Jean Paul
Leben des Quintus Fixlein
Jean Paul

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Abends wanderte die pädagogische Knappschaft und ihr Ladenvater im adeligen Pfarrdorfe Töpen in Voigtland ein. Das allgemeine Logement war im Wirtshaus, das der Vatikan oder das Louvre des adeligen Rittergutsbesitzers stets anschauet – ich sage Louvre, nicht in Vergleichung mit dem Palast des Nero, der ein kleines Rom im großen war, eine Stadt in der Stadt (conf. Voss. var. observat.), sondern in Vergleichung mit den zellulösen Kartausen und vier Pfählen und Hattonischen Mäusetürmen eines und des andern Schulmannes. Sapienti sat! – –

Als der Rektor hinter seiner Tochter und seinen Söhnen eintrat: stieß ihm das Unglück zu, daß er seinen Wirt nicht grüßen konnte. Die sämtlichen Hunde der Reisenden hatten zwei Töpener (es war der Spitz des Hauswirts und der Hühnerhund des Jägers) bei den Haaren und Ohren. Die Tierhatze wurde allgemein, und kein Hund kannte mehr den andern. Der Wirt, ein Mann von Mut und Kopf, legte sich zuerst zwischen die beißenden Mächte als Mediateur und suchte sich zuvörderst den Schwanz seines Hundes herauszufangen und wollte ihn an diesem Hefte aus der verdrüßlichen Affäre ziehen. Mehrere folgten nach, und jeder ergriff den Schwanz des seinigen. Und in diesem Wirrwarr, als die Tochter des Rektors dareinschrie – als der Jäger dareinschlug mit einer Reichsexekutionspeitsche auf Menschen und Vieh – als die Eigner dastanden und gleichsam die sechs Schwanz-Register herausgezogen hatten und als daher sozusagen das Schnarrwerk des Orgelwerks ging und die Tumultuanten bollen – und als der Rektor selber bei diesem Friedenskongreß ein Friedensinstrument, nämlich den Schwanz seines Saufinders, in Händen hatte: so war er mit Not imstande, das Salutieren nachzuholen und zum Wirte zu sagen: ›Guten Abend!‹ – Plutarch, der durch Kleinigkeiten seine Helden am besten malet, und die Odyssee und das Buch Tobias, die beide Hunde haben, müssen hinreichen, gegenwärtige Aufnahme einer kleinen scherzhaften Gato- und Onoskia-Machie zu decken.«
 

– Herr Fälbel triffts. Ich ärgere mich, wenn die Menschen mit dem Namen »Kleinigkeiten« schelten. Was habt ihr denn anders? Ist denn nicht das ganze Leben – bloß seine erste und seine letzte Minute ausgenommen – daraus gesponnen, und kann man nicht alles Wichtige in einen zusammengedrehten Strang von mehrerern Bagatellen zerzausen? – Unsere Gedanken ausgenommen, aber nicht unsere Handlungen, kriecht alles über Sekunden, jede große Tat, jedes große Leben zerspringt in den Staub der Zeitteile; – aber eben deswegen, da alles Große nichts ist als eine größere Zahl von Kleinigkeiten, da also die Vorsehung entweder Kleinigkeiten und Individuen oder gar nichts auf unserem Rund besorgen muß, weil diese nur das Ganze unter einem längern Namen sind: so kommt die Gewißheit zu uns, daß der überirdische Genius nicht bloß die Schwungräder des Universums und die Ströme dazu schuf, sondern auch jeden einzelnen Zahn der Räder...
 

»Abends wollten einige Schüler auf die Berge gehen, andere im Dorfe herum, zwei gar zu den allergemeinsten Leuten; aber der Rektor setzte sich dagegen: er stellete denen, die abends die Natur beschauen wollten, vor, daß morgen ohnehin (nach seinem Operations- und Reiseplan) natürliche Theologie und Vergnügen an der Natur dozieret und rekapitulieret werden müßte. Der Rektor, welcher gerne glaubt, ein Schulherr müsse seine Scholaren auf Reisen zu belustigen trachten, wie sogar der Neger-Handelsherr die Sklaven zu tanzen, zu singen, zu lachen nötigt, dieser gab ihnen Befehle zum Lachen, setzte sie um sich herum und scherzte ihnen an einem ovalen Tische nach Vermögen vor. Ich gestehe, Scherz ist statthaft, und wenn der selber scherzhafte Cicero richtig bemerkt, daß gerade ernste Männer gern und glücklich spaßen: so möchte wohl mancher bestäubte Schulmann mehr echten Ansatz zu lachenden SaturenSo schreib' ich Satire, weil diese nach Casaubon vom Wort Satura herkommt, d. h. eine Schrift von buntscheckigem Inhalt; daher lanx satura eine Kompotiere mit allerlei Obst. verschließen als viele gepuderte Possenreißer; auf ähnliche Weise bemerkte auch der Graf von Buffon, daß die meisten Nachtvögel, besonders die Schubut-Eule (Minervens und Athens Vogel), trotz ihrer altväterischen Außenseite überströmen von Schnurren, Schnacken und Charakterzügen.

