Jean Paul
Leben des Quintus Fixlein
Jean Paul

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Mein Auditorium kopierte mein Lächeln nach, und ich fand solches zwar richtig, aber zu laut. Nun wurden Verbeugungen rekapituliert, und ich nahm alle gymnastische Übungen der Höflichkeit bis auf die kleinste Schwenkung durch. Ich zeigte ihnen, daß ein Mann von echter Lebensart selten den Hintern vorweise, welches ihm freilich entsetzliche Mühe macht. Ich ging daher zur Türe hinaus und kam wieder herein und zog sie mit der leeren Hand so nach der Anstands-Syntaxis zu, daß ich nichts zeigte – ›man soll‹, sagt' ich, ›da man das Ende des Menschen wie das eines Gartens durchaus verstecket halten muß, lieber mit dem Ende selber die Türe zudrücken oder gar sie offen lassen, welches viele tun.‹ Jetzt mußte ein Detachement so hinausrücken, daß es mir immer ins Gesicht guckte, und so wieder herein. ›In meiner Jugend‹ (sagt' ich) ›hab' ich mich oft Viertelstunden lange herumgeschoben und rückwärts getrieben, um nur diese Rückpas in meine Gewalt und Füße zu bringen.‹

Der eitle Gallier trauet uns nicht zu, daß wir Generalverbeugungen an ein ganzes Zimmer leicht und zierlich zutage fördern; ich aber schwenkte wenigstens eine allgemeine Verbeugung als Paradigma flüchtig vor und war schon beruhigt, daß meine Leute nur die Spezial-Verbeugung an jeden dasigen Sessel, die faßlicher ist, leidlich nachbrachten. Nach diesen syntaktischen Figuren trabte man eiligst die Treppe hinab, und meine Mimiker repetierten und probierten (zum Spaße) beim Eintritte vor dem Wirte die obige Gestikulation.

Unten in der Stube hatten die zwei Kinder des Wirts eine Brezel angefasset und zerrten spielend daran, wer unter dem Abreißen den größten Bogen behielte. Das Mädchen hatte schon vor dem Essen die linke Hand auf eine rechte Fingerspitze gelegt und andern gewiesen, › so lang nur hätte sie den Mann (mich) lieb; hingegen die Frau (Kordula) hätte sie so lang lieb‹, wobei sie die linke Hand oben an den Ellenbogen einsetzte. Ich verbargs als Erzieher dem Wirte nicht, daß es seinen Kindern an allgemeiner Menschenliebe fehle, und das Brezelreißen verdürbe sie vollends und nährte Zerstreuung, Eigennutz und Hang zu läppischen Dingen. ›Wo habt ihr euere Schreib- oder Schmierbücher? Setzt euch und schreibt euer Pensum!‹ sagt' ich gebieterisch.« –
 

– Erwachsene, zumal Weiber, haben sich ordentlich angewöhnt, den Kindern immerfort zu verbieten – wenigstens vorher, ehe sie es ihnen erlauben – und alle ihre kleinen Unternehmungen zu schelten, zumal ihre Freuden.

Aber seid doch froh, daß sie sich noch selber keine vergällen! Könnt ihr ihnen denn eine einzige vom Munde weggerissene späterhin wiederholen? Und wär's auch: könnt ihr ihnen denn den jungen durstigen Mund und Gaumen wiederbringen, womit sie sonst jeder süßen Frucht einwuchsen und sich ansogen an sie? Der ewig sparende Mensch, der jedes spätere Vergnügen für ein größeres und weiseres hält, der im Frühling nur wie im Vorzimmer des Sommers lauert und dem an der Gegenwart nichts gefället als die Nachbarschaft der Zukunft, dieser verrenkt den Kopf des springenden Kindes, das, ob es gleich weder vor- noch rückwärts blicken kann, doch bloß vor- und rückwärts genießen soll. Wann mir Eltern durch Gesetzeshämmer und Ruten das Laubhüttenfest der goldnen Kindheit in einen Aschermittwoch verkehret haben und den freien Augarten in einen bangen Gethsemane-Garten: wer reibt mir denn die Farben und malet mir, sobald nur hektische Jugenderinnerungen wie Martyrologien vor mir sitzen, meinen düstern Kopf mit frischen erquickenden Landschaftsstücken des Jugend-Otaheitis in jenen trocknen männlichen Stunden aus, wo man ein amtierendes geschätztes Ding und ein gesetzter ordentlicher Mann ist und außer seinem Brotstudium noch sein hübsches Stückchen Brot und auch sein bißchen Ehre dabei hat und so vor lauter Fort- und Auskommen in der Welt nun nichts weiter in der Welt werden will als des – Teufels?
 

