, Wäldern und Tälern eine Aussicht voll großer Städte und Dörfer in Menge darstellte: – wie, in aller Welt, kömmt denn das? Sollte man doch meinen, ich sei an der Küste von Europa! Aber was geht es mich an? Frisch darauflos gegangen! – Mein Hunger trieb mich ohnehin, Nahrung zu suchen. Ich schlich etwa hundert Schritte fort, als ich an einen umzäunten Garten kam, der voll von Obstbäumen stand. Nun konnte ich der Begierde nicht widerstehen, etwas davon zu genießen, um der Stimme meines bellenden Magens zu gehorchen; ich stieg also über den Zaun und brach einen großen Apfel ab, in welchen ich begierig hineinbiß. Aber kaum hatte ich das getan, als hinter mir eine fürchterliche Stimme erscholl. »He! Du verwünschter Dieb!« rief es in der gewöhnlichen Sprache der südlichen Inselbewohner, »dich soll ja die böse Krankheit befallen, du Himmelhund, du! Was machst du in meinem Garten?« Ich sah mich schnell um; da stand hinter mir ein Mann, vom Kopfe bis zu den Füßen bekleidet, und das auf eine so unnatürliche Art, daß ich mich zum höchsten darüber verwunderte; denn sein Anzug bestand nicht nur aus unzähligen kleinen Stücken, so daß fast jedes Glied des Körpers mit einem einzelnen Fetzen bedeckt war, welches besonders angeheftet werden mußte, sondern das Ganze machte auch ein so widriges Ansehn, daß dadurch alle Schönheit des Körpers, alle Form, aller Wuchs verunstaltet wurde. »Lieber Mann!« sagte ich, »verzeihet mir! Ich habe in so langer Zeit nichts gegessen. Nagender Hunger trieb mich, in Euer Eigentum zu greifen. Zudem bin ich fremd hier, wußte nicht, wem dieser Fleck gehörte, da ich gewöhnt bin, unter Menschen zu leben, die, was Gott wachsen läßt, als ein gemeinschaftliches Gut seiner Kreaturen ansehn.«

Der Mann: Ja, da hat sich was zu gemeinschaftlich! Wir müssen schwere Abgaben entrichten. Wovon wollte sonst unser Erif (so nennen die Einwohner ihre Fürsten) die raren ausländischen Tiere füttern, die er weither kommen läßt, um damit zu spielen und sie tanzen zu lassen?

Ich: Ist das möglich? Und desfalls müßt ihr alle vielleicht darben, arbeiten, schwitzen und einem hungrigen Fremden einen Bissen zur Labung versagen, damit euer Erif in seinem kindischen Vergnügen nicht gestört werde?

Der Mann: Nun gemach, Herr Fremder! Diesmal halte ich's Euch zugute; aber redet ein andermal mit mehr Ehrerbietung von unserm gnädigen Herrn! Was hilft auch das alles? Es ist wohl wahr, ein Knabe ist ein Knabe, und unser Herr ist erst zehn Jahr alt – aber kommt nur mit herein, wenn Ihr würklich in langer Zeit nichts genossen habt! Es wird sich ja noch wohl etwas finden, um Euch zu erquicken.

Wir gingen zusammen in seine Hütte, wo es nun in der Tat armselig genug aussah. Schlechter Hausrat, ein Weib mit sechs Kindern, in zerrissenen Lumpen gekleidet; in der Ecke ein Lager für sie alle von dürrem Laube.

Der Mann: Wundert Euch nicht, daß es hier so kümmerlich aussieht! Wir waren auch einmal in bessern Umständen, aber die Menge der Auflagen, die wir bezahlen müssen, hat gemacht, daß wir ein Stück Hausrat nach dem andern haben für herrschaftliche Abgaben hingeben müssen.Ich bediene mich hier und in der Folge der europäischen Terminologie und werde, um verständlich zu sein, die Namen Fürsten, Minister, Beamte usf. brauchen. Hier habt Ihr ein Stück von unserm gewöhnlichen Nahrungsmittel. (Es war ein Teig, aus kleingeriebenen Körnern eines Staudengewächses mit Wasser zusammengeknetet und dann in einem Ofen gedörrt.) Esset, soviel Euch schmeckt! Die Götter werden es uns ersetzen. Ihr glaubt doch an die Götter?

Ich: An einen wenigstens! Wie könnt Ihr das fragen?

Der Mann: Ja, ich meinte nur so. In der Stadt glaubt kein Mensch mehr daran, und deswegen werden wir auch so gedrückt, denn wenn die Leute dort bedächten, daß die Götter die Bosheit bestrafen, so würden sie nicht so grausam mit uns umgehn. Sehet nur an! Diesen Teig, den Ihr da genießt, habe ich selbst gemacht, denn ich ziehe die Körner dazu auf meinem eigenen Acker, aber von jedem Gefäß voll, das ich abpflücke, muß ich einen kleinen Stein Abgabe entrichten.Eine gewisse Art seltener Steine, die tief in der Erde lagern und welche die Sklaven, mit Gefahr ihres Lebens, aus den Gruben herausholen mußten, vertraten die Stelle des Geldes. Wenn aber ein Untertan dergleichen fand, mußte er sie abliefern, denn alle gefundene und nicht gefundene Steine gehörten dem Fürsten, obgleich er selbst keinen einzigen suchte und mancher Sklave, welcher die Gruben durchwühlte, darin umkam.

Ich: Aber wie in aller Welt könnt ihr das leiden? Ihr sagtet vorher, euer Herr sei ein Knabe. Es ist ja aber wider die Natur, daß man einem Kinde gehorche und daß soviel tausend Menschen sich quälen, um einem Jungen sein närrisches Spielwerk zu bezahlen. Gebt doch dem Lümmel die Rute und wählt euch einen alten verständigen Mann zum Oberhaupte.

Der Mann: Ach! das versteht Ihr nicht! Man sieht wohl, daß Ihr ein Fremdling seid. Sobald der alte Fürst tot ist, so ist der kleine Sohn gleich wieder Herr.

Ich: Oh! ich kenne das; aber es bleibt immer eine närrische Einrichtung. Wenn Ihr davon zufrieden seid, so kann ich es leiden; wenn aber die mehrsten darüber klagen, so muß der größere Teil aufheben dürfen, was sich nur durch seine Nachsicht hat einschleichen können. Welche Unvernunft, einem Kinde zu gehorchen, das vielleicht noch nicht reden kann!

Der Mann: Ei nun! reden kann der Unsrige schon, aber er regiert auch nicht eigentlich, sondern da ist die Mutter, ein Priester und der oberste Mundkoch. Diese drei machen alles, was sie gut dünkt, in des armen unmündigen Fürsten Namen; da müssen wir denn freilich immer Haar lassen, bezahlen, was wir nur aufbringen können, und das alles unter dem Vorwande, des Prinzen rare Tierchen zu ernähren, im Grunde aber lebt die alte Mutter mit ihrem Priester und obersten Koch davon.

Ich: Nun! da lobe ich mir doch mein liebes Vaterland. Das sind ja unerhörte Dinge, die Ihr mir da erzählt.

Der Mann: Oh! das ist noch nichts. Wenn Ihr weiter ins Land geht, da werdet Ihr noch ganz andre Sachen hören.

Ich: Behüte Gott! Lebt wohl! Seid herzlich gedankt für Eure Gastfreundschaft! Der Himmel vergelte es Euch! – Ich kann es nicht. – Wollt Ihr aber jetzt das Maß Eurer Wohltaten voll machen, so führt mich baldmöglichst über die Grenze!

Der Mann: Dazu braucht Ihr nicht weit zu gehn, und wenn Ihr recht schnell fortwandert, so könnt Ihr vor abends noch die Länder von vier Herrn durchreiset sein, die alle das Recht haben, Euch ungestraft den Kopf abschneiden zu lassen, wenn Ihr etwas redet, das ihnen nicht gefällt.

Ich: Schon gut! Also vier Länder? Da werde ich doch eines antreffen, worin glückliche Menschen leben – auf Wiedersehen, guter Freund!

Ich ging nun grade fort und war in wenig Augenblicken in einem fremden Lande. »Aber sagt mir doch«, rief ich einem Bauern zu, der traurig auf dem Felde stand, »sagt mir doch, mein Freund, warum sieht denn dies Feld so verwüstet, so leer aus? Habt ihr Krieg?« – »Ach nein!« erwiderte der Bauer, »das haben die großen wilden Mäuse in dieser Nacht getan.« – »Ist denn kein Mittel«, fragte ich, »diese auszurotten?« – »Beileibe nicht«, erwiderte er, »das ist des Fürsten größtes Vergnügen. Er läßt sie aus allen Gegenden hier zusammentreiben. Keiner von uns darf einer derselben Leid zufügen. Morgen aber wird eine große Jagd gehalten. Da kömmt der Fürst selbst. Ein schöner und freundlicher Herr! Und dann müssen eine Menge Sklaven auf unsern Feldern hinter den Mäusen herlaufen, um einige zu fangen. Wer drei fängt, der ist frei; wer aber diese Zahl nicht bringt, der muß so lange laufen, bis er tot dahinfällt. Da lacht denn der gute Herr so herzlich. Ihr könnt es gar nicht glauben.« – »So hol ihn der Henker mit seinem Lachen!« schrie ich. »Geschwind zeigt mir, wo ich am nächsten über die Grenze komme!« Er wies mich zurecht, und ich ging weiter.

Sobald ich in das benachbarte Land kam, sah ich auf der Grenze einen Mann stehen, welcher in der Hand Bogen und Pfeile hielt und mir mit fürchterlicher Stimme zurief: »He! halt! Wer bist du? Hülfe, Kameraden! Der Feind ist da! Tod, Verderben, Pestilenz! Gleich sage an, wer bist du?« – »Ich bin ein unschuldiger, wehrloser Reisender«, gab ich ihm zum Bescheide. – »Nun so gehe Er denn nur hin, mein Freund! Guten Tag!« Ich ging lächelnd fort. »Aber sage Er mir doch«, sprach ich und kehrte wieder um, »was macht Er denn da für einen höllischen Lärm? Ist denn der Feind hier im Lande?« – »Ei nicht doch«, antwortete der grimmige Bewaffnete, »Er sieht ja wohl, daß keine Sehne an meinem Bogen ist. Das geschieht nur so, um nicht aus der Übung zu kommen, wenn es einmal Krieg geben sollte. Der Fürst ist ein Liebhaber davon. Es tut ihm zwar kein Mensch nichts zuleide; aber das ist nun so seine Freude. Des Nachts springt er vom Lager auf und schreiet: ›Heda! Feinde! Mordbrenner! schießt und hauet alles tot!‹ Und so müssen wir's denn auch machen.« – »Und dafür werdet Ihr wohl gut bezahlt?« – »Soso! Einen Tag um den andern bekommen wir ein großes Stück Teig, davon müssen wir aber die Hälfte anwenden, kleine Kügelchen daraus zu kneten, womit wir uns des Morgens eine Stunde lang zum Zeitvertreibe werfen müssen. Versteht Er? das sollen Steine vorstellen, so einen kleinen Krieg; der Fürst macht es selbst mit. Den folgenden Tag hungern wir denn; dagegen aber haben wir an demselben auch nichts zu tun. Hätte Er wohl nicht Lust, auch so ein Mann zu werden, als ich bin?« – »Bewahre der Himmel, mein guter Mensch! Gott befohlen! Ist's noch weit bis in das Nachbarland?« – »Nein! gleich hier.« Als ich fortging, rief er noch einmal: »He, Kameraden, paßt auf! Der Feind! Tod! Verderben! Pestilenz!« – »Adieu, mein Freund!«

