Jean Paul
Leben des Quintus Fixlein
Jean Paul

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Des Quintus Fixlein Leben bis auf unsere Zeiten

in funfzehn Zettelkästen

Erster Zettelkasten

Hundstagsferien – Visiten – eine Hausarme von Adel

Egidius Zebedäus Fixlein war gerade acht Tage wirklicher Quintus gewesen und hatte sich warm dozieret, als das Glück ihm vier erquickende, mit Blumen und Streuzucker überschüttete Kollationen und Gänge auf den Eßtisch setzte: es waren die vier Kanikularwochen. Ich möchte noch den Totenkopf des guten Mannes streicheln, der die Hundsferien erfand; ich kann nie in ihnen spazieren gehen, ohne zu denken: jetzt richten sich im Freien tausend gekrümmte Schulleute empor, und der harte Ranzen liegt abgeschnallet zu ihren Füßen, und sie können doch suchen, was ihre Seele lieb hat, Schmetterlinge – oder Wurzeln von Zahlen – oder die von Worten – oder Kräuter – oder ihre Geburtsdörfer.

Seines suchte unser Fixlein. Er rückte aber erst am Sonntage – denn man will auch wissen, wie Ferien in der Stadt schmecken – mit seinem Pudel und einem Quintaner, der seinen grünen Schlafrock trug, aus dem Stadttor aus: es tauete noch, und als er schon hinter den Gärten lief, stießen erst die Waisenhauskinder mit einem Morgenliede in die Kehlen aus Trompetentextur. Die Stadt hieß Flachsenfingen, das Dorf Hukelum, der Hund Schill und die Jahrszahl 1791.

»Männlein«, (sagt' er zum Quintaner; denn er redete gern wie die Liebe, die Kinder und die Wiener in Diminutiven) »Männlein, gib mir den Bündel her bis ans Dorf – lauf dich aus und suche dir einen kleinen Vogel, wie du bist, damit du was zu ätzen hast unter den Ferien.« – Denn das Männlein war zugleich sein Edelknabe – Zimmerfrotteur – Stubenkamerad – Gesellschaftskavalier und Laufmädchen; und der Pudel war zugleich sein Männlein.

Er schritt langsam fort durch die mit kouleurten Tau-Glaskügelchen vollgehangenen, gekräuselten Kohlbeete und sah den Gebüschen zu, aus denen, wenn sie der Morgenwind auseinanderzog, ein Flug Juwelenkolibri aufzusteigen schien, so funkelten sie. Er zog von Zeit zu Zeit die Klingschnur des – Pfeifens, damit sich der Kleine nicht verspränge, und kürzte sich seine anderthalbe Stunden dadurch ab, daß er den Weg nicht nach ihnen, sondern nach Dörfern ausmaß. Es ist angenehmer für den Fußgänger – für den Geographen gar nicht –, nach Wersten als nach Meilen zu rechnen. Unterwegs lernte Quintus die wenigen Felder auswendig, worauf schon geschnitten war. –

Aber jetzt streife noch langsamer, Fixlein, durch den Herrschaftsgarten von Hukelum, nicht etwa deswegen, damit du mit deinem Rocke keine Tulpenstaubfäden abbürstest, sondern damit deine gute Mutter nur so viel Zeit gewinne, um ihre Amorsbinde von schwarzem Taft um die glatte Stirn zu legen. Es ärgert mich, daß es der guten Frau die Leserinnen übelnehmen, daß sie die Binde erst plätten will: sie müssen nicht wissen, daß sie keine Magd hat und daß sie heute das ganze Meisteressen – die Geldprästationen dazu hatte der Gast drei Tage vorher übermacht – allein, ohne eine Erbküchenmeisterin beschicken mußte. Und überhaupt trägt der dritte Stand (