Ludwig Kalisch
Schlagschatten
Ludwig Kalisch

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An dem Grabe
eines
seltenen Menschen.

Laßt mich von den unvergleichlichen Tugenden eines Mannes reden, dessen Asche unter diesem kalten Steine schlummert. Ich habe ihn gekannt und was ich jetzt von ihm sagen werde, hab' ich an ihm selbst erfahren. Die Tugenden, die den Menschen am meisten zieren, waren in ihm am trefflichsten ausgebildet, und diejenigen Laster, deren fast alle Menschen mehr oder minder fröhnen, hatte er höchstens dem Namen nach gekannt. Schmeicheleien hat er nie und Niemanden gesagt und niemals beachtet. Kein verleumderisches Wort ging je über seine Lippen und auf die Reden böswilliger Thoren hat er nie gehört. Mit leeren Versprechungen hat er seine Nebenmenschen niemals abgespeist und eitle Prahlereien aufgeblasener Windbeutel fanden keinen Eingang in sein Ohr. 48 Niemals hat er die Geheimnisse Anderer belauscht, oder sie böswillig und leichtsinnig ausgeplaudert. Seinen eigenen Weg gehend, war es ihm gleichgültig, wer und was man von ihm sprach und selbst der verschmitzteste und abgefeimteste Heuchler konnte sich nicht rühmen, je bei ihm Gehör gefunden zu haben. Seine Schwächen durch schöne Worte zu bemänteln, war ihm eben so fremd, als seine Eigenschaften ruhmredig auszuposaunen. Nie hat er sich, selbst nicht in seinem heftigsten Zorn, zu bösen Redensarten hinreißen lassen und eben so blieb er taub, wenn man durch böse Redensarten seine Freunde von seinem Herzen und seiner Achtung trennen wollte. Von den größten Gichtschmerzen geplagt, die ihn leider zu früh der Menschheit raubten, hat er doch durch keine Silbe seine Qualen zu erkennen gegeben. So sah er schweigend den Tod nahen und so ging er schweigend in eine bessere, schönere Welt. Und dieser edle Mann, dessen große Tugenden ich hier erwähnt, hatte doch einen großen, beklagenswerthen Fehler; er war leider – taubstumm. 49

 


 


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