So sollte man doch meinen, sagte ich zu mir selbst, ich sei in ein Land voll von Narren geraten? Doch hier wird es vielleicht besser hergehn. Aber wer winselt denn da? Es war ein armes Weib, die jämmerlich klagte, man habe ihren einzigen Sohn aus ihren Armen gerissen, um ihn dem Fürsten zu schicken; dieser Sohn sei ihr süßer Trost gewesen, habe für sie und zwei unmündige Schwestern seit des Vaters, ihres Mannes, Tode so treulich gearbeitet, daß alle ihren Unterhalt davon gehabt hätten; jetzt müsse sie, mit ihren schwachen Händen, das Feld selbst bauen, da sie nicht in den Umständen sei, einen Sklaven anschaffen noch ernähren zu können. Dennoch dauerten die schweren Abgaben fort, welche auf die Felder verteilt wären, obgleich man sie des Mittels beraubt habe, das ihrige zu bauen. Ich fragte die Frau, wozu denn der Erif ihres Sohns so notwendig bedürfte. Sie wunderte sich, daß mir das unbekannt sein könnte. – Und wozu meinet ihr wohl, meine Freunde, daß er ihn gebraucht hätte? Es ist schwer zu raten; ich will es euch sagen: er hielt sich zwanzigtausend Leierspieler, die alle von einerlei Größe und Ansehn sein mußten. Da nun sein Ländchen klein war, so kostete es freilich Mühe, soviel ähnliche Leute zusammenzutreiben. Fremde hätte er in Menge bekommen können, aber die hätte er bezahlen müssen, statt daß diese umsonst leiern mußten. Nun sahe freilich in seiner Stadt alles lebhaft und prächtig aus, und die Gassen wimmelten von – Leierspielern. Aber desto ärmer und kläglicher war der Zustand auf dem Lande. Weiber mußten das Feld bauen, obendrein schwere Abgaben bezahlen; und wenn eine einen guten Bissen hatte, so entzog sie sich's lieber und trug ihn zu ihrem Sohne, Bruder oder Vetter in die Stadt, damit der arme Leierspieler nicht verhungerte. – Ja, da seht ihr, wie die Fürsten dort so ihre eigene Grillen haben! Bei uns in Europa ist es, gottlob! ganz anders. Indem nun also der Kern der nützlichsten Menschen mit Gewalt zu elendem Spielwerke abgerichtet wurde, fiel bei dem kleinen Völkchen aller Mut, aller Erwerb, aller Fleiß weg. Sie wurden nach und nach an das Elend gewöhnt und waren oft froh, wenn sie nur noch leiern konnten; denn wenn ein unglücklicher Zufall ihnen ihre Gesundheit raubte oder der Erif das Gesicht irgendeines seiner Leiermänner nicht mehr leiden konnte, so jagte er diesen fort und überließ ihm die Wahl, auf seine Gefahr zu stehlen oder zu verhungern. Ihr werdet mich fragen, ob denn dieser mächtige Leierbeschützer ein so großer Tonkünstler gewesen. Gar nicht, meine Freunde! Er verstand nichts von Musik, und niemand konnte begreifen, zu welchem Endzwecke er diese Leute um sich her dudeln ließ. Ihr könnt euch leicht vorstellen, daß auch in diesem Lande meines Bleibens nicht lange war. Ich ließ mich baldmöglichst hinausleiern; allein es ging mir sehr schlimm; denn obgleich die Regierung dafür sorgte, daß es nicht an armen Leuten, wohl aber an Mitteln fehlte, etwas durch Fleiß und Arbeit zu erwerben, so hatte sie doch zugleich die weise Einrichtung getroffen, daß gar keine Bettelleute geduldet wurden. Sobald sich ein Mensch blicken ließ, der andre um Hülfe ansprach, so wurde derselbe durch eine Wache von Ort zu Ort bis über die Grenze begleitet – gewiß eine herrliche Einrichtung, sich so viel Impunität zu verschaffen, daß, wenn man jemand den Geldbeutel gestohlen hat, er es nicht einmal wagen darf, sich die Rückgabe eines kleinen Teils zu erbitten! – Zum Glück war, wie ich schon gesagt habe, das Land nicht groß, denn sonst hätte man einen Menschen so lange spazierenführen können, bis er aus Hunger und Ermattung tot hingefallen wäre. Beinahe wäre es mir also gegangen. Ich hatte mich ein wenig zu heftig im Gehen angegriffen, so daß ich in einem Orte krank vor der Tür eines Hauses niedersank, in welchem ich Ruhe und Hülfe suchen wollte. Die Obrigkeit ließ mich sogleich auf ein Fahrzeug packen und, meines Bittens ohngeachtet, bis an das nächste Dorf bringen, woselbst man mich ebenso behandelte, und dies so fort, bis ich in eines andern Herrn Lande war, da man mich denn ganz sanft auf Gottes Erdboden im freien Felde hinlegte. Kraftlos und mißmutig lag ich hier eine Stunde, unfähig, mich bis zum nahe gelegenen Orte zu schleppen, als endlich ein freundlicher, ziemlich gut gekleideter alter Mann vorbeiging, mich daliegen sah, sich meiner erbarmte, mich fort und in seine Wohnung führte. Dieser redliche Mann verpflegte mich auf das beste, und in vierundzwanzig Stunden war ich wieder ziemlich bei Kräften.

Ich fing nun an, meinem Wohltäter herzlich für meine Errettung zu danken. Ohne ihn wäre ich das Opfer der guten Polizei des obersten Leierbeschützers geworden. Nun muß ich euch doch auch den Mann beschreiben, der mich so menschenfreundlich errettet hatte. Er war, was man bei uns Schulmeister nennt; er unterwies die Jugend auf dem Lande, und das tat er mit seltener Geschicklichkeit, Treue und Einfalt. Er lehrte die Kinder früh ihre Pflichten kennen und die Beruhigung lebhaft empfinden, welche man hat, wenn man recht und gut und edel handelt. Zugleich gewöhnte er sie an Fleiß und Genügsamkeit und bildete auf diese Art den wichtigsten Stand, der alles erwerben, alles tragen muß, auf dem die ganze Wohlfahrt des Staats beruht, das Landvolk, zu guten, mit ihrem Zustande zufriedenen Menschen. Also war dieser Mann eine der wichtigsten Personen im Staate, und es fiel mir auch nicht anders ein, als daß, vom Fürsten bis zum Bettler, jeder ihn also behandeln und mit Ehrerbietung sich gegen einen Menschen betragen würde, der den Grund zu einer besseren, glücklichern Generation legte – aber wie sehr irrte ich mich! – Der Fürst, welcher, in rauschenden Freuden und Wollüsten ersäuft, sorglos über seine heilige Pflicht, nur darauf bedacht war, alles von sich zu entfernen, was ihm hätte ernsthafte, vernünftige Gedanken erwecken können, unterhielt einen Haufen von Luftspringern, die täglich vor ihm ihre Kunststücke wiederholen mußten. Diese Leute wurden reichlich besoldet und geehrt, ja, die erste Luftspringerin bekam fünfundneunzigmal mehr zum Unterhalte gereicht als der Lehrer des Landvolks. Dabei war dieser Schulmeisterstand ein so verachtetes Amt, daß ich offenbar sehen konnte, als mich mein Wohltäter, wie ihr nachher hören werdet, mit in die Stadt nahm, wie gering man diesen würdigen Mann behandelte, wie er nirgends in vornehme Häuser Zutritt hatte, wie er allerorten unter dem Pöbel mit fortgedrängt wurde und wie überhaupt in diesem großen Lande die Bedienungen und Stände nicht nach dem Grade der Nützlichkeit, welchen sie für den Staat hatten, sondern nach gewissen Vorurteilen geschätzt und belohnt wurden. Da war es denn sehr natürlich, daß sich wenig Männer von Talenten zu Besetzung der höchst wichtigen, aber verachteten Stände fanden und daß man desfalls gewöhnlich zu einem Schulmeister denjenigen nahm, der dies Amt um den geringsten Preis annehmen wollte. Da wurden dann solche Stellen mit Unwissenden, Nichtswürdigen besetzt, oder wenn ja ein geschickter Mann, durch sein gutes Herz, durch seinen Hang zu diesem edlen Geschäfte oder durch Armut getrieben, sich entschloß, ein Lehrer des Landvolks zu werden, so schnitt ihm seine Lage die Mittel ab, seine Talente weiterzuentwickeln, und er mußte wohl gar, um leben zu können, nebenher irgendeine rauhe, niedrige Handarbeit treiben. Zu Abschaffung dieses Unwesens wurde nun so wenig Anstalt gemacht, daß die Lehrer des Volks gar nicht unter genauerer Aufsicht der Regierung standen, welche sich mit solchen Kleinigkeiten nicht abgab. Sie waren dagegen einer Klasse von Leuten untergeordnet, die sich mit Gewalt in den Besitz gesetzt hatten, für die wahren Priester der Gottheit zu gelten. Da diesen nun daran gelegen war, das Volk dumm und voll von Vorurteilen zu erhalten, so läßt sich leicht begreifen, daß sie die Aufklärung und weise Erziehung, soviel möglich, hinderten. Sie setzten daher zu den Lehrern des Landvolks mehrenteils ihre Kreaturen, welche ihre Plane bei dem Unterrichte der Kinder befördern mußten, oder die allerdümmsten Menschen an. Auch war eine Form vorgeschrieben, nach welcher der Unterricht eingeleitet werden mußte, und statt die guten Kinder auf die Süßigkeit der gesellschaftlichen Pflichten und auf die Schönheiten der wohltätigen Natur aufmerksam zu machen, mußten sie fünfzehn Jahre lang gewisse von eigennützigen und listigen Menschen zum einträglichen Betrüge zusammengeflickte, unverständliche Systeme auswendig lernen. Und wehe dem Knaben, der hier seine Vernunft gebrauchen wollte! Wehe dem Lehrer, der nach einer andern Methode verfuhr! Er wurde im Namen der barmherzigen, gütigen, duldenden Gottheit bis in den Tod verfolgt. Würklich war auch mein Hauswirt schon in das schwarze Register dieser Bonzen eingeschrieben und mußte allen Ruf seiner Rechtschaffenheit, alle seine Klugheit aufbieten, den Schlingen zu entgehen, welche man seiner Heterodoxie (das heißt dort soviel als gesunde Vernunft) legte. Die Vorschriften, nach denen das ganze große Land leben mußte und welche jene Bonzen erfunden und dem Erif selbst zur Befolgung aufgezwungen hatten, gingen so weit, daß man an gewissen Tagen nicht einmal allerlei genießen noch sich mit nützlichen Dingen beschäftigen durfte.

