Ludwig Kalisch
Schlagschatten
Ludwig Kalisch

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Postillone und Wanderburschen.

Industrie ist die Losung unserer Zeit. Nicht nur daß neue Erfindungen für alte Bedürfnisse gemacht werden; es werden sogar neue Bedürfnisse erfunden, damit sie wieder die Industrie zu Erfindungen veranlassen. Geschwindigkeit aber ist Zweck und Ziel aller unserer Erfindungen. Wir gehen nicht, wir fliegen durch's Leben. Ueberall eine drängende Hast, ein hastiges Drängen. Wie das Thier unter der mit Sauerstoff gefüllten Glasglocke, leben wir, schnellathmiger, lebhafter, aber kürzer und unruhvoller. Nicht der Genuß selbst, sondern das Jagen nach demselben, scheint das Streben der Gegenwart, weil sie mehr an Uebersättigung, als an Hunger leidet. Haus Dampf ist jetzt nicht nur in allen Gassen, sondern in allen Ländern. Mit jedem Tage dehnen sich die Schienen mehr über unsern Erdball aus; mit jedem Tage bricht sich die wildkeuchende Lokomotive mehr Bahnen. 112 Sie fliegt durch Berge und Klüfte, durch Wald und Flur, und bald wird nichts mehr von ihrem Feuerhauche verschont sein. Ach, wir Menschen können nichts Neues schaffen, ohne Altes zu zerstören. Wir können höchstens nur auf Trümmer bauen.

Ein unaussprechlich wehmüthiges Gefühl ergreift mich, wenn ich bedenke, daß vielleicht noch vor dem Ende unseres Jahrhunderts ganz Deutschland von dem ehernen Netz der Schienen umsponnen sein wird, und daß dann zwei der poetischsten Menschenklassen nur noch dem Reich der Sage angehören werden. Ich meine die Postillone und die Wanderburschen.

Welcher Zauber liegt in dem Tone eines Posthorns! Welche Gefühle erweckt es in uns! Kein Instrument wird so sehr mißhandelt, und dennoch vermag uns kein anderes Instrument so zu ergreifen. Ja, eben in den falschen Tönen des Posthorns liegt der eigentliche Zauber, die eigentliche Lyrik, so wie die unorthographisch und ungrammatikalisch geschriebenen Liebesbriefe die eigentlich wahrhaften, die wahrhaft aufrichtigen sind; denn das Herz kennt keine Grammatik, und wo die Liebe anfängt, hört die Regel auf. Ein Postillon bläst nicht nach Noten. Er schließt sich nicht jahrelang von der Welt ab, um dann vor der Welt seine Virtuosität zu 113 zeigen. Er entwickelt sein Talent nicht in der Stille, um dann auf den hohlen Brettern und in den prächtig erleuchteten Salons als Genie zu gelten. Ihm ist der Ehrgeiz kein Sporn, der ihn wie ein Roß durch die Bahn des Lebens jagt. Er bläst nicht der Unsterblichkeit, sondern sich selbst zu Gefallen. In Sturm und Wetter, in Nacht und Nebel unter Gottes freiem Himmel, setzt er sein Horn an den Mund und bläst sein altes Lied mit der alten Liebe. Und wie manches zarte Herz pocht heftig; wie manche schöne Wange erglüht, wenn der Postillon sich hören läßt! Wie oft, freundliche Leserin, bist du schon an's Fenster geeilt, wenn du das Posthorn vernommen? Welche Erwartungen, welche Hoffnungen, welche sehnsuchtsvolle Erinnerungen haben dich dann nicht belebt! War dir der Postillon nicht vielleicht der Bote, dem dein Freund eine süße Kunde aus fernem Lande, einen feurigen Gruß aus einem andern Welttheile anvertraut? Vielleicht vernahmst du sogar in den Tönen des Posthorns die Nachricht, daß der Freund deines Herzens bald an deinem Herzen liegen wird, um sich nie wieder von dir zu trennen. Und wie manche liebende Mutter hat schon freudig gebebt, wenn sie das freundliche Posthorn vernommen, das ihr die Ankunft des Sohnes verkündete!