– »Ich führte um ein Uhr meine Leute durch die Hauptstraßen ins Höfische Gymnasium, und wir konnten um so leichter und genauer die ganze Bauart aller Klassen, der Bänke und eines Katheders besichtigen, da glücklicherweise wegen der Ferien keine Seele darin war als der Alumnus, der uns herumführte. Ich vergeude vom großen Kapital meines statistischen Reisejournals noch immer wenig, wenn ich in diesem biographischen im allgemeinen mitteile, daß die Stadt ein Rathaus und vier Kirchen hat. Um diese fünf corpora pia gingen wir bloß prozessionsweise herum, und sie sind ganz gut. Vom letzten öffentlichen Gebäude, in das wir wollten, vermißt' ich sogar die Ruinen, vom Pranger mein' ich.

Ich härte gern junge Leute gegen den Eindruck, den große Zirkel auf sie machen, durch Übung ab. Nach diesem Prinzip führte ich ohne Bedenken meine kleine gelehrte, aber verlegene Sozietät aufs Billard; auch weiß ich nicht, ob einem Schulmann gerade jene façon aisée gebrechen müsse, womit man Assembleen besticht. Ich traf zu meiner größten Freude einen alten Leser meiner unbedeutenden Programmen an, nämlich den vorigen Setzer der hiesigen Offizin. Einige griechische Handelsleute hatten Billard-Queues und zählten neu-griechisch; da ich später auf mein Gesuch mit von der Partie sein durfte: so zählt' ich so gut wie die Griechen meine Bälle neu-griechisch, weil es doch wenigstens vernünftiger ist als französisch mitten in Deutschland.

Ehe wir von Hof abschieden, mußt' ich mit dem Wirte noch einen kleinen Exekutiv- und Injurienprozeß über die Stube führen, wo wir uns verbeugt und gelächelt hatten, weil er sie anschreiben wollte. Ich warf ihm aber nichts hin als den Fehde-Handschuh. In solchen Umständen ists Beste, hinter dem nachgeschrienen Pereat und dem Nachstoßen in Famas zweite Trompete gelassen davonzumarschieren und sich nach Ekelnamen, wie der große Themistokles nach Schlägen, aus höhern Absichten nicht umzusehen.

Eine niederfallende Sündflut, die mit uns bis nach Schwarzenbach an der Saale zog, wässerte den Pastor Sturm aus Versehen wie einen Stockfisch ein, und dieser ganze Weg wurde verdrüßlich unter wenigen Lehren zurückgelegt. Ich beruhigte meine Armee über ihre Fatiquen mit den weit größeren der Xenophontischen. Gleichwohl schickte ich im Marktflecken Schwarzenbach, wo wir pernoktierten, einige Primaner herum, die sich überall erkundigen mußten, ob im Flecken kein Insaß oder Fremder wohnhaft wäre, der ein lahmes elendes Bein hätte, woran er spürte, obs fortregnete oder nicht. Denn Hühneraugen sind gleichsam die Fühlhörner und erfrorne Fußzehen die Zeigefinger künftigen Wetters. Dem ganzen Ort aber gebrach es an einem solchen weissagenden Fuß. Ich wäre vermutlich gar umgekehret, wenn mir nicht Mr. Fechser eröffnet hätte, wir könnten seinem vom Fichtelberg zurückmüssenden Herrn Pflegevater entgegengehen, der mehr vom Wetter voraussage als ein Sturmvogel: in Hoffnung eines meteorologischen Responsums beschloß ich den Fortsatz der Schulreise.

Abends reichten bei mir einige fleißige Primaner die Bittschrift um Dispensation zum Kartenspielen ein; ich erteilte sie, aber unter der Einschränkung, ich verstatte so etwas nur auf Reisen (wie geringe Lehrer zu Fastnacht), etwa so wie den Branntewein. Solche, die gar keine Karte kannten, würdigte ich mehr und mahnte sie zum Beharren an; ja um sie gleichsam zu belohnen, setzte ich mich mit ihnen an einen Tisch und gab ihnen – weil hier theoretische Kenntnis ebenso ersprießlich ist, als praktische Übung verderblich – in den gewöhnlichsten Spielarten Unterricht, im Färbeln, im Kauflabeten, Sticheln, im Saufaus und Kuhschwanz. – Darauf mußt' ich mir von der Wirtsmagd den rechten nassen Stiefel, indem ich mich mit dem linken auf ihr Rückgrat aufstemmte, herunterreiten lassen, so arg hatte uns das Wetter zugesetzt.