Ein Stamm der Untertanen allein sonderte sich von diesen Gebräuchen ab. Sie waren einmal in dem Besitz, ihre eigene Überzeugung bei Regierung ihrer Handlungen zu Rate ziehen zu dürfen. Aber dafür wurden sie auch auf die grausamste Weise gedrückt, mußten beinahe von der freien Luft, welche sie einatmeten, eine Abgabe entrichten, wurden allgemein verächtlich, niedrig behandelt und unfähig gehalten, irgendeinen Stand ergreifen zu dürfen. Man würde sie, glaube ich, alle ausgerottet haben, wenn nicht der Eigennutz seine Rechnung bei diesen Leuten gefunden hätte; denn sosehr man sie auch drückte, so blieben sie doch im Lande, lebten still in den Sitten ihrer Väter, mischten sich in keine Staatshändel, ertrugen alles geduldig, waren höchst arbeitsam, fleißig, mäßig, und es gab feine, witzige und tief denkende Köpfe unter ihnen. Es war natürlich, daß sie keine große Liebe zu dem übrigen größern Teil des Volks bekommen konnten, indem sie so unedel gemißhandelt wurden. Ich habe selbst gesehen, daß, als einst Reisende von diesem Stamme, welche in einem andern Lande so unglücklich gewesen, ihr ganzes Vermögen zu verlieren, und desfalls fortgegangen waren, eine andre Heimat zu suchen, daß, als diese durch dies Land nur durchreisen wollten, man ihnen für diese Erlaubnis eine große Abgabe abforderte. Die armen Leute hatten kein Geld, baten daher um Erbarmen. Aber nein! Wenn sie kein Geld hatten, so hatten sie doch Kleider auf dem Leibe. Man zog ihnen das Unterkleid aus, um sich wegen der verordneten Abgabe bezahlt zu machen, und ließ sie mit bloßem Oberkleide, halb nackend, weiterwandern. Ein anderer von diesen Leuten geriet einst auf der Gasse einer kleinen Stadt mit einem Knaben, der seiner spottete, in Streit. Der arme Mann ertrug allen Hohn und wollte dem Buben ausweichen; allein dieser ergriff einen Stein und zielte nach des Menschen Kopfe. Was war natürlicher, als daß der Arme sein Haupt niederbeugte, um dem tödlichen Wurfe zu entgehn? Aber nun flog zum Unglück der Stein in das Haus eines reichen Bürgers und zerbrach daselbst ein kostbares Gefäß. Der Eigentümer stürzte sogleich heraus, ergriff – nicht den Knaben, sondern den gekränkten Mann, schleppte ihn vor Gericht, und dies verurteilte denselben unerhörterweise, das zerbrochene Gefäß zu bezahlen.

Nun war es wohl begreiflich, warum diese unbrüderliche Behandlung eines Völkchens, das einerlei Ursprung mit dem übrigen Teil der Nation, ja, aus dessen Mitte diese ihre größten Helden aufzuweisen hatte, daß eine solche Behandlung die Unglücklichen aufbringen und erbittern und sie oft zu gegenseitigen unedlen Handlungen verleiten mußte. Es ist wahr, daß fast kein Diebstahl geschähe, woran nicht jemand aus diesem gedrückten Stamme Anteil gehabt hätte, und daß sich diese Leute mehren teils vom Wucher nährten; das war aber gar nicht zu verwundern, nachdem man ihnen alle Mittel zu ehrlichem Erwerbe und alle öffentliche Achtung geraubt hatte.

Ich habe euch vorher erzählt, daß die Bedienungen und Stände nicht nach dem Grade ihrer Nützlichkeit, sondern nach gewissen Vorurteilen und Meinungen geschätzt wurden. So gab es, zum Beispiel, eine Absonderung eines Standes, welcher, nächst dem Fürsten, der vornehmste war und welchen man den Stand der Schiefnasigen nannte. Es gab nämlich gewisse Familien und Stämme, die sich darauf etwas zugut taten, schiefe Nasen zu haben und beweisen zu können, daß ihre Vorfahren, seit einigen Jahrhunderten, in ununterbrochener Reihe fort schiefe Nase gehabt und nur schiefnasige Mädchen geheiratet hätten. Vermutlich hatten irgendein paar Stammväter dieser Familien, denen von ohngefähr die Nase ein wenig auf die Seite gebogen war, große Verdienste um den Staat gehabt, und hatte man sie vorzugsweise die edlen Schiefnasigen genannt. Das Ansehn, in welchem sie bei dem Volke standen, die gute Erziehung, welche sie ihren Kindern gaben, vielleicht auch der Reichtum, den Fleiß und Tapferkeit ihnen erworben hatte, dies alles machte, daß die Achtung, in der sie standen, sich auch auf ihre Nachkommen vererbte, und die Mütter versäumten nicht, um das Bild der großen Ahnherrn in ihren Kindern wieder aufleben zu sehn, ihnen gleich bei der Geburt die Nase schief zu drücken. Aber bald artete dieser Vorzug aus. Die spätern Enkel, stolz auf die geerbte öffentliche Achtung, glaubten der Verdienste nicht zu bedürfen, wenn sie nur ihre schiefnasige Abkunft beweisen konnten; und durch eine unbegreifliche Verblendung ließ man diesen unwürdigen Nachkömmlingen nicht nur die den Vätern eingeräumten ökonomischen Vorrechte (das hätte sich noch vernünftig erklären lassen), sondern man räumte ihnen auch solche politische und moralische Vorzüge ein, die offenbar nur dem wahren Verdienste und Talente gebühren. Zu den ersten, einträglichsten und wichtigsten Stellen im Staate, ja, selbst zu denen, welche offenbar handwerksmäßige oder tiefe Kenntnis einer einzelnen Wissenschaft oder Kunst voraussetzten, wurde man nur vermittelst einer schiefen Nase erhoben, und der verdienstvollste, gelehrteste alte Mann mit grader Nase mußte, bei kümmerlichem Auskommen, oft einem unwissenden Schiefnasigen gehorchen, welcher reichlich für das bezahlt wurde, was er – nicht tat. Da nun diese Klasse von Menschen sich über die andern so sehr erhoben hielt, so glaubten sie auch, sich durch einen äußern Glanz auszeichnen zu müssen; und da kam es dann mehrenteils, daß der größte Teil dieser Leute, ohngeachtet aller ihnen eingeräumten Vorteile, in sehr zerrütteten Vermögensumständen war; aber so groß blieb das Vorurteil und die Verblendung, daß dennoch der reichste und klügste Mann mit grader Nase sich vor einem höchst unwissenden armen Schiefnasigen bis auf die Erde bückte. Es herrschte aber auch ein solcher auf gegenseitige Verteidigung ihrer Albernheit gestützter esprit de corps unter ihnen, daß sie in ihren Gesellschaften nur ihresgleichen duldeten, und eitle Leute waren schwach genug, sich oft noch in ihren alten Tagen die Nase schief schlagen zu lassen, um nur in diese leeren Gesellschaften, in welchen mehrenteils Unwissenheit, Hochmut und prahlerische Bettelei herrschten, Zutritt zu erlangen. Andre sahen sich zur Wohlfahrt ihrer Familien zu diesem Schritte gezwungen, obgleich sie selbst die ganze Albernheit davon fühlten. – Die Fürsten hatten seit Jahrhunderten dies Vorurteil unterstützt; einige, weil sie selbst fühlten, wie wenig die Natur sie durch wahre Verdienste zu dem Posten berechtigte, den sie bekleideten, weswegen sie dann Leute um sich her versammelten, die auch nicht klüger noch besser waren, weil ihnen die Gesellschaft der wahrhaftig Edlern ein beständiger stillschweigender Vorwurf gewesen sein würde. Die schlauen Regenten aber wollten deswegen das Vorurteil nicht abschaffen, weil ihnen eine nichts kostende Operation an der Nase eines Menschen Gelegenheit gab, die listigsten Köpfe zu gewinnen und zu Ausführung ihrer despotischen Plane zu nützen. Indessen muß man doch bekennen, daß es auch sehr würdige Männer mit schiefen Nasen gab, und diese wurden dann, als Ausnahmen von der Regel, eben ihrer Nase wegen, doppelt geachtet. Ihr wißt, meine Freunde, daß auch mir die Natur zufälligerweise ein schiefes Riechwerkzeug gegeben hat, und ich konnte anfangs, ehe ich die Verfassung kannte, nicht begreifen, weswegen jedermann mir mit so vorzüglicher Höflichkeit begegnete; als ich aber mit meinem ehrlichen Schulmeister durch die Straßen der Stadt zog, da schien man mich zu bedauern oder vielmehr es mir zum Vorwurf zu machen, daß ich mich nicht mehr zu meinesgleichen hielte. Man fing an, meine echte Abstammung zu bezweifeln – so mächtig war das eingewurzelte Vorurteil, daß man verlangte, ich sollte den wahren Genuß des Lebens, den Nutzen, den man aus dem Umgange mit weisen und guten Menschen zieht, und die edle Anwendung einer Zeit, über welche man einst Rechenschaft geben soll, dem beständigen Anblicke schiefer Nasen aufopfern. – Ja, meine Freunde! Uns Europäern kömmt so etwas unglaublich vor; aber es ist nun einmal nicht anders; ja, ich kann euch noch ganz andre Torheiten erzählen.

