Jean Paul
Leben des Quintus Fixlein
Jean Paul

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Solche Nebenstudien trieb er neben seinen Amtsarbeiten; aber ich glaube, ein Staat ist über so etwas toll: er vergleicht den, der in Philosophie und Belletrie groß ist auf Kosten des Amts-Schlendrians, mit den Konzertuhren, die ihre Stunden – ob sie sie gleich mit Flötenmelodien einfassen – schlechter schlagen als dumme plumpe Turmuhren.

Um auf den Namenstag zurückzukommen: so lief Fixlein nach solchen Anstrengungen hinaus unter die Sang-Stauden und Rausch-Bäume und kehrte nicht eher aus der warmen Natur zurück, als bis Schüssel und Stühle schon an den Tisch gestellet waren. – Unter dem Essen fiel etwas vor, das ein Biograph nicht entbehren kann: seine Mutter mußt' ihm nämlich die Landkarte seiner kindlichen Welt unter dem Käuen mappieren und ihm alle Züge erzählen, woraus von ihm auf seine jetzige Jahre etwas zu schließen war. Diesen perspektivischen Aufriß seiner kindlichen Vergangenheit trug er dann auf kleine Blätter auf, die alle unsere Aufmerksamkeit verdienen. Denn lauter solche Blätter, welche Szenen, Akte, Schauspiele seiner Kinderjahre enthielten, schlichtete er chronologisch in besondere Schubläden einer Kinder-Kommode und teilte seine Lebensbeschreibung, wie Moser seine publizistischen Materialien, in besondere Zettelkästen ein. Er hatte Kästen für Erinnerungszettel aus dem zwölften, dreizehnten, vierzehnten etc., aus dem einundzwanzigsten Jahre und so fort. Wollt' er sich nach einem pädagogischen Baufron-Tag einen Rastabend machen: so riß er bloß ein Zettelfach, einen Registerzug seiner Lebensorgel, heraus und besann sich auf alles.

Ich muß die rezensierenden Stimmen, die mir den kurzen Prozeß des Strangulierens an den Hals werfen wollen, ganz besonders bitten, doch nur vorher, ehe sie es darum tun, weil ich meine Kapitel Zettelkästen nenne, nachzusehen, wer daran schuld ist, und nachzudenken, ob ich anders konnte, da der Quintus selber seine Biographie in solche Kästen abteilt: sie sind ja sonst billig.

Nur über seinen ältern Bruder tat er an seine Mutter keine kränkende Frage: denn diesen hatte das Schicksal auf eine eigne Art mit allen seinen genialischen Anlagen am Eisberg des Todes zertrümmert. Er sprang nämlich auf eine Eisscholle, die zwischen andern Schollen stockte – diese wichen aber zurück, und seine schoß mit ihm fort, schmolz schwimmend unter ihm ein und ließ also das Feuerherz zwischen Eis und Wogen untersinken. Es tat der Mutter wehe, daß er nicht gefunden, daß sie nicht erschüttert wurde mit dem Anstarren der geschwollenen Leiche – o gute Mutter, danke lieber Gott dafür! –

Nach dem Essen ging er, um sich mit neuen Kräften für den Schreibtisch zu rüsten, bloß müßig im Hause herum und durchzog wie eine Feuerschau der Polizei alle Ecken seiner Hütte, um aus ihnen irgendeine Kohle der ausgeglommenen Freudenfeuer seiner Kindheit aufzulesen. Er stieg unter das Dach zu den leeren Vogelhäusern seines Vaters, der im Winter ein Vogler war, und musterte flüchtig die Rumpelkammer seiner alten Spielwaren, die im großen Gebärhaus einer Kanarienhecke lag. In Kinderseelen drücken sich regelmäßige kleine Gestalten, besonders Kugel und Würfel, am tiefsten ein und ab. Daraus erkläre sich der Leser Fixleins Wohlgefallen am roten Eichhörnchen-Stockhaus, an dem aus Kartoffelsamenkapseln und weißen Spänen zusammengesteckten Sparrwerk, an dem heitern Glashaus einer würfelförmigen Laterne. Aber ganz anders erklär' ich mir folgendes: er wagte sich ohne Baubegnadigung an die Baute eines Lehmhauses, nicht für Bauern, sondern für Fliegen; daher man es gut in die Tasche stecken konnte. Dieses Mückenhospital hatte seine Glasscheiben und einen roten Anstrich und besonders viele Alkoven und drei Erker: denn Erker liebte er als ein Haus am Hause von jeher so sehr, daß es ihm in Jerusalem schlecht gefallen hätte, wo (nach Lightfoot) keine gebaut werden durften. Aus den blitzenden Augen, womit der Baudirektor seine Mietsleute an den Fenstern herumkriechen oder aus dem Zuckertroge naschen sah – denn sie fraßen, wie der Graf St. Germain, nichts wie Zucker –, aus dieser Freude hätte ein Erziehungsrat leicht seinen Hang zur häuslichen Einengung prophezeien können: für seine Phantasie waren damals noch Gärtnerhütten zu wüste Archen und Hallen, und nur ein solches Mücken-Louvre war gerade ein nettes Bürgerhaus. – Er befühlte seinen alten hohen Kinderstuhl, der der sedes exploratoria des Papstes glich; er rückte seine Kinderkutsche, aber er begriff nicht, welche Salbung und Heiligkeit sie so sehr von andern Kinderkutschen unterscheide. Er wunderte sich, daß ihm Kinderspiele an Kindern nicht so gefielen als die Schilderungen derselben, wenn das Kind, das sie getrieben, schon aufgeschossen vor ihm stand.

Vor einer einzigen Sache im Hause stand er sehnsüchtig und wehmütig, vor einem winzigen Kleiderschrank, der nicht höher war als mein Tisch und der seinem armen ertrunkenen Bruder angehöret hatte. Da dieser mit dem Schlüssel dazu von den Fluten verschlungen worden: so tat die zerknirschte Mutter das Gelübde, seinen Spielschrank nie gewalttätig aufzubrechen. Wahrscheinlich sind nur die Spielwaren des Armen darin. Lasset uns wegsehen von dieser blutigen Urne! – –

Da Baco die Erinnerungen aus der Kindheit unter die gesunden, offizinellen Dinge rechnet: so waren sie ganz natürlich ein Digestivpulver für den Quintus. Nun konnt' er sich wieder an den Arbeitstisch begeben und etwas ganz Besonders machen – Suppliken um Pfarrdienste. Er nahm den Adreßkalender vor und machte für jedes Pfarrdorf, das er darin fand, eine Bittschrift vorrätig, die er so lange beiseite legte, bis sein Antezessor verstarb. Bloß um Hukelum hielt er nicht an. Es ist eine schöne Observanz in Flachsenfingen, daß man sich um alle Ämter melden muß, die offen stehen. So wie der höhere Nutzen des Gebets nicht in seiner Erfüllung besteht, sondern darin, daß man sich im Beten übt: so sollen Bittschreiben aufgesetzet werden, nicht damit man Ämter erhalte – das muß durch Geld geschehen –, sondern damit man eine Supplik schreiben lerne. Freilich wird, wenn schon bei den Kalmücken das Drehen einer KapselIhr Gebeträdlein, Kürüdu, ist eine hohle Kapsel voll aufgerollter Betformeln, die geschwenkt wird und dann wirkt. Philosophischer genommen, ists, da beim Gebet nur die Gesinnung in Anschlag kommt, einerlei, ob sie sich durch Bewegung des Mundes oder der Kapsel äußert. die Stelle des Gebetes vertritt, eine geringe Bewegung des Beutels so viel sein, als suppliziere man wörtlich.

Gegen Abend – Sonntags gar – schweifte er im Dorfe herum, wallfahrtete zu seinen Spielplätzen und auf den Gemeindeanger, auf den er sonst seine Schnecken zur Weide getrieben – suchte den Bauer auf, der ihn von der Schule her zum Erstaunen der andern duzen durfte – ging als akademischer Lehrer zum Schulmeister, dann zum Senior – dann in die Episkopalscheune oder Kirche. Das letztere versteht kein Mensch: es brannten nämlich vor dreiundvierzig Jahren die Kirche (der Turm nicht), das Pfarrhaus und – was nicht wieder herzustellen war – die Kirchenbücher ab. Daher wußten in Hukelum die wenigsten Leute, wie alt sie waren, und des Quintus Gedächtnisfibern selber schwankten zwischen dem zwei- und dreiunddreißigsten Jahre. Folglich mußte da geprediget werden, wo sonst gedroschen wird, und der Same des göttlichen Worts wurde mit dem physischen auf einer Tenne geworfelt: der Kantor und die Schuljugend besetzten die Tenne, die weiblichen Mutterkirchleute standen in der einen Panse, die Schadecker Filial-Weiber in der andern, und ihre Männer hockten pyramidenweise, wie Groschen- und Hellergalerien, an den Scheun-Leitern hinauf, und oben vom Strohboden horchten vermischte Seelen herunter. Eine kleine Flöte war das Orgelwerk und eine umgestürzte Bierkufe der Altar, um den man gehen mußte. Ich gestehe, ich selber würde da nicht ohne Laune gepredigt haben. Der Senior (damals war er noch Junior) wohnte und dozierte unter dem Pfarrbau im Schlosse; daher Fixlein daselbst mit dem Fräulein die Anomala trieb.

Waren diese Entdeckungsreisen zurückgelegt: so konnte unser Hukelumsfahrer noch nach dem Abendgebet mit Thiennetten Blattläuse von den Rosen, Regenwürmer von den Beeten nehmen und einen Freudenhimmel von jeder Minute – jeder Abendtautropfen war mit Freuden- und Nelkenöl gefärbt – jeder Stern war ein Sonnenblick der Glückssonne – und im zugeschnürten Herzen des Mädchens lag nahe an ihm hinter einer kleinen Scheidewand (wie nahe am Heiligen hinter dem dünnen Leben) ein ausgedehntes Blütenparadies ... Ich meine, sie liebte ihn ein wenig.

Er sollt' es wissen. Aber seine beklommene Wonne verdünnte er, wenn er zu Bette ging, durch kindische Erinnerungen auf der Treppe. Als Kind betete er nämlich wie einen Rosenkranz unter dem Bett-Zudeck als Abendgebet vierzehn biblische Sprüche, den ersten Vers »Nun danket alle Gott«, das Zehnte Gebot und noch einen langen Segen. Um nun eher fertig zu werden, fing er seine Gebete nicht bloß unten auf der Treppe, sondern schon an dem Orte an, wo Alexander den Menschen und Semler dumme Skribenten studierte. – Lief er am Hafen der Flaumwogen ein: so war er mit seiner Abendandacht fertig, und er konnte nun ohne eine weitere Anstrengung mit zugedrückten Augen gerade in die Federn und in den Schlummer plumpen. – – So steckt im kleinsten homunculus schon der Bauriß zur – katholischen Kirche.

Soweit die Hundstage des Quintus Zebedäus Egidius Fixlein. – Ich schließe schon zum zweitenmal die Kapitel dieser Lebensbeschreibung, wie ein Leben, mit einem Schlaf.


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