Morgens wartete ich, nachdem ich eine Fälbelmütze um geringes Geld erstanden – der Winter überteuert alle Mützen –, dem da seßhaften Adel auf, um meine Tochter gleichsam im Hafen einer Domestikenstube abzusetzen. Ich brachte sie nirgends unter; um so reiner ist das Lob, das ich dem dasigen Landadel für die Herablassung erteile, womit er einen Schulmann empfing. Ich wurde – ich kann es nie vergessen – in die Wohnzimmer selber gezogen, über die Zahl meiner Dienstjahre, Intraden und Kinder aufmerksamst ausgefragt und nicht immer ungern (obwohl unwürdig) angehört, wenn ich zuweilen in jener saturischen Manier repartierte, von der ich im Valerius Maximus schöne attische Salzscheiben gekostet und geleckt. In der Tat, ein hoher und niederer Adel ist stets gesonnen, Gelehrte mit ehrenhafter Auszeichnung zu empfangen, nur müssen weder die Körper der Gelehrten (verlangt er) in adeligen Salons Pillorys und Schandpfähle daran gebundener Seelen vorstellen, noch muß der Anzug den Panzern in der Bastille gleichen, die jedes Gliedmaß starr und unbeweglich machten. Und ich lehne mich gar nicht dagegen auf, wenn der Adel noch außer dem Savoir vivre, das aus Büchern geschöpfet werden kann, von bürgerlichen Gästen begehrt, daß sie das weiche Wachs der Biegsamkeit und der Lobsprüche (so wie die Bienen Wachsscheiben aus allen Fugen ihres Unterleibes drücken) in Mienen und Worten nicht knauserisch von sich geben. Jetzt ist überhaupt die Zeit, wo der höfliche Deutsche den frankreichischen Grobian, der sonst den Vorsprung hatte, überflügeln kann.

Wir ließen unter abscheulichem windigen Wetter den Marktflecken hinter uns; dennoch hielt uns – da heute lateinischer Dialog getrieben werden sollte, wozu ich ihnen abends vorher den Terenz und Plautus zum Präparieren hergegeben – nichts ab, durch den ganzen Kirchenlamitzer Wald Lateinisch zu sprechen. Es ist aber wenig durch bloße Kollegien für den Humanisten erbeutet, wenn man nicht wie ich die Materien der Diskurse eigensinnig aushebt und absondert, wie die Grammatiken neuerer Sprachen wirklich tun. Ein Lehrer muß, wenn er das Fruchthorn sachdienlicher Phrasesbücher bis an die Spitze ausschütten will, heute z. B. bloß über die Verehrung der Gottheit oder Gottheiten – morgen bloß über Kleider – übermorgen über Haustiere in der herrlichen Staats- und Hofsprache der Alten reden und jeden andern, für die heutigen Phrases fremden Gedanken verweisen. Nach diesem Normal hatten wir heute – als eines der gewöhnlichsten Entrevuen-Kapitel im gemeinen Leben – lateinisch das Fluchen und Schwören vorzunehmen und abzutun, womit ich noch das Schimpfen verband. Mr. Fechser tat schöne Flüche, die wohl zeigten, daß er den Plautus nicht bestäuben lassen; wieder andere stachen durch Schwüre und mehrere durch Schimpfreden hervor, je nachdem die Memorie glücklich war oder der Fleiß anhaltend oder beide eisern.

In Kirchenlamitz trieb uns ein Guß ins Wirtshaus, wo wir das Fluchen fortsetzten. Ich beobachtete mit einiger Belustigung das Erstaunen so pöbelhafter Menschen, als Wirtsleute sind, das sie befiel, da ich meinen Schülern – an einem solchen Schimpffeste, als die Alten wirklich am Bacchusfeste und die Ephesier am 22. Januar begingen und jetzt noch die Neuern an Weinlesen und auf der Themse – schwere Schimpfreden und Flüche aus Sachsenhausen zum Vertieren vorlegte, als: ›Der Teufel soll dich zerreißen, das Donnerwetter soll dich neun Millionen Meilen in den Erdboden schlagen‹; wobei der Lehrer immer mit Phrasen dem Lehrling unter die Arme greifen muß. Ich zog meinen Vorteil davon, als zwei Schüler sich über ihr scherzhaftes Schimpfen im Ernste entzweiten, und verstattete ihnen gern, aufeinander loszuziehen, aber nur in toter Sprache.


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