So herrschte z. B. hier ein sonderbarer Kontrast zwischen gewissen Nationalgefühlen und Nationalgewohnheiten. Nahe an das große Land, in welchem ich itzt war, grenzte ein andres, welches Vent-i-ti hieß und von einem Volke bewohnt wurde, das in seinen Sitten und seinem eigentümlichen Charakter sehr weit von jenem unterschieden war. Hierzu kam noch, daß das fremde Volk schon sehr oft, mit Beleidigung aller natürlichen und vertragmäßigen Rechte, in dies Land eingebrochen war, es verheert und beraubt hatte. Folglich herrschte ein sehr gegründeter Widerwille zwischen den Si-mischi-räs (so hieß das Volk, unter dem ich lebte) und den Vent-i-tihern; und von der andern Seite waren die Vent-i-tiher eine so übermütige Nation, daß sie alle andre und vorzüglich ihre Nachbarn sehr verachteten. Wenn sie einen Tölpel beschreiben wollten, so sagten sie, er sei ein rechter Si-mi-schi-rä. Dennoch waren diese Si-mi-schi-räs so sklavisch gesinnt, daß sie alles gut fanden, alles nachahmten, was nur die Vent-i-tiher unternahmen, sprachen, anzogen. Diese, welchen ein solcher Nachahmungsgeist viel Spaß machte, versäumten nicht, jeden Tag neue Torheiten zu erfinden und dann herzlich zu lachen, wenn die si-mi-schi-räischen Fürsten und Vornehmen sich augenblicklich beeiferten, dieselbe Torheit zu begehen. Das ging so weit, daß der verworfenste Vent-i-tiher in Si-mi-schi-rä immer sicher war, wenn er nur dahin wanderte, eine große Rolle zu spielen. Die Fürsten und Schiefnasigen hier redeten nichts anders als in vent-i-tischer Sprache, ja, sie lernten nicht einmal ihre Muttersprache, durften dieselbe von Jugend auf nicht reden. Die Vent-i-tiher hatten die Gewohnheit, ihre kleinen Kinder in Tücher zu wickeln; nun war kürzlich in Vent-i-ti ein kleiner Erif geboren worden; da nun Fürsten sowohl als andre Menschen ihre natürlichen Ausleerungen haben, so konnte es nicht fehlen, daß der Knabe seine Tücher täglich beschmutzte. Da ließ nun der Erif von Vent-i-ti einen Befehl ergehen, jedermann sollte Kleider tragen, welche die Farbe von diesen beschmutzten Tüchern hätten. »Gebt acht«, sagte er und lachte herzlich, als er den Befehl unterschrieb, »gebt acht! die Si-mi-schi-räs werden bald alle in meines Sohns Unflat gekleidet sein.« Gesagt, geschehen! Es dauerte nicht acht Tage, so ließ sich die Fürstin von Si-mi-schi-rä die nassen Tücher des kleinen Prinzen ganz frisch ausbitten, sie durch einen eigenen Gesandten abholen und sich ein Mäntelchen daraus machen. Ein andermal sang die Amme des Prinzen ein Wiegenlied, das so elend als möglich war; der alte Erif hörte es und befahl sogleich, es solle ein Gesandter nach Si-mi-schi-rä gehen und das Lied dort am Hofe singen. Seit dieser Zeit wurde es eingeführt, daß niemand in Si-mi-schi-rä den andern begrüßte, ohne dabei dies Liedchen zu trillern. Auch hatte der alte Fürst von Vent-i-ti ein Haustier, welches einst, als er es auf seinem Schoße streicheln wollte, ihn gewaltig beschmutzte. Sogleich zog er sein Gewand aus und verkaufte es an den Fürsten von Si-mi-schi-rä, der Befehl erteilte, wer eine Bedienung haben wollte, der sollte 81 sich in diese Farbe kleiden – oh! meine Freunde, und was für andre Torheiten mußte ich nicht erleben! Wie oft seufzte ich nach Europa zurück und rief dann aus: »Wäre ich doch erst wieder in meinem lieben teutschen Vaterlande! Da geht es doch anders her.«

Die Erzählungen meines wohltätigen Schulmeisters wären mir aus jedes andern Munde verdächtig gewesen. Indessen bat ich denselben, er möchte mich doch in den Stand setzen, einige dieser sonderbaren Gebräuche und Sitten mit eigenen Augen zu sehen. Er war sogleich willig dazu, und da er ohnehin in die Residenz mußte, wohin er vor den Rat der Priester vorgeladen war, um sich wegen einer Anklage zu rechtfertigen (man gab ihm nämlich schuld, er habe einst seinen Schülern gesagt, ein gutes häusliches Beispiel sei mehr wert als die öffentlichen Reden von hundert Priestern), so machte ich mich mit ihm auf den Weg dahin. Wir mußten durch ein paar kleinere Städte gehn, und da nahm ich wahr, wie auch bis hierher schon die unvernünftige Nachahmungssucht der vent-i-tischen Sitten gedrungen war. Die Bürger waren scharenweise in die Hauptstadt gelaufen, hatten dort ihre besten, von gutem, schönen, dicken Stoffe gewürkten Kleider um den halben Preis verkauft und leichtes, elendes Zeug dafür erhandelt, welches die neumodische Farbe von des vent-i-tischen Knaben Unflate hatte. Der oberste Richter in einer kleinen Stadt, dessen eigentliche Besoldung sehr geringe war, der dagegen aber auf die ungerechteste Weise große Summen erpreßte, um einen unzweckmäßigen Aufwand zu treiben, hatte sich kürzlich eine vent-i-tische Köchin angeschafft, und in seinem Hause durfte keine andre Sprache geredet werden. Weil nun der Erif eine ausländische Beischläferin hatte und öffentlich über Treue, häusliche Pflichten und eheliche Bande spottete, so waren auch aus jedem kleinen Bürgerhause Friede, Eintracht, Religiosität und Tugend verbannt. Ich erfuhr nachher, daß fast alle Fürsten in diesem Weltteile den Luxus, die Verderbnis der Sitten, die Ungewissenhaftigkeit und den Hang zu sinnlichen Freuden unterstützten, weil sie dann um desto despotischer über ein Volk regieren könnten, das durch so lose Bande aneinander hält, so leicht zu trennen, so leicht von ernsthaften Gedanken ab, auf Spielwerke aufmerksam zu machen ist, das ferner durch ein Heer schwer zu befriedigender Bedürfnisse, welche der Tyrann zu seinem Vorteil lenken kann, leicht unter sich uneinig und von Fürsten abhängig zu machen ist; das endlich, wenn es durch Luxus und Laster arm und entnervt ist, nie Mut hat, ein ungerechtes Joch abzuschütteln.

Ich habe vergessen, euch zu sagen, daß in den großen und kleinen südlichen Staaten, welche ich damals durchreisete, eine so sonderbare Verschiedenheit in Münzsorten, Maß und Gewicht herrschte, daß man fast bei jeder Meile Weges eine andre Rechnung lernen mußte, folglich ein Fremder nicht nur oft betrogen wurde, sondern auch die Geschäfte der Einwohner dieser kleinen aufeinander eifersüchtigen Staaten dadurch ungemein erschwert wurden.

Es war gegen Mittag, als wir in der Residenz ankamen. Vor einem großen Gebäude sahen wir einen gewaltigen Zulauf des Volks. Ich fragte, was das zu bedeuten hätte, und da erfuhr ich, daß hier etwas getrieben wurde, das mir auch unerhört fremd schien. Dem Landesherrn war durch böse Ratgeber eingeblasen worden, eine neue unmerkliche Art von Auflage, zu Vermehrung seiner der Befriedigung unmäßiger Leidenschaften gewidmeten Kassa, zu gründen. Zu diesem Endzwecke hatte man eine Art von Spiel eröffnet und Einheimische und Fremde eingeladen, daran teilzunehmen. Man rechnete nämlich, wie ich schon gesagt habe, in den dortigen Ländern, statt unsres Geldes, nach Steinen. Nun war ein großes verschlossenes Behältnis gemacht, welches sich, ohngefähr wie ein Rad, umdrehen ließ. Darin war eine kleine Öffnung. Man konnte durch dasselbe einen Stein hineinwerfen, auf welchen man vorher seinen Namen schrieb. Wenn eine Anzahl Steine hineingeworfen waren, wurde die Maschine schnell herumgedreht, und das Loch blieb offen. Fiel nun im Drehen von ohngefähr ein Stein heraus, so bekam derjenige, dessen Name auf dem Steine stand, die ganze Sammlung, welche grade darin war. Geschähe dies aber in einer festgesetzten Frist nicht, so gehörte das Ganze der Regierung. Nun kann man sich leicht vorstellen, wie selten sich, bei der schnellen Bewegung, der erste Fall zutrug; folglich stand sich der Landesherr bei diesem Spiele, welches er mit seinen Untertanen trieb, sehr gut. Allein die Hoffnung des Gewinstes verleitete Arme und Reiche täglich, eine Menge Steine daranzuwagen; und nicht selten sähe man einen Unglücklichen, der hier sein letztes Steinchen verloren hatte, mit gesenktem Haupte traurig davonkriechen. Soll ich es bekennen? Auch ich war närrisch genug, den einzigen Stein, den ich hatte, daranzuwenden; so sehr verblendete mich diese prächtige Anstalt, die Ankündigung, welche ein Herold ausrief, hier könne jeder in einem Augenblick reich werden, und endlich das Gepränge, welches hierbei herrschte. Ich warf meinen Stein hinein, und - o Wunder! – man hatte vielleicht nicht schnell genug gedrehet – genug! er kam bald wieder herausgeflogen, und ich erhielt (obgleich man allerlei Einwendungen versuchen wollte, mir meinen Gewinst vorzuenthalten) hundert Stück Steine, vielleicht den Ruin von zwanzig Familien, zur Beute.

Wer war in solchen Umständen froher als ich? Nun wollte ich meinen Reichtum mit meinem Wohltäter teilen; allein zu meiner Verwunderung wollte er von diesem Sündengelde nichts annehmen, und alles, was ich von ihm erlangen konnte, war, daß er mir erlaubte, ihn ein paar Tage, in einem guten Gasthofe, freizuhalten.

Da mein redlicher Begleiter etwas lange durch die Schikanen der Priester aufgehalten wurde, so hatte er volle Zeit, mir alle Merkwürdigkeiten der Stadt zu zeigen – und was sähe ich da nicht für Inkonsequenzen, sähe, wie die Menschen sich untereinander durcharbeiteten, rieben, quälten, jagten, verfolgten, vorzogen und unterdrückten um – nichts! sähe, wie ihnen alles so wichtig schien, was so klein war, wie [sie] zu ihren Festen, Verzierungen und Feierlichkeiten, Armut im ökonomischen, Politischen und Intellektuellen, Geschmacklosigkeit und Langeweile, das Gewand der Pracht, des guten Tons, der Weisheit und des Vergnügens borgen wollten. Ich kaufte mir ein gutes Kleid und ließ mich, durch Hülfe meiner schiefen Nase, an den Hof führen. Dort erwartete ich, um den Fürsten, um den Ersten und Besten seines Volks her die Edelsten der Nation versammlet zu finden; aber was für Geschöpfe liefen hier herum? Ein Haufen leerer, müßiger, unwissender Männlein, von zwei oder drei ausstudierten Schelmen bei ihren schiefen Nasen herumgeführt, durcheinandergehetzt und in beständigem pudelnärrischen Kreislaufe erhalten, um dem Erif ein Spielwerk zu verschaffen, worüber er vergessen mußte, auf jener Herrn Schleichwege achtzuhaben.

Bei einem großen Feste am Hofe nahm ich etwas wahr, das mir sehr charakteristisch vorkam. Der Erif saß auf einer hohen Bühne und hatte, zum Zeichen seiner Würde, einen Stock in der Hand, auf welchem oben die fein in Stein ausgearbeitete Figur eines Raubvogels befestigt war – es schien der Talisman der landesväterlichen Gewalt zu sein.

Ich bemerkte in allen Palästen Bildnisse und Statuen – nicht der Größten, sondern der Vornehmsten im Staate ausgestellt; nicht, wie sie aussahen, sondern – wie sie gern ausgesehn hätten; und der treue Künstler blieb unberühmt, unbelohnt, indes der Meißel des Schmeichlers bis in den Himmel erhoben wurde.

Ihr werdet nachher hören, daß ich mich nicht begnügte, nur allein diese Stadt, dieses Land kennenzulernen, sondern daß ich auch, in Gesellschaft eines weisen Mannes, eine Reise in die kleinen umliegenden Staaten machte; folglich gilt, was ich hier sagen werde, nicht alles von dieser einzigen Provinz, sondern ist aufgesammlet von der ganzen Nation.