Der Abend verlief ungestört: bloß über den vollen Stecken geschwärzter Leberwürste, den Fälbel hereinzuholen befahl und auf den sich die Kirwane gleichsam wie auf einen Fruchtast setzte zum soupierenden Abpflücken, ringelte und fälbelte der Wirt sein Gesicht selber zu einem Wurst-Endchen zusammen (wenns nicht über etwas anders war) – genug Fälbel bekümmerte sich wenig um das Gesicht und ließ es fälbeln. Er bestellte lieber für sich und seine Gesellschaftskavaliere den ganzen Fußboden zum Nachtlager; bloß ein Merseburger Fuhrmann lag neben seiner Tochter, als Strohnachbar.

Dennoch übersetzte uns sämtlich am Morgen darauf der Wirt in seiner Liquidation um zwei bis drei Kreuzer leicht Geld, und zwar an demselben Morgen, wo der Rektor das Vergnügen an der Natur vorzutragen hatte. Aber Fälbel glaubte seinen Schülern das Muster einer erlaubten Sparsamkeit dadurch zu geben, daß er anfing, mit dem Traiteur zu fechten und ihm seinen Abstand von den Herrnhuter und Londner Krämern, die nichts darüberschlagen, so lange unter die Augen zu halten, daß er wirklich einen Groschen herunterhandelte und daß der müde Wirt giftig fluchte und schwor, er wollte den Rektor und seinen Rudel trotz ihren Bratspießen, wenn sie wieder Geräuchertes bei ihm zehren wollten, mit Heugabeln und Dreschflegeln empfangen. Ein lächerlicher Mann!

Fälbels Methode auf lehrreichen Schulreisen ist, jeden Tag eine andere Wissenschaft kursorisch vorzunehmen: heute sollte die Gesellschaft vier Ackerlängen vom fluchenden Garkoch die schöne Natur betrachten unter Anleitung von Sturms Betrachtungen der Natur den ersten Band. Sturm wurde ausgepackt und aufgeschlagen, und jetzt war erforderlich, daß man die Augen vergnügt in der ganzen Gegend herumwarf; aber ganz fatal liefs ab. Nicht etwa darum, weil Regenwolken mit der Sonne aufgingen und weil der Rektor die Sturmische Betrachtung über den dritten Juni und über die Sonne plötzlich wieder zumachen mußte, da er kaum die schönen Worte abgelesen: ›Ich selbst fühle die belebende Kraft der Sonne. Sobald sie über meinen Scheitel aufgeht, breitet sich neue Heiterkeit in meiner Seele aus.‹ – Denn das verschlug wenig, da ja zum Glück in den nämlichen Band auch eine Betrachtung auf den siebenzehnten April und über den Regen eingebunden war, die man denn augenblicklich aufsuchte und verlas; sondern das eigentliche Unglück dabei war, daß, da (es wird wegen der Kürze eines so langen Programmes der Rektor künftig sagen ich) ich folgendes hatte vorbetrachten lassen: ›In dem eigentlichsten Verstand verdient der Regen ein Geschenk des Himmels genannt zu werden. Wer ist imstande, alle Vorteile des Regens zu beschreiben? Lasset uns, meine Brüder, nur einige derselben betrachten!‹ – daß ich dann abschnappte, weil ich mußte – – und wahrlich, wenn vor einem Präzeptor, der mit den Seinigen Sturmische und eigne Betrachtungen über den Regen auf der Kunststraße anzustellen vorhat, jede Minute kreischende Fuhrmannswägen mit stinkendem Kabljau vorüberziehen, unter denen ein keifender Hund unversehrt mit hinspringt – wenn ferner taumelnde Kohorten von Rekruten, die den Schulmann noch stärker ansingen und auslachen als feinere Werbeoffiziere selber, und wenn Extraposten, die er grüßen soll, ihm über den Straßendamm entgegentanzen: so muß er wohl den Pastor Sturm einstecken, es mag regnen oder nicht.

Unverrichteter Sachen kamen wir nach Zedwitz herab. Eine schöne englische Pappelinsel – dem Gutsherrn angehörig – suchte uns über eine kouleurte Holzbrücke in sich zu ziehen; aber der Rektor würde sich diesen Eintritt in ein fremdes Gebiet nicht herausgenommen haben, wenn nicht der erörterte Monsieur Fechser versichert hätte, ›er verantworte es, er kenne den Koch‹. In der Insel wurde so viel ausländische Botanik, als da sozusagen wuchs, getrieben, und ich ging mit meinen Schülern um die Bäume herum und klassifizierte sie meistens: die botanische Lektion hielt vielleicht für die Sturmische schadlos.« –
 

– Unter der Klassifikation konnte Kordula, seine Tochter, hingehen, wohin sie wollte. Der große Edukationsrat oder Edukationspräsident fragte niemals viel nach ihr oder nach Weibern: »Weiber«, sagte er, »sind wahre Solözismen der Natur, deren peccata splendida und Patavinität, oder geborne Kolumbinen und schlafende Monaden.« Die arme Kordula hatte längst ihre Mutter, die zugleich ihr Vater war, durch den Todesengel von ihrem Herzen wegführen sehen: der alte Sturmische Betrachter hatte sie in die letzte Hütte – gleichsam die Stiftshütte eines künftigen Tempels – hinuntergezankt. Kordula wußte wenig, las nichts, als was sie Sonntags sang, und schrieb keinen Buchstaben als den, womit sie schwarze Wäsche signierte, und sie war weiter nichts als schuldlos und hülflos. Ihr Vater ließ wie die meisten Schulleute – durch die Römer verwöhnt – nichts einer Frau zu, als daß der Körper ein Koch wurde und die Seele eine Köchin. Sie schlich sich heute mit ihrem zusammengedrückten Herzen, in dem noch keine Leiden gewesen als wahre, und das noch nicht von artistischer Empfindsamkeit bis zum Lahm- und Schlaffwerden auf- und zugezogen worden, von der gelehrten Menge ab und setzte sich an das Ufer des Wasser-Ringes, der die schöne Insel, wie ein dunstvoller Hof den Mond, umfasset, und sah eine Pyramide jenseits des Wassers für ein Grabmal an, weil sie keine andere Pyramiden kannte als die über Särgen und weil ihr heute geträumt hatte, ihre Mutter habe wieder mit unverwesten Lippen gelächelt und ihren Arm liebend nach ihr ausgestreckt, aber er sei zu kurz gewesen, weil die Hand davon weggefallen war. Die kunstlose Kordula wußte nicht, welches Druckwerk ihr Herz auseinanderpresse – sie erriet es nicht, daß der mit einer blutigen Morgenröte überspritzte Himmel und daß die zusammenfließende Grasmücken-Kirchenmusik im Tempel der Natur, daß das ruhige Wiegen und Taumeln der Pappeln und die Regentropfen, die ihr Schwanken gleichsam vergoß, daß alles dieses ihre einsame Seele trüber machte und das öde Herz schwerer und das kalte Auge heißer. – – Sie hielt die Schürze, mit deren Frisur die Mutter ihre Näharbeiten beschlossen hatte, aufmerksam und nah an die Augen und begriff nicht, warum sie heute die Naht daran nicht deutlich sehe, und dachte, als sie die Tropfen aus den Augen wegstreifte, sie wären von den Pappeln gefallen... Aber der Alte, der befahren mußte, sie werde zu naß, pfiff die Beklommene von ihrer Schürze weg ins Zelt unter die Primaner zurück. – – O es ist mir jetzt, als säh' und hört' ich in alle eure Häuser hinein, wo ihr, Väter und Ehemänner mit vierschrötigem Herzen und dickstämmiger Seele, beherrschet, ausscheltet, abhärtet und einquetschet die weiche Seele, die euch lieben will und hassen soll – das zerrinnende Herz, das eure kotigen schwülichten Fäuste handhaben – das bittende Auge, das ihr anbohrt, vielleicht zu ewigen Tränen – – o ihr milden, weichen, unter schweren finstern Schnee gebückten Blumen, was will ich euch wünschen, als daß der Gram, eh' ihr mit besudelten, entfärbten, zerdrückten Blättern verweset, euch mit den Knospen umbeuge und abbreche für den Frühling einer andern Erde? – Und ihr seid schuld, daß ich mich nicht so freuen kann, wenn ich zuweilen eine zartfühlende, unter einer ewigen Sonne blühende Schwester von euch finde, eine hauchende Blume im Wonnemond: denn ich muß denken an diejenigen von euch, deren ödes Leben eine in einer düstern Obstkammer durchfrorne Dezembernacht ist. – – Und doch kann euer Herz etwas Schöners tun als sterben: – sich ergeben. – –


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