Jean Paul
Leben des Quintus Fixlein
Jean Paul

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Letztes Kapitel

Ich bin aus Hukelum und mein Gevatter aus dem Bette, und einer ist so gesund wie der andere. Die Kur war so närrisch wie die Krankheit.

Ich fiel zuerst darauf, ob nicht, wie Boerhaave Konvulsionen durch Konvulsionen heilte, bei ihm Einbildung durch Einbildung zu kurieren wäre, durch die nämlich, er sei noch kein Zweiunddreißiger, sondern etwan ein Sechser, ein Neuner. Phantasien sind Träume, die kein Schlaf umgibt, und alle Träume tragen uns in die Jugend zurück: warum nicht auch Phantasien? – Ich befahl also allen die Entfernung vom Patienten: bloß die Mutter sollte, während die feurigsten Meteoren vor seiner fieberhaften Seele flögen und zischten, allein bei ihm sitzen und ihn anreden, als wenn er ein Kind von acht Jahren wäre. Auch sollte sie den Bettspiegel verhängen. Sie tats – machte ihm weis, er habe das Ausbruchsfieber der Blattern – und als er sagte: »Der Tod steht mit zweiunddreißig spitzigen Zähnen vor mir und will damit mein Herz zerkäuen«, so sagte sie: »Kleiner, ich gebe dir deinen Fallhut und dein Schreibbuch und dein Besteck und deinen Husarenpelz wieder und noch mehr, wenn du fromm bist.« Etwas Vernünftiges hätt' er weniger aufgefasset und begriffen als dieses Närrische.

Endlich sagte sie – denn im größten Schmerz werden einer Frau Rollen der Verstellung leicht –: »Ich wills nur noch einmal probieren und dir deine Spielwaren geben; aber komme mir wieder, Schelm, und werfe dich so im Bette herum mit deinen Blattern!« – Und nun schüttete sie aus der gefüllten Schürze alle Spiel- und Kleidungswaren, die ich in dem Schränklein des ertrunknen Bruders gefunden, in das Bette hinein. Zuallererst sein Schreibbuch, worauf er selber damals seinen achtjährigen Namen geschrieben, den er für seine Hand rekognoszieren mußte – dann den schwarzsamtnen Fallhut – dann die rot-weißen Laufbänder – sein Kindermesser-Besteck mit einem Heft von Zinnblättchen – seinen grünen Husarenpelz, dessen Aufschläge sich härten – und einen ganzen orbis pictus oder fictus der Nürnberger figurierten Marionetten-Welt...

Der Kranke erkannte den Augenblick diese vorragenden Spitzen einer im Strome der Zeit untergegangnen Frühlingswelt – diesen Halbschatten, diese Dämmerung versunkner Tage – diese Brand- und Schädelstätte einer himmlischen Zeit, die wir nie vergessen, die wir ewig lieben und nach der wir noch auf dem Grabe zurücksehen... Und als er das sah, drehte er langsam den Kopf umher, wie wenn ein langer trüber Traum aufgehöret hätte, und sein ganzes Herz floß in warmen Tränenregen herab, und er sagte, indem sich seine vollen Augen an die Augen der Mutter anschlossen: »Lebet denn aber mein Vater und mein Bruder noch?« – »Sie sind nicht längst gestorben«, sagte die wunde Mutter; aber ihr Herz war überwältigt, und sie kehrte das Auge weg, und bittere Tränen fielen aus dem niedergebückten Haupte ungesehen. Und hier übergoß auf einmal jener Abend, wo er durch den Tod seines Vaters bettlägerig und durch seine Spielwaren genesen war, seine Seele mit Glanz und Lichtern und Vergangenheit.

Nun färbte sich der Wahnsinn Rosenflügel in der Aurora unsers Lebens und fächelte die schwüle Seele – er schüttelte Schmetterlings-Goldstaub von seinem Gefieder auf den Steig, auf das Blumenwerk des Leidenden – in der Ferne gingen schöne Töne, in der Ferne flogen schöne Wolken – o das Herz wollte sich zerlegen, aber bloß in flatternde Staubfäden, in weiche fassende Nerven; das Auge wollte zerfließen, aber bloß in Tautropfen für die Kelche der Freudenblumen, in Blutstropfen für fremde Herzen; die Seele wallete, zuckte, stöhnte, sog und schwamm im heißen, lösenden Rosenduft des schönsten Wahns...

Die Wonne zügelte sein fieberhaftes Herz, und seine tobenden Pulse stillten sich. Am Morgen darauf wollte die Mutter, als sie sah, es gelinge alles, gar zur Kirche läuten lassen, um ihm weiszumachen, er sei schon beim zweiten Sonntag. Aber die Frau verwarf (vielleicht aus Scham vor mir) das Belügen und sagte, man könne ja, es sei dasselbe, den Datumszeiger an seiner Stutzuhr (aber anders wie Hiskias Sonnenuhr) um acht Tage vorwärtsrücken, um so mehr, da er bisher lieber aufstand und nach der Uhr schauete, »den wievielten er habe«, als hinlangte und im Kalender nachsah. Ich meines Orts ging bloß hinauf zu ihm und befragte ihn: »ob er toll wäre – was er denn mit seiner närrischen Todesfurcht noch haben wolle, da er so lange liege und sehe, daß er den Kantatesonntag schon hinter sich habe, und doch an der bloßen Angst verdorre zu einer Dachschindel.«

Eine herrliche Verstärkung stieß zu mir, der Fleischer oder Quartiermeister. Er brach ängstlich, ohne die Weiber zu salutieren, herein, und ich nahm sofort das laute Wort: »Mein Gevatter geht mir nahe genug, Herr Regimentsquartiermeister; – gestern ließ er sich einreden, er sei wenig älter als sein leiblicher Sohn, und hier ist noch der Fallhut, den er aufsetzen wollte.« – Der Vormund sakramentierte und sagte: »Mündel! ist Er denn ein Pfarrer oder ein Narr? – Hab' Ihms doch so oft vorgehalten, daß es hierin mit Ihm hapert!« –

Endlich sah er selber, er sei nicht recht gescheut, und wurde gesund; außer den vormundschaftlichen Invektiven trugen viel meine Eide dazu bei, ich würd' ihn für keinen rechtschaffenen Gevatter erkennen und kein Wort von seiner Biographie edieren, wenn er nicht nächstens aufstände und genäse...

– Kurz, er hatte gegen mich so viel Lebensart und Welt, daß er sich aufsetzte und genas. – Er kränkelte wohl noch am Sonnabend und konnte am Sonntage noch keine Predigt halten (etwas Ähnliches las der Schulmeister ab), aber doch eine Beicht am Sonnabend, und auf dem Altar teilte der Rekonvaleszent das Nachtmahl aus. Nach Endigung des Gottesdienstes wurde das Dankfest seiner Genesung begangen, in das noch mein Valetschmaus fiel, weil ich nachmittags gehen wollte.

Ich will diesen letzten Nachmittag so weitläuftig als möglich entwerfen und nachher den Riß doch noch mit dem Storchschnabel angenehmer Hommelscher Plapperei ins Große auszeichnen.

Unter dem Gedächtnismahle kamen Personensteuern von den Katechumenen ein und Meßpräsente als Freudenfeuer bei seiner Genesung, welche bewiesen, wie sehr ihn die Gemeinde liebte und wie sehr ers verdiente: denn man wird von der Menge öfter ohne Grund gehasset als ohne Grund geliebt. Er war aber auch freundlich gegen jedes Kind, war keiner von den Geistlichen, die ihren Feinden nie anders vergeben als an – Gottes Statt, und lobte zugleich die ganze Welt, seine eigene Frau und sich.

Ich wohnte sodann seiner nachmittägigen Kinderlehre bei und sah – wie er im ersten Zettelkasten – im Chore hinter dem Flügel des hölzernen Cherubims hinunter. Hinter diesem Engel zog ich meine Schreibtafel heraus und stellete mich mehr hinter das schwarze Brett voll weißer Lieder-Ziffern und schrieb auf, was ich jetzt – dachte. Ich wußte, wenn ich heute, am fünfundzwanzigsten Mai, aus dieser salernitanischen Spinn-Schule, wo man den Lebensfaden auf eine schönere Weise ohne das Anfeuchten mit Mixturen länger ziehen lernt, ich wußte (sag' ich), wenn ich fortginge, ich würde mehrere Elementarkenntnisse der Glückseligkeitslehre hinwegbringen, als das ganze Kammerherrn-Piquet im Kopfe führet. Ich notierte den ersten Eindruck in folgende Lebensregeln für mich und die Presse auf:

Kleine Freuden laben wie Hausbrot immer ohne Ekel, große wie Zuckerbrot zeitig mit Ekel. – Wir sollten uns von den Kleinigkeiten nicht bloß plagen, sondern auch erfreuen lassen, nicht bloß ihre Gift-, sondern auch ihre Honigblase auffangen; und wenn uns oft die Mücke an der Wand irren kann, so sollten uns auch die Mücken wie den Domitian belustigen, oder wie einen noch lebenden Kurfürsten beköstigen. – Man muß dem bürgerlichen Leben und seinen Mikrologien, wofür der Pfarrer einen angebornen Geschmack hat, einen künstlichen abgewinnen, indem man es liebt, ohne es zu achten, indem man dasselbe, so tief es auch unter dem menschlichen stehe, doch als eine andere Verästung des menschlichen so poetisch genießet, als man bei dessen Darstellungen in Romanen tut. Der erhabenste Mensch liebt und sucht mit dem am tiefsten gestellten Menschen einerlei Dinge, nur aus höhern Gründen, nur auf höhern Wegen. – Jede Minute, Mensch, sei dir ein volles Leben! – Verachte die Angst und den Wunsch, die Zukunft und die Vergangenheit! – Wenn der Sekundenweiser dir kein Wegweiser in ein Eden deiner Seele wird, so wirds der Monatsweiser noch minder, denn du lebst nicht von Monat zu Monat, sondern von Sekunde zu Sekunde! – Genieße dein Sein mehr als deine Art zu sein, und der liebste Gegenstand deines Bewußtseins sei dieses Bewußtsein selber! – Mache deine Gegenwart zu keinem Mittel der Zukunft, denn diese ist ja nichts als eine kommende Gegenwart, und jede verachtete Gegenwart war ja eine begehrte Zukunft! – Setze in keine Lotterien – bleibe zu Hause – gib und besuche keine großen Gastmahle – verreise nicht zu halben Jahren! – Verdecke dir nicht durch lange Plane dein Hauswesen, deine Stube, deine Bekannten! – Verachte das Leben, um es zu genießen! – Besichtige die Nachbarschaft deines Lebens, jedes Stubenbrett, jede Ecke, und quartiere dich, zusammenkriechend, in die letzte und häuslichste Windung deines Schneckenhauses ein! Halte eine Residenzstadt nur für eine Kollekte von Dörfern, und ein Dorf für die Sackgasse aus einer Stadt, den Ruhm für das nachbarliche Gespräch unter der Haustüre, eine Bibliothek für eine gelehrte Unterredung, die Freude für eine Sekunde, den Schmerz für eine Minute, das Leben für einen Tag und drei Dinge für alles: Gott, die Schöpfung, die Tugend! –

Und wenn ich mir selber und diesen Regeln folgen will: so muß ich auch nicht so viel aus dieser Lebensbeschreibung machen, sondern sie einmal wie ein mäßiger Mensch ausklingen lassen.

Nach der Kinderlehre stieg ich herab zum weit- und schwarzröckigen Gevatter. Wir trabten nach Abfluß der Pfarrgemeinde alle Emporen hinauf – lasen die Bleche der Kirchenstühle – ich blätterte am Altare in der mit dem Sediment der Zeit inkrustierten Agende (ich rede nicht metaphorisch) – ich orgelte, der Gevatter trat den Balg – ich erstieg die Kanzel und war so glücklich, da einen Rosenstock zu treffen, den ich in der Valetminute noch in den Rosengarten meines Fixleins setzen konnte. Ich nahm nämlich droben an einem hölzernen Apostel den Namen Lavater wahr, den der Zürcher eigenhändig als eine Votivtafel am heiligen Torso hatte lassen wollen im Durchmarsch. Fixlein kannte die Hand nicht, aber ich: – denn ich hatte sie öfters in Flachsenfingen nicht nur auf der Wandtapete einer Hofdame, sondern auch auf seiner HandbibliothekEin kleines, mit Drucklettern gesetztes Manuskript, womit er wenig andere als Fürsten beschenkt. Diese Druckschrift flößet er vorsichtig als eine Handschrift den Großen ein, weil diese mehr und lieber Geschriebenes als Gedrucktes lesen. und in vielen Landeskirchen angetroffen, die gleichsam der Adreßkalender und Vokabelnsaal dieses wandernden Namens waren, weil Lavater in Kanzeln, wie eine Schäferin in Bäume, gern den Namen des Geliebten schreibt. Ich konnte also meinem Gevatter wohl raten, aus dem Apostel den Namen samt dem Hobelspan, worauf er sitzt, vorsichtig herauszuschneiden und die Handschrift gut zu verwahren.


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