Menschenfurcht, Mutlosigkeit, Verehrung dessen, den das Glück zufälligerweise erhoben, durch ein verjährtes Vorurteil geheiligt – das alles erhielt das arme Volk in einer beständigen Untätigkeit, und indes man sie einschläferte und sie selbst sich täglich mehr an das Joch gewöhnten, webten, von allen Seiten, Eigennutz, Priester – und Erifsdespotismus ihr Gewebe fester aneinander und verschlungen darin jeden, der sich noch rühren konnte oder wollte. Diese drei großen Ressorts spielten höchst künstlich, sooft sie es nötig fanden, gegeneinander oder miteinander, je nachdem es die Konvenienz erforderte. Wann die Priester des weltlichen Arms bedurften oder einen ehrlichen Mann durch die dritte Hand stürzen wollten, so predigten sie Gehorsam gegen die Obrigkeit, schrien über Empörung und verfolgten den, der zu frei redete. Kam aber ihr Eigennutz mit dem Interesse des Staats in Gegensatz, so lehrten sie, daß die Pflichten gegen die Götter weit über die Verbindlichkeiten gegen die Regenten gingen. Von einer andern Seite wußten die Erifs, sooft sie der Volksreligion, als eines Zaums und Gebisses, bedurften, die herrlichsten Vorschriften zu geben, was in ihren Ländern über die Natur der Götter geglaubt und gesprochen werden durfte; auch zeigten sie dann selbst ein öffentliches Beispiel von Anhänglichkeit an ihren Glauben. Sobald sie aber Gelegenheit fanden, gewissere Vorteile zu erlangen, so bekannten sie ebenso öffentlich das Gegenteil. Waren die Vorschriften der Volksreligion zu strenge für ihre Sitten, so schlugen sie sich zur Partei der Irreligiösen. War ihnen aber der Aberglaube bequemer zu Reinigung ihrer Gewissen, zu Versöhnung ihrer Untaten, dann glaubten sie die allerlächerlichsten Fratzen. Alle diese Beispiele verbreiteten sich aus der Residenz in die kleinern Städte und von da unter das Landvolk – und schon waren diese südlichen Völker so tief gefallen, hatten so sehr im Intellektuellen und Physischen abgenommen, daß es ein Jammer anzusehen war. Von ernsthaften, erhabenen Wissenschaften, dem Studium der Natur, nützlichen Bemerkungen, Nachforschungen über das Wesen und den Zweck aller Dinge und Kreaturen ab, war ihr Geschmack auf nichtswürdige, oft sehr gefährliche, erniedrigende Kleinigkeiten gefallen. Durch die abscheulichsten, unnatürlichsten Laster sowie durch Druck, Armut, Weichlichkeit und Faulheit war die ganze Generation so schwach und entnervt geworden, daß itzt kaum unter Hunderten einer das gewöhnliche Menschenalter erreichte; und doch waren sie ehemals ein so starkes, männliches Volk gewesen.

Alle diese Vorwürfe treffen aber nur den größten Teil der mehr oder weniger kleinen Staaten dieses Weltteils; denn außer daß einige liebenswürdige, väterlich für ihre Untertanen gesinnte Erifs die Wohlfahrt ihrer Kinder mit unermüdeter Sorgfalt beförderten, folglich eine Ausnahme vom Ganzen machten, so gab es auch noch, mitten unter diesen, zwei große Reiche, von weisen, mäßigen und edlen Erifs beherrscht. Diese sahen in ruhiger Stille dem Unwesen zu, machten ihre Untertanen (wenigstens nach ihrer Überzeugung – und das ist für Menschen genug getan) so glücklich als möglich, wachten, arbeiteten, kämpften für sie und hielten sich für die ersten Diener im Staate. Freilich machte die höchst verworrene Staatsverfassung dieses ganzen Weltteils, dessen einzelne Provinzen unabhängig und eingeschränkt, in Verbindung und getrennt, nach ausländischen, vor zwölfhundert Jahren ersonnenen, jetzt nicht mehr passenden Gesetzen und dann wieder zwischendurch nach einer ungeheuren Menge spezieller, sich oft widersprechender Landesverordnungen regiert, diese verwickelte Verfassung, dies höchst abenteuerliche Gemische, sage ich, machte, daß beide große Männer, welche immer Rücksicht darauf nehmen mußten, ohnmöglich ihre Provinzen gänzlich nach einem einförmigen Plane regieren konnten, und doch war es ohne offenbar gewaltsame Ungerechtigkeit nicht möglich, die kleinen Länder gradeswegs unter sich zu verteilen. Man ließ diese also, wie billig, in Ruhe; allein die kleinen Herrschaften arbeiten sich dennoch selbst ihrem Untergange entgegen, und ich bin überzeugt, daß in hundert Jahren ein großer Teil derselben eingeschmolzen und die ganze so sehr zusammengesetzte Verfassung, ohne alle Gewalt, über den Haufen gefallen sein wird. Denn erstlich bekommen die jungen Erifs die elendeste Erziehung auf der Welt, werden von Jugend an mit dem lächerlichen Vorurteile von natürlichem Rechte zur Oberherrschaft erfüllt, mitten unter Schmeichlern aufgefüttert und entweder den Händen eigennütziger Priester oder unwissender, selbst nicht erzogener, oft nur politische und ökonomische Vorteile suchender Schiefnasen übergeben. Da werden ihnen dann, wie es leicht zu denken ist, keine vernünftige Grundsätze der Regierungskunst, keine klare Begriffe von den gegenseitigen Verhältnissen der Fürsten und Untertanen gegeneinander, kurz, es wird ihnen nichts Zweckmäßiges beigebracht, sondern indem man ihnen in den wenig Stunden, worin man von dergleichen redet, nur obenhin allerlei schwankende, verfälschte Ideen beibringt, ohne sie auf ihr wahres Interesse aufmerksam zu machen, wird der übrige Teil der Zeit mit elenden Spielwerken, Zerstreuungen und solchen Vergnügungen, welche allerlei heftige Begierden erregen, verschleudert. Auf diese Art wächst der neue Landesvater heran, und es ist ein Werk des Schicksals, ob er wollüstig, grausam, hartherzig, weichlich, verschwenderisch, schwach, untätig oder das Gegenteil wird.

Sodann zerrüttet der Hang zur leeren Pracht, die hochmütige Nachahmung der größern Erifs (welche oft die armseligsten Schauspiele liefert) bald, in den ersten Jahren der Regierung, den Zustand der Finanzen. Alsdann bleibt nichts übrig, als die armen Untertanen auf die ungerechteste Art zu schinden. Diese verarmen, erholen sich wohl einmal wieder, verarmen noch einmal, können nichts mehr geben, nicht wieder zu Kräften kommen, wandern aus oder tun einst einen kühnern Schritt, aus Verzweiflung, um des Jochs loszuwerden. So frißt sich ein kleines Land nach dem andern auf, und es ist leicht abzusehn, worauf das endlich hinausgehn wird, da indes die größern Staaten durch weise Anordnungen, durch Gerechtigkeit, durch Frieden und durch den Ruin der andern immer mächtiger und blühender werden. Wie es bei den einzelnen Provinzial- und allgemeinen Nationalgerichtshöfen herging, mag ich gar nicht erzählen. Nur so viel will ich sagen, daß dort der Mächtigere und Reichere, wenn er auch seine ungerechte Sache nicht gewinnen kann, die herrlichsten, gesetzmäßigsten Mittel in Händen hat, der ärmern Gegenpartei hundert Jahre lang das Ihrige vorzuenthalten, bis diese, mutlos und gänzlich verarmt, in den Händen des Räubers läßt, was sie nicht wiederbekommen kann.

Es gibt auch sogenannte freie Staaten mitten in diesem großen Weltteile. Aber diese führen nur den Namen davon, indem ein kleiner Haufe von Verschwornen das Volk, unter dem Privilegium der Freiheit, durch Kabale, Klatscherei, Bestechung, Überstimmung, Aberglauben, Intoleranz, Verhinderung der Aufklärung, schlechte Schulanstalten u. dgl. in einer noch ärgern Tyrannei hält, Mehrenteils ist dann das Volk stolz darauf, reden zu dürfen, was es will, und die Vornehmern haben die Freude, zu tun, was ihnen beliebt.

Das, meine lieben Freunde, waren die traurigen Bemerkungen, welche ich in diesen fremden Ländern machte und die mir tausendmal eine warme Sehnsucht nach meinem Vaterlande einflößten.

Den alten Mann, von dem ich euch geredet habe, traf ich in einem Gasthofe an, wo ich zu Mittag speisete. Es saß da eine große Gesellschaft von allerlei Leuten, die durcheinander durch sprachen und über Politik, Religion, schöne Wissenschaften, und Gott weiß über was alles, mit herzlichem Wohlgefallen an sich selbst, urteilten. Nur mein alter Nachbar hörte alles mit Lächeln an und – redete nichts dazu. Das Gespräch fiel auch auf die verschiedenen Mißbräuche in der Regierung, auf die Bedrückungen der Untertanen, auf Ungerechtigkeit, Bestechung, Inkonsequenz, Planlosigkeit usf. Dies dauerte so bis zu Ende der Mahlzeit fort, da dann der alte Mann, sobald er sich satt gegessen hatte, aufstand und in einen nahe gelegenen Garten ging, wie er immer nach Tische zu tun pflegte. Ich sah ihn einsam auf und nieder wandeln und beschloß, mich womöglich zu ihm zu gesellen. Sobald ich auf ihn zuging, blieb er freundlich stehen, und nach einigen gemeinen Höflichkeitsbezeugungen wurde ich bald in ein sehr interessantes Gespräch mit ihm verwickelt, welches ich euch, in der Hoffnung, daß ihr Vergnügen daran finden werdet, hier, soviel ich mich dessen noch erinnere, herschreiben will.

Ich: Aber wie in aller Welt kömmt es denn, daß alle diese ungeheuren Mißbräuche gar nicht abgeschafft werden, wenn doch jeder darüber redet, jeder dagegen schreiet? Ich dächte, auf diese Art müßte doch die Wahrheit bis zu den Ohren Ihrer Erifs und Großen des Reichs kommen.

Der Mann: Zuverlässig!

Ich: Und dann würden diese doch wohl Anstalten zu Verbesserungen machen.

Der Mann: Das ist eine andre Frage.

Ich: Warum? Lassen Sie mich immer zur Ehre der Menschheit glauben, daß es ihnen nur an Einsicht, nicht an gutem Willen fehlt!

Der Mann: Es fehlt wohl hie und da an beidem. Im ganzen aber fehlt es auch an Gewalt.

Ich: Wie das? Ist denn Ihr Erif nicht unumschränkter Herr?

Der Mann: Das ist er; aber er ist es nicht über den Strom der Kultur, der unaufhaltsam seinen Weg geht, den nichts hemmen kann, ist nicht Herr über das große Grundgesetz, nach welchem diese Erde regiert wird, nämlich den beständigen Circul des Irdischen.

Ich: Also glauben Sie, daß auch diese Verderbnisse der heiligsten Dinge, die Verderbnisse der Staatsverfassungen, der Religionssysteme und das Herabsinken der Sittlichkeit mit zu dem Plane der Gottheit in dieser besten Welt gehören?