114 Aber nicht lange mehr wird es dauern, und das freundliche Posthorn wird verstummen müssen vor dem dämonischen, ohrzerreißenden Pfeifen der Lokomotive. Nicht lange mehr wird es dauern, und der letzte Postillon wird zu Grabe getragen werden, und man wird ihm sein Horn mit in die andere Welt geben und unsere Nachkommen werden auf seinem Leichensteine lesen: »Hier ruht der letzte Postillon.« Schon jetzt liegt eine nicht zu verkennende Melancholie, eine bange Todesahnung in den Tönen des Posthorns. Es klingt fast wie ein schmerzlicher Scheidegruß an unser jetziges Geschlecht. Und daran hat der Dampf, der Dämon unserer Zeit, Schuld. –

Aber auch die Wanderburschen werden aufhören; denn man wird künftig nur einen Kopf, aber keine Füße mehr brauchen, um in der Welt fortzukommen. Die Wanderburschen sind eine unserem Vaterlande durchaus eigenthümliche und noch gar nicht genug gewürdigte Menschenklasse. Bei ihnen hat sich noch ein Rest von der Poesie des Lebens erhalten, die man bei Anderen vergeblich suchen wird. Mit dem Knotenstock in der Hand durchmessen sie die entferntesten Länder und bewahren überall den deutschen Sinn und das deutsche Lied. Ein großer Theil unserer Volkslieder verdankt nämlich unseren 115 Wanderburschen sein Entstehen und seine Erhaltung. Die Wanderlust, ein den Deutschen eigenthümlicher Trieb, zeigt sich bei ihnen in der höchsten Gewalt. Sie haben nicht Ruh und Rast. Wo es ihnen am besten geht, fühlen sie sich am unbehaglichsten. Auch die deutsche Grobheit, jene starke Seite unserer Nationalität, wird durch sie gehegt und gepflegt. Fechten, Singen, Trinken und Prügeln sind die vier Elemente, aus denen ihre Welt besteht. Ihr Geselligkeitstrieb verbindet sie schnell auf's innigste, und schaarenweise, wie die Wandervögel, ziehen sie ihres Weges. Sie fechten gemeinschaftlich; sie singen gemeinschaftlich; sie trinken gemeinschaftlich und prügeln gemeinschaftlich. Wenn sie sich aber müde gesungen, wenn ihnen der letzte Heller ausgegangen und sich kein erklecklicher Gegenstand der Anfechtung bietet, ja, wenn sich ihnen Niemand zeigt, mit dem sie Händel anfangen können: prügeln sie sich selbst gegenseitig durch, aber in aller Freundschaft. Wie das Sohlleder wird auch die Wanderburschentreue erst durch oft wiederholtes Schlagen fest und dauerhaft. Die Studenten trinken, die Handwerksburschen prügeln gewöhnlich Brüderschaft. In solchen Freundschaftsbündnissen, die von den derbsten Knoten befestigt werden, zeigt sich so recht der Werth einer guten deutschen Haut, die erst weidlich gegerbt werden 116 muß, wenn sie auf dem Markte des Lebens etwas gelten soll.