Der Mann: Gewiß! denn sie hängen in der Kettenreihe zusammen. Alles auf dieser Erde kann nur einen gewissen Grad von Vollkommenheit erlangen; würde es darüber hinaus steigen, so hörte es auf, sich für diesen Planeten zu passen. Wenn es also diesen höchsten irdischen Grad erlangt hat, so fällt es wieder, und die Maschine muß aufs neue aufgezogen werden. Der Mensch steigt von Einfalt der Sitten, durch stufenweise Kultur, bis zu dem höchstmöglichen Grade der Verfeinerung hinauf, und mit diesem Samen wächst zu gleicher Zeit der Keim des Verderbnisses mit auf. Die Früchte werden zugleich reif, und wo die höchste Kultur ist, da war noch immer bis itzt (wenigstens bei uns; wie es bei Ihnen in Europa ist, weiß ich nicht) zugleich die ärgste Korruption; so geht es auch im Politischen. Von der Freiheit an, durch Errichtung der Staaten, bis zum äußersten Mißbrauch des Despotismus und endlich im Religiösen vom dümmsten Aberglauben, durch die Aufklärung, bis zur höchsten Freigeisterei – und dann grenzt gleich wieder das andre äußerste Ende daran. Von der Freigeisterei geht es unmittelbar wieder zum Aberglauben über. Wenn der Mensch sich überzeugt hat, daß es Wahrheiten gibt, welche sein Verstand nie ergründen kann, so wird er mutlos, länger zu forschen, und glaubt nun lieber alles gradehin, was ihn nur einschläfern kann. Der Despotismus zerstört sich selbst, indem er sich entweder entkräftet und die Beute des Nachbars wird oder die Wunde so arg macht, daß endlich der Kranke vor Schmerz aufspringt. Der von Wollüsten entnervte Staat muß, wie ein alter Sünder, wieder anfangen, sich an leichte Speisen zu halten, wenn entweder der Magen nichts mehr vertragen kann oder der übermäßige Genuß Ekel macht – so geht alles auf dieser Erde seinen Circul fort, und wer etwas Höheres oder Tieferes sehen will, muß es in andern Planeten aufsuchen. Alle Reformationsanstalten, die dahin abzielten, einen andern Plan zu Erziehung des Menschengeschlechts zu entwerfen, waren Hirngespinste, Mißgeburten, in dem Gehirn eines Mannes entstanden, der die Welt nicht wahrhaftig kannte, Mißgeburten, erzeugt aus der Hurerei der gesunden Vernunft mit der Phantasie. Solchen Systemen bin ich seit kurzem sehr feind geworden. Da sucht sich einer ein Plätzchen aus und bauet sich ein Häuschen, ein hohes, hohes Häuschen darauf. Er meint, es sei ein fester Boden, weil er und seinesgleichen darauf herumspringen können. Er guckt auch wohl aus dem obersten Dachfenster seines Turms mit seinen Freunden heraus und lacht herzlich der armen Leute, die da unten sind. Auf einmal kömmt aber ein dicker Mann, klemmt sich durch die kleine Haustür hinein – siehe, da bleibt ihm das ganze Haus auf den Schultern hängen, und er rennt damit fort – oder ein schwerer Lümmel tanzt rechtschaffen auf dem Boden herum, und der ganze Bettel stürzt übereinander.

Ich: Das wäre ja sehr betrübend! Es wird doch noch in jedem Zeitalter einige bessere Männer geben, die von dem Verderbnisse des Jahrhunderts nicht angesteckt sind?

Der Mann: Vielleicht! Und wenn diese –

Ich: Nun ja! und wenn diese sich verbinden –

Der Mann: So können sie miteinander klagen, sich trösten, helfen, gewisse Wahrheiten fortpflanzen, lehren –

Ich: Nicht nur lehren, dächte ich, sondern auch handeln, auf das Ganze würken, den Strom wenigstens aufhalten.

Der Mann: Ohnmöglich! Das ist eine Grille!

Ich: Ich weiß es wohl, man wird ihnen von allen Seiten entgegenarbeiten; aber sie müssen sich insgeheim verbinden.

Der Mann: Da habe ich Sie, wo ich Sie gern sehen wollte. Also geheime Verbindungen? Das ist ein süßer Traum, den ich auch oft und unter verschiedenen Gesichtspunkten geträumt habe; allein die Erfahrung hat mich gelehrt, und das noch kürzlich, daß man nur viel Zeit damit verliert, die man auf ganz einfache Art, in seinem gewöhnlichen häuslichen und politischen Circul, viel nützlicher hinbringen könnte, indes man eine Menge Leute nach einem gemeiniglich sehr komponierten Plane zu einer unbestimmten Tätigkeit in Bewegung setzt und endlich einen kleinen Circul von Menschen, die man in seinem oft falschen Enthusiasmus für die edelsten hält, begünstigt, um gegen alle übrige ungerecht zu sein.

Ich: Also sind Sie gegen alle geheime Verbindungen?

Der Mann: Gegen alle nach studierten Planen handelnde, auf Reformation abzielende geheime Verbindungen. Sie bleiben nicht lange geheime Verbindungen, weil nichts in der Welt geheim bleibt; und dann fällt aller Nutzen weg. Sie bleiben nicht lange unentweihet, weil nichts in der Welt unverändert bleibt; und dann haben wir das alte Lied. Die Staaten, die Religionssysteme, die öffentlichen Anstalten zu Bildung der Jugend, alle diese Dinge waren auch herrliche Anstalten zum Besten der Menschheit; was sind sie aber jetzt?

Ich: Das kömmt daher, weil man in der Grundlage gefehlt hat. Jetzt sehen wir die Fehler ein und können also, in der Stille, mit bessern Menschen, einen festeren Plan ausführen.

Der Mann: Und wie werden Sie einen Plan erfinden, der in jedes Zeitalter, in jede Staatsverfassung hineinpaßt? Was in diesen zehn Jahren das kräftigste Mittel ist, kann vielleicht in den folgenden zehn Jahren Gift sein, welches Sie selbst, in menschlicher Kurzsichtigkeit, den Nachkommen zubereiten. Es hat doch vor unsrer Zeit auch kluge Männer gegeben, auch sind von denselben zuweilen Bündnisse von der Art errichtet, aber auch jedesmal nach einer kurzen Reihe von Jahren zerstört, entweihet oder zum Bösen gemißbraucht worden. Glauben Sie mir! gewöhnlich werden solche Anstalten zu Reformationen der Staaten, Religionen und Sitten von Malkontenten gemacht, die, bei der jetzigen Einrichtung, ihr Konto nicht finden. Privatleidenschaft, gekränkte Eitelkeit oder so etwas wird dann die Triebfeder, und diese Menschen sind, wenn sie Macht erhalten, ebenso intolerant gegen Leute, welche nicht ihrer Meinung sind, als die Tyrannen, welche sie stürzen wollen. Glauben Sie mir! wer nur auf dem Platze, worauf er steht, mit vernünftiger Rücksicht und Duldung der allen menschlichen Unternehmungen anklebenden Unvollkommenheit die möglichste Summe des Guten tut, soviel er kann, ohne sich um andre zu bekümmern, außer daß er gute Grundsätze ausbreite, wo er nur darf – mit einem Worte! wer so edel handelt, als er vermag, und die Gelegenheit dazu nicht entwischen läßt, aber auch nicht ängstlich sucht, der tut, ohne geheime Verbindung, vollkommen genug.

Ich: Aber vereinte Kräfte würken doch mehr. Wenn nun die zerstreueten Edlern sich einander aufsuchen, sich vereinigen, jüngere Leute in ihr geheimes Bündnis ziehen, diese bilden, sich einander beistehen, befördern, dem Bösen sich widersetzen und so nach und nach eine neue glücklichere Generation bilden, die dann allgemeine Aufklärung verbreitet, welche der Grund aller Tugend und Weisheit ist, so daß auf dem ganzen Erdboden ein auf reife Erfahrung von Jahrhunderten gestütztes Vernunft- und Sittenregiment herrschen würde; wenn –

Der Mann: Oh! schweigen Sie still! Das ist ein schöner Jünglingsplan, mit dem ich mich auch berauscht gehabt habe, der aber soviel Widersprüche in sich faßt, als er Worte enthält. Ich schäme mich nicht zu bekennen, daß ich einst mit Leib und Seele an einem ähnlichen Projekte krank gelegen bin, daß ich aber itzt meinen Irrtum einsehe. Lassen Sie sich nur in der Kürze zeigen, was aus Ihrem Plane in wenig Zeit werden wird und nach aller Erfahrung aus Geschichtskunde werden muß. Sie wollen allgemeine Aufklärung der ganzen Welt? – Welch ein Widerspruch! Bei der ungeheuren Verschiedenheit der Organisation, der Lagen, der Schicksale, der Leidenschaften, da verlangen Sie, daß alle Menschen nach einem einzigen, weisen und redlichen Zwecke streben sollen? Das ist nur da möglich, wo noch keine Staaten je gewesen sind, wie in jenem glücklichen Lande, wovon Sie mir neulich erzählt haben; aber nicht bei uns, wo der Samen der sogenannten Kultur so feste Wurzeln geschlagen hat. Soviel im allgemeinen! Nun zu den einzelnen Teilen Ihres Plans! Sie wollen die Edlern aufsuchen und also auf Vermehrung der Zahl der Verbündeten denken? Jede Gesellschaft, die auf Vermehrung ihrer Mitglieder bedacht ist, muß notwendig ausarten. Wenn Sie auch die feinsten Prüfungen vorschreiben, so wird doch, wo nicht gleich, doch in der Folge, Privatleidenschaft, Nachgiebigkeit, Gefälligkeit, menschliche Kurzsichtigkeit und manche andre Rücksicht mit Einfluß auf die Wahl der Mitglieder haben; und hat sich ein einziges zweideutiges Subjekt eingeschlichen und hinaufgearbeitet, so folgen mehrere nach, und Ihr ganzer schöner Plan ist zerstört. Sie wollen junge Leute bilden? Verstehen Sie darunter Ihre eigenen Kinder, so können Sie das ohne geheime Verbindung bewürken. Denken Sie aber dabei an andrer Leute Kinder, so frage ich Sie: Wer gibt Ihnen Macht, diese so unter Ihren Augen zu haben, daß sie nicht zehnmal mehr falsche Eindrücke anderwärts bekommen, als sie von Ihnen gute erhalten? Geheime Anstalten zu Bildung der Jugend haben schon an sich etwas Verdächtiges und werden leicht gemißbraucht, bilden nur mittelmäßige Menschen und unterdrücken das wahre Genie. Sie werden sich nicht für so weise und unbefangen halten, daß es Ihnen nicht begegnen könnte, Ihre Privatmeinungen den jungen Leuten für Weisheit zu verkaufen. Irgendein sich einschleichender listiger Bösewicht voll Verstellung wird noch mehr tun, er wird ebenso bald gefährliche Grundsätze unmerklich bei diesen Alltagsmenschen mit unterlaufen lassen – und was für Unheil kann ein solcher dann nicht durch Hülfe einer so geheimen Anstalt stiften? Sie wollen Menschen im Politischen befördern? Oh! zittern Sie vor den Folgen. Dadurch öffnen Sie dem Geist der Intrige und Kabale Tor und Tür. Abgerechnet, daß Sie dabei, ohne Befugnis, sich in den Fall setzen, aus Vorliebe zu Ihren Zöglingen gegen viel würdigere Menschen ungerecht zu verfahren, so kann auch dieser Zweck, in den Händen böser Männer, schreckliche Folgen haben. In den ersten Jahren wird Ihre Gesellschaft sehr viel Gutes tun oder vielmehr: das Gute, so vielleicht jeder einzelne ohnedies würde getan haben, wird Ihnen sichtbarer werden, weil Sie es erfahren, und das wird Sie täuschen, zu glauben, Sie hätten Wunder verrichtet; ich räume auch ein, daß in dieser ersten Zeit, wenn die Gesellschaft noch klein ist, der esprit de corps etwas tut. – Nun aber werden in den folgenden Jahren schon unter Ihren Zöglingen einige weniger Gute sich eingeschlichen haben. Wenn diese heranwachsen, so wird wohl hie oder da einer darunter die Direktion in irgendeiner Gegend erhalten und also natürlicherweise seinesgleichen bilden – und nun halten Sie einmal den reißenden Strom auf, wenn Sie können! Sie werden Zeit und Mühe verloren und vielleicht über Ihre weiten Aussichten die nahe vorliegende Gelegenheit, der existierenden Welt wahrhaftig nützlich zu sein, versäumt haben. Doch hören Sie ferner! Sie wollen das Böse hindern? Wissen Sie auch immer, was böse ist? Wird nicht hier die Beschränktheit Ihrer Einsichten und die Leidenschaft, gegen die gute Sache und gegen den guten Mann, Sie blenden und mitreden? – Nicht? – So sind Sie denn mehr als Mensch. Sie wollen aus der Erfahrung von Jahrhunderten die Regeln abstrahieren, nach welchen Ihre Leute handeln sollen? Es bedarf keines so langen Zeitspiegels. Wenn Erfahrung hätte helfen können, so wären wir schon längstens alle weise. Die Quantität der Erfahrungen tut hier nichts; Sie werden dadurch nicht mehr Gewalt gegen die Leidenschaften bekommen, welche sich nicht wegphilosophieren lassen, sondern mehrenteils alle unsre frommen Plane vereiteln. Sie wollen Aufklärung befördern? Sehen Sie selbst ganz klar? Haben Sie auch genug abgewogen, welchen Grad von Aufklärung jeder Mensch vertragen kann?

Meinen Sie, das alles hätten andre Menschen nicht schon vor Ihnen durchgedacht und diejenigen wären so gänzlich für Narren zu halten, welche die bloß spekulativen Wissenschaften zu der Schale ihrer geheimen Verbindung zu machen und aller Tätigkeit im Weltlichen zu entsagen scheinen? – Armer, gutherziger Mann! Wie weit sind Sie noch zurück! Und endlich, wenn auch alle diese Zwecke zu erlangen wären, so würde doch die Maschine, mit welcher man dies große Werk regierte, so kompliziert sein müssen, daß selbst in dieser Komposition der Keim der Vergänglichkeit liegen würde. – Können Sie nun, bei allen diesen Schwierigkeiten, dennoch eine Anstalt von der Art fest gründen, so können Sie mehr als der Schöpfer aller Dinge.

Ich: Sie machen mich traurig. Also sind Sie so ganz gegen alle Verbindungen von der Art eingenommen?

Der Mann: Nichts weniger! Aber ich kann nur dreierlei Arten derselben gelten lassen. Die erste ist eine Verbindung von Männern, die in ihrem Schoße gewisse Überlieferungen bewahren, gewisse Wissenschaften treiben und gewisse Plane ausführen wollen (welche aber keineswegen weder mittel- noch unmittelbar in die Rechte der Staaten greifen), die sich aber auf eine nie zu vermehrende festgesetzte Anzahl eingeschränkt haben. Wenn dann unter diesen sich einmal ein Mittelmäßiger einschleicht, so kann derselbe wenigstens nicht viel schaden, und wann er stirbt, wählt man einen Bessern an seine Stelle. Diese Verbindung existiert, lächelt herzlich der übrigen Spielwerke, spielt zuweilen eine Zeitlang mit und bleibt unentheiligt. Die zweite Art von Verbindung, die ich gutheiße, ist eine solche, die nach einem Plane arbeitet, der einfach und so geordnet ist, daß man ihn jedem Mitteilnehmer vollständig zur Übersicht vorlegen kann, und in welchem sich alle Arten Menschen passen und mehr oder weniger an der Vollkommenheit desselben teilnehmen können, wo Gute und Schlechte gleichsam durch einen allmächtigen Trieb zu einem Zwecke hingezogen werden. – Und auch eine solche Verbindung existiert hier, würkt das sichtbar Gute sehr langsam, aber sicher an der Hand der Natur, dreht die Ordnung der Dinge nicht um und wird von jener geheimen Verbindung – nicht regiert, aber geleitet, gestimmt. Die dritte Verbindung, die ich gelten lasse, ist, wenn eine Anzahl guter, in Eintracht lebender Familien sich zu einem neuen Staatskörper absondert und eine Einrichtung macht, die wenigstens so lange Stich hält, als es der Gang der menschlichen Dinge erlaubt. Aber dann muß sich eine solche Kolonie, wenn sie nicht den herrschenden Ton des Zeitalters annehmen will, gänzlich von der übrigen Welt absondern – und auch dergleichen Kolonie gibt es. Ich will Sie sogar mit einer bekannt machen. Sie wohnt auf einer Insel, wozu nur die Mitglieder des geheimen Bundes, welche die Ratgeber dieses neuen Staats sind, den Zugang wissen. Ich war eben im Begriff, morgen hinzureisen. Wollen Sie mich begleiten? Sie sind der erste Fremde, dem diese Gunst widerfährt. Auch dürfen Sie, nach den Gesetzen, nicht länger als drei Tage dort bleiben und indes nie von meiner Seite weichen. Sind Sie dazu erbötig?

Ich nahm mit Freuden sein Anerbieten an; wir reiseten durch mancherlei Wege in der Nacht ab, kamen an eine See, fuhren in einem Fahrzeuge von sonderbarer Bauart hinüber, und was ich da in drei Tagen sehen konnte, will ich euch nun kürzlich erzählen.

Die ganze Insel hatte eigentlich keine durch schriftliche Gesetze gegründete Regierungsform, aber dagegen die allernatürlicheste, die man haben kann, und diese beruhete ohngefähr auf folgende Grundsätze: Die sechzig Familien, welche sich gleich anfangs dort festgesetzt hatten, hatten die Hälfte der Insel in ebensoviel gleiche Teile geteilt. Auf jedes dieser Teile wurde sogleich ein kleines Haus gebauet, das für eine Familie von vier erwachsenen Personen groß genug war. Felder, Wald, Gärten, kurz, alles auf dieser Hälfte war also in gleiche Teile geteilt und jedem Hause ein solches Stück angewiesen. Ehe die Familien hingezogen waren, hatte man sich zuerst davon versichert, daß nicht eine einzige Person darunter wäre, die nicht irgendein dem gemeinen Wesen nützliches Gewerbe treiben könnte und gern triebe; auch hatte man sich vorher zu gewissen vorläufigen Punkten auf das heiligste verbunden. Ich will einige derselben hersetzen, die mir itzt grade noch in Gedanken schweben: Jeder Stand, jedes Gewerbe, das etwas zum gemeinen Besten beitrug, wurde ohne Unterschied gleich hochgeschätzt. Alle Einwohner der Insel hatten sich eine gleiche, vernünftige, bequeme, dem Körperbaue und dem Klima angemessene Kleidung vorgeschrieben. Keine Bücher, keine Schriften durften mit auf die Insel genommen, ebensowenig durfte dort irgend etwas geschrieben werden, und alle wissenschaftliche Kenntnisse wurden durch mündliche Überlieferungen fortgepflanzt, sowie auch jeder, der etwas zu wissen glaubte, seine Feierstunden dazu anwenden konnte, diese Kenntnisse seinen Kindern und Freunden vorzuerzählen. War die Sache der Mühe wert, so pflanzte sie sich fort, die Torheiten hingegen vergaß man. Also gab es keine gelehrte Zünfte, und die Wahrheit war ein freies Kapital, wovon jeder nach Gefallen soviel besitzen und wieder ausspenden durfte, als er konnte, wollte und andre von ihm annehmen mochten. Zwanzig Häuser hatten immer vier gemeinschaftliche öffentliche Gebäude: das eine zu Erziehung der Kinder beider Geschlechte, die vom sechsten Jahre an bis in das vierzehnte alle dem Staate gehörten und eine gleiche Erziehung genossen. Alsdann aber wurde bestimmt, zu welcher Lebensart sie Geschick und Lust hatten: ob zum Unterricht der Jugend, und dann blieben sie in diesem öffentlichen Gebäude, oder bloß zum Landbaue oder zu einem der wenigen Handwerke, deren man bedurfte, und dann wurden sie in die Wohnhäuser verteilt, wo grade ein Platz offen war, denn es war nur eine Familie, und gelegentlich ohne Zwang, aber nach gutem Rate und Überlegung, verheiratet, wobei Rücksicht auf die Gemütsart genommen wurde. Von heftigen und winselnden Leidenschaften hörte man nichts. Wer aber zur Arzeneikunde und Verpflegung der Kranken Geschick hatte, kam in das zweite öffentliche Gebäude, wo diese, deren es, bei so einfacher Lebensart, wenige gab, verpflegt wurden.

Vermehrte sich die Bevölkerung, also daß in jedem Hause mehr als vier erwachsene Menschen oder zwei Paar wohnten, so nahm man von der andern unbebaueten Hälfte der Insel neue Landportionen von gleicher Größe dazu. Niemand aber durfte mehr bebauen als sein dem Hause angewiesenes Stück, und dies Stück mußten die Bewohner jedes Hauses selbst bebauen, ohnbeschadet ihrer übrigen Gewerbe. Wald und Wiesen waren gemeinschaftlich, standen unter der Aufsicht der Ältesten; man aß Eier und Milch der Tiere, aber nie das Fleisch, überhaupt wurde kein Tier getötet, in der sichern Überzeugung, daß der Schöpfer dafür gesorgt hat, daß sich jede Gattung nur verhältnismäßig vermehrt. Man hatte aber Mittel ersonnen, die Fluren gegen die Verheerung der Tiere zu bewahren; gern gab man aber andern Kreaturen einen Teil seines Überflusses. Wilde reißende Tiere sah man dort nicht.

Sobald jemand sechzig Jahr alt war, so wurde er von der gewöhnlichen Arbeit freigesprochen und kam dann in das dritte öffentliche Gebäude, um entweder Richter des Volks zu sein oder Aufsicht über die Erzieher oder über die Krankenverpfleger zu haben. Die alten Frauen aber besorgten die Küche in den öffentlichen Gebäuden oder machten sich ein andres freiwilliges Geschäft, denn vom sechzigsten Jahre an war jedem Muße und Ruhe vergönnt; wer aber so lange tätig gelebt hat, pflegt dann nicht gern müßig zu sein. In dem vierten öffentlichen Gebäude wurden die achtzig Personen, aus welchen die zwanzig Familien bestanden, täglich zweimal gespeiset. Die Stunden, welche den Mahlzeiten gewidmet waren, die Anzahl und die Art der höchst einfachen Speisen, alles war bestimmt.

Die Menschen wurden auf dieser Insel sehr alt. Die Leute, welche über achtzig Jahr alt waren, machten den engern Ausschuß derer aus, welche über die ganze Insel die Aufsicht hatten und sich jedes Jahr einmal an dem großen Festtage versammleten, wo sie dann, mit Zuziehung der Ältesten jedes Stamms, beratschlagten, was im allgemeinen zu tun wäre. Diese Greise waren die einzigen Priester auf der Insel, wie wir nachher hören werden.

Zwanzig Familien machten also eigentlich einen Stamm aus, aber die ganze Insel war nur wie ein einziges Haus zu betrachten, bewohnt von Menschen, bei denen kein Luxus, keine Unmäßigkeit und kein Unterschied der Stände herrschte. Das Interesse eines jeden war das Interesse des Ganzen, und niemand hatte Reiz oder Veranlassung, anders zu handeln als so, wie es die gesunde Vernunft mit sich brachte, wobei sich jeder sehr wohl befand, worin jeder erzogen war und welches ihm zum Bedürfnis geworden war. Er kannte nichts andres, sähe nichts andres, fühlte nichts andres; seine Lebensgeister waren immer in gehörigem Gleichgewichte und sein Körper nicht zu reizbar und nicht abgestumpft. Dabei hatte niemand Nahrungssorgen, denn auch von dem Unterschiede der Vermögensumstände wußte man nichts. Es war hier kein Eigentum; jeder Handwerker mußte wöchentlich sein festgesetztes Stück Arbeit in das Haus liefern, wo die alten Männer wohnten, jeder Landbauer den Ertrag seines Feldes auf den gemeinschaftlichen Boden tragen, und von daher wurde jeder mit Nahrung und Kleidung versehen. Der von Natur Tätige half dem Trägern, denn ihm nützte seine größere Tätigkeit übrigens nichts, weil er nichts weiter damit erwerben konnte. Täglich wurden von den Richtern alle Häuser und Felder besucht und nachgesehen, ob jeder die Verträge der Gesellschaft erfüllte. Artete einer aus (doch hatte man, bei dem guten Beispiele und dem Mangel an falschem Interesse, in hundertundzwanzig Jahren nur ein Beispiel davon gehabt), so wurde derselbe, mit verbundenen Augen, zu Schiffe gebracht und bei den Si-mi-schi-räs ans Land gesetzt. Der Rückweg war nicht zu finden; niemand kannte die Insel als die Mitglieder des geheimen Bundes in Si-mi-schi-rä, und kein Fremder durfte oder vielmehr konnte die Insel betreten, so wie auch kein Einwohner derselben je reisen durfte noch mochte. Ebensowenig kamen auch ausländische Produkte in das Land, und die Stifter dieses Staats, welche sehr wohl einsahen, daß nichts soviel Einfluß auf die ganze Form eines Staats und die Sittlichkeit der Untertanen hat als der Gang, den die Handelschaft im großen nimmt, wollten keine Art von Handel einführen, um wenigstens so lange Meister über ihr Werk zu sein, als die Natur der Dinge es erlaubte.

Landesverweisung war, wie schon gesagt ist, die einzige Strafe für die, welche die Ordnung des Staats störten. Dies ging um so leichter an, da die Insel gänzlich unbekannt blieb; aber wenn auch das nicht gewesen wäre, so würde man doch nie Todesstrafen eingeführt haben; denn die Richter waren sehr überzeugt, daß ein Mensch dem andern nichts nehmen darf, was er ihm nicht geben kann. Nun kann keine Regierung auf der Welt den Untertanen das Leben weder geben noch zusichern; folglich darf sie auch keinem das Leben nehmen. Jedem in der Welt muß es erlaubt sein, sich sein System von Moralität zu machen und andre Systeme anzuerkennen oder nicht – das ist seine Sache –, aber der größere Teil hat das Recht, sich zu verwahren, daß der Mangel an Grundsätzen bei einzelnen nicht die Ruhe des Ganzen störe. Folglich darf man durch die Mehrheit der Stimmen jemand zwingen, gewisse vernünftige Gesetze anzuerkennen, und ihn, wenn er diese nicht halten will, verweisen, binden, zwingen, fesseln, ihn aus der Reihe der Bürger, aber nie aus der Reihe der Menschen ausstreichen; denn er war Mensch, ehe er Bürger war. Die bürgerliche Existenz gibt ihm der Staat und kann sie ihm nehmen; aber die natürliche Existenz kann ihm nur der nehmen, der sie ihm gegeben hat.

Also beruhete die ganze Verfassung auf Natur. Die Sache selbst regierte der gemeinschaftliche Vertrag und nicht die Person. Leidenschaft und Interesse hatten keinen Einfluß auf Geschäfte, und alles erhielt sich selbst.

Der Umgang zwischen beiden Geschlechtern war so unschuldig als möglich, und dies ohne alle Kunst. Man hatte kein Beispiel von unregelmäßigen Verbindungen, denn die einfache Lebensart erweckte nicht unzeitige Begierden, und eine Menge andrer Dinge, welche bei uns Gelegenheit zu Ausschweifungen geben, fielen auch weg. Sobald jemand zu reifen Jahren gekommen war und der allen Geschöpfen eingepflanzte Trieb zur Begattung sich bei ihm regte, so suchte er sich eine Gattin und fand sie leicht; alle waren gleich reich, fast keine gebrechlich noch entstellt, und beständige Geschäftigkeit und Aufsicht verhinderte die Entstehung sträflicher Begierden. Nie durfte (das war ein allgemein anerkanntes Gewohnheitsgesetz), nie durfte ein Frauenzimmer mit einer Mannsperson allein reden, es müßten denn Mann und Weib gewesen sein. Überhaupt sprach auf der ganzen Insel kein Mensch unter sechzig Jahren alt nie das Geringste heimlich mit einem andern, denn man begriff nicht, was sie sich hätten zu sagen haben können, das nicht jeder hätte hören dürfen, da alle gemeinschaftliches Interesse hatten, jeder frei tun durfte, was recht war, und bei völlig gleicher Erziehung nie, so wie bei uns, der Fall eintrat, daß man mit gewissen Leuten von gewissen Dingen gar nicht hätte reden können.

Der Unterricht der Kinder war sehr einfach. Kenntnis der Natur und der Pflichten, das war es, was man sie lehrte. Man machte sie aufmerksam auf den majestätischen Bau des ganzen Weltgebäudes und zeigte ihnen, wie auch in den kleinsten Teilen dieser großen Maschine die höchste Ordnung und Harmonie herrschten, wie hier nichts unnütz noch untätig wäre, die Vollkommenheit des Ganzen zu befördern. Man stellte ihnen ein lebhaftes Bild ihrer gegenwärtigen Bestimmung auf dieser Welt vor Augen und bewies ihnen, daß, um darin Glück und Ruhe zu finden, sie jene Harmonie der Natur nachahmen müßten. Aus diesem Gesichtspunkte zeigte man ihnen die Wichtigkeit aller häuslichen und geselligen Pflichten nämlich so, daß sie sehen mußten, wie nur die vollkommenste Ausübung der Tugend allein den höchsten Grad von Glückseligkeit gewähren könne und wie derjenige seinem Interesse am mehrsten schadete, am mehrsten sich selbst beleidigte, der andre kränkte. Dies war die Art des theoretischen Unterrichts, den sie erhielten. Der praktische bestand in guten Beispielen, in strenger Aufsicht auf ihre Sitten, in Rührung ihrer Herzen durch seelenerhebende Gespräche – aber hier durfte nur Wahrheit rühren, und gegen alle Eindrücke phantastischer Gegenstände wurden sie stumpf gemacht. Sie durften nichts glauben, als was sie fassen konnten, aber auch an keinem Dinge gradehin zweifeln, das sie nicht einsahn. Von dem Wesen Gottes wurde ihnen in diesen jungen Jahren nichts gesagt, als daß dies Wesen, welches alles schaffe, erfülle und erhalte, über unsre Begriffe und daß der einzige Weg, es näher kennenzulernen, der sei, uns selbst, nach dem Muster des ganzen Weltgebäudes, vollkommner zu machen, daß endlich, wenn sie auf diese Art ihr irdisches Leben nützlich hingebracht hätten, die Priester (die Greise) am Ende ihrer Tage sie, aus eigener Erfahrung, von dem unterrichten würden, was sie als Preis ihrer Arbeit zu erwarten hätten. Kein Mensch auf der Insel erhielt daher eher Unterricht in der höhern Weisheit, in den Geheimnissen der Religion, als nachdem er sechzig Jahre lang nützlich und redlich in der Welt gelebt hatte, und man fand nicht einen, der, wenn er die Tugend ausübte, unruhig gewesen wäre und gefragt hätte, warum er sie ausüben müsse. Jedermann glaubte gern, daß diese Vorschriften würkliche Offenbarungen Gottes wären, weil jedermann fühlte, daß es Resultate der höchsten Weisheit und Güte waren, und sie verlangten keinen ändern Beweis von der Wohltat der Gottheit, als daß sie die Früchte derselben genossen.

Um aber die Herzen der Einwohner von Zeit zu Zeit mit neuem göttlichen Feuer für die Tugend zu erwärmen, sie fester aneinanderzuknüpfen, sie einen Grad von Enthusiasmus fühlen zu lassen, der die Sinne rührte, ohne sie zu betäuben, und der zugleich dem ganzen Volke Gelegenheit gäbe, sich, als eine einzige glückliche Familie, zu gemeinschaftlicher Freude versammlet zu sehen, so war jährlich ein großer religiöser Festtag angesetzt. Hier wurde, mit majestätischen, aber höchst einfachen Zeremonien, die Gottheit durch Gesänge, Tänze und mäßige, fröhliche Mahlzeiten, von den besten Früchten der Insel, gepriesen, und außer diesem Tage, auf welchen sich jeder Redliche das ganze Jahr hindurch freuete, war kein Tag zum äußern Gottesdienste bestimmt, damit diese wohltuende Herzensergießung durch Gewohnheit nicht ihre Kraft verlöre. Jedem einzelnen Menschen aber blieb es überlassen, und es wurde ihm Bedürfnis der Seele, in einsamen Augenblicken, wenn das Herz durch eine Reihe guter Handlungen veredelt war, dies Herz vor dem Schöpfer aller Dinge zu entfalten, und der höchste Genuß des Tugendgefühls war also ihr Gebet und brachte die Menschen der Gottheit näher. An jenem großen Feiertage aber, der eigentlich drei Tage lang dauerte, wurden zugleich alle Hauptangelegenheiten des Volks entschieden, Gerichte gehalten, neue Verteilungen vorgenommen, Ehen geschlossen, die Sechzigjährigen losgesprochen u. dgl. Ich wohnte grade einem solchen Tage bei. Wir standen des Morgens – [hier fehlt Text...][Abweichende Meinung: hier fehlt kein Text, sondern die eingangs erwähnten wenigen Augenblicke sind verstrichen...]


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