Ich habe eine besondere Zuneigung zu den Wanderburschen; denn ein Wanderbursche war es, der mich in den Anfangsgründen der Liebe unterrichtet. Es war im Frühling 1830. Die Bäume standen in voller Blüthe und die Gänseblümchen hatten ihre schmachtenden Augen aufgeschlagen. Kokette Heckenrosen entfalteten ihre Reize vor dem leichtsinnigen Zephyr, und muntere Vögel zwitscherten die geheimnißvollsten Lieder. Es war ein Frühling, der die Knospen großer Revolutionen trieb, Knospen, aus denen die Prachtblume der Freiheit sich entwickeln sollte. Ich glaube, daß sogar die Vögel von dieser Prachtblume sangen; denn nie hab' ich sie wieder so kräftig, so begeistert singen hören. Ich hatte damals kaum das fünfzehnte Jahr überschritten; ich stand in der Blüthe der rosigen Flegeljahre und betrachtete die ganze Welt als mein Eigenthum. Ich schritt munter auf ein schlesisches Dörfchen zu, dessen Kirchthurmknopf in der Mittagssonne blitzte und das sich fast in der Mitte eines duftenden Tannenwäldchens befand. Es was Alles umher so still, so ruhig, als hielte die Natur ihre Siesta. Plötzlich dringt das bekannte Lied: »Nachtigall, ich hör' dich singen« in mein Ohr.

117 Es lag eine solche Melancholie, eine solche Schwermuth in dem Tone, daß ich gewaltig davon ergriffen wurde. Als ich mich umsah, bemerkte ich, daß der Sänger ein Handwerksbursche war, der auf dem Boden ausgestreckt lag und mit dem Knotenstock im Sande schrieb. Es war ein schöner Junge mit großen blauen Augen und goldgelben Haaren, die ihm wild um das bleiche Antlitz hingen. Es lag so viel sanfter Schmerz, so viel Gutmüthigkeit in seinen regelmäßigen Gesichtszügen, daß ich sogleich die lebhafteste Theilnahme für ihn empfand. Ich setzte mich neben ihn, und als ich ihn um die Ursache seiner Thränen frug, die jetzt seinem Auge entquillten, rief er, statt der Antwort, nur den Namen: »Anna.«

»Wer ist denn diese Anna?« frug ich den Trauernden.

»Anna,« erwiederte der Bursche, »ist mein Mädel und wohnt in Neiße, wo die preußischen Gewehre fabrizirt werden. Sie hat dunkelbraune Augen und dunkelbraunes Haar; sie ist gewachsen wie eine Tanne und hat mir diesen Tabaksbeutel gestrickt. Sie hat mir auch zwei blanke Thaler in die Tasche gesteckt, als ich auf die Wanderschaft ging und hat mir geschworen, daß sie mich nicht vergessen wird.«

118 »Aber warum diese Thränen?« fragte ich den Begeisterten.

»Das thut die Liebe,« erwiederte er seufzend.

»Die Liebe?« wiederholte ich gedehnt. »Was ist die Liebe?«

»Die Liebe,« seufzte der Gefragte, »das ist ein schweres Uebel, von dem man nicht geheilt sein will. Wenn einem das Herz bricht und der Kopf konfus wird und wenn man keinen Appetit hat und immer an Anna in Neiße denkt, wo die preußischen Gewehre fabrizirt werden, das ist die Liebe. – Da sitz' ich nun hier,« fuhr er fort, »und warte auf die »Fackel,« die im Dorfe fechten geht, und wir haben doch heut noch drei lange Meilen zu machen. O du liebe Anna!«

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als die Fackel vom Dorfe herbeigesprungen kam. Nie ist mir wieder eine solche putzige Gestalt vorgekommen. Er war ein Kerl, lang und dünn wie ein Blitzableiter, mit glühendrothen Haaren, auf denen ein desperater weißer Filz sich unaufhörlich hin und her bewegte. Je näher er uns kam, desto lebhafter sprang er, so daß seine langen zeisiggrünen Frackschöße rechts und links in den Lüften flatterten. Noch keinem Schneider hat man sein Handwerk so leicht ansehen können wie dieser Fackel.

119 »Du lieber Himmel, was bin ich doch für ein Schockschwernöther!« rief die Fackel, als sie bei uns anlangte. »Das ganze Dorf hab' ich total ausgefochten.«

Und mit diesen Worten schüttelte er Schinken, Butter, Brod und Käse aus einem Tuche und legte es vor den blonden Burschen.

»Ich glaube gar, du hast wieder geflennt,« sagte er hierauf im feinsten Fisteltone. »Schlag dir die Dirne aus dem Sinn, du deutsches Gemüth. Ja, du bist ein deutsches Gemüth; denn du denkst immer an deine Liebe und hast dir seit Februar das Haar nicht mehr gekämmt. Die Schwärmerei erstreckt sich schon auf deinen Rock, der besonders an den Ellenbogen eine sehr schwache Gesundheit genießt. Friß, du deutsches Gemüth; wir müssen noch heut nach Prausnitz marschiren.«

Das deutsche Gemüth berührte aber keinen Bissen, sondern betrachtete schwermüthig den gestrickten Tabaksbeutel und dachte an seine Anna in Neiße, wo die preußischen Gewehre fabrizirt werden. Nachdem die Fackel das ganze Magazin verzehrt hatte, packte sie das deutsche Gemüth beim Arm und schlug mit ihm den Weg nach Prausnitz ein.

Wie oft hab' ich seit jener Zeit an dich gedacht, du blondes deutsches Gemüth! Wie oft ist mir deine 120 Erklärung von der Liebe in's Gedächtniß gerufen worden! Ja, wenn einem das Herz bricht und der Kopf konfus wird und wenn man keinen Appetit hat, das ist die Liebe. Wer weiß, wie es dir seit 1830 ergangen ist, du deutsches Gemüth! Vielleicht hat dich der Tod in einem verborgenen Winkel der Erde überrascht, fern von Neiße, wo deine Anna wohnt und die preußischen Gewehre fabrizirt werden. Vielleicht auch bist du, das Herz voll Sehnsucht, nach Jahren wieder in Neiße eingekehrt und da ist dir eine dicke, gesunde Frau mit einem muntern Buben oder Mädchen an der Hand begegnet und das war deine Anna, die sich während der Zeit mit einem soliden Bürger glücklich verheirathet hatte. Vielleicht hast du sie treulos und vergnügt wieder gesehen. Du aber bist ihr gewiß nicht treulos geworden; denn du sahest aus wie Einer, dessen Herz sich täuschen läßt, aber nicht täuschen kann und der auf dem Grabe seiner ersten Jugendliebe langsam hinstirbt. –

Es ist kaum glaublich, wie viel Herzlichkeit, wie viel Aufopferungsfähigkeit unter den Wanderburschen herrscht. Sie theilen Nahrung, Geld und Kleidung miteinander und haben keinen Begriff von der Eigensucht der Welt; daher findet man unter ihnen die eifrigsten Anhänger des Communismus. Trotz der cynischen Rohheit, die bei 121 ihnen nicht selten allzu stark ausbricht, bergen sie ein kerngesundes, für das Wohl und Weh des Nebenmenschen tief fühlendes Herz. Aber nicht lange mehr werden unsere Heerwege von diesen Wanderburschen belebt sein. Schon jetzt bemerkt man sie, besonders am Rheine, wo die Dämpfer und Lokomotive brausen, ziemlich selten auf der Heerstraße. Auf den Dampfbooten und in den Dampfwagen verlieren sie aber ihre ganze Eigenthümlichkeit, weil sie da weder singen noch fechten dürfen. Gewiß sieht noch dieses Jahrhundert den letzten Wanderburschen wie den letzten Postillon zu Grabe gehen und unsere Nachkommen werden dann so viele schöne und kräftige Volkslieder nur lesen können, die wir noch aus muntern Kehlen in der freien Natur haben singen hören. Der weltbeherrschende Dampf erstickt das Herz der Poesie. Der Zeitgeist selbst steht nicht mehr auf eigenen Beinen und wenn er fortkommen will, muß er zu den Dämpfern und Lokomotiven seine Zuflucht nehmen. Es ist aber eine große Frage, wem diese Dampf-Allgewalt schneller Erlösung bringen wird, der Menschheit oder den Pferden. 122

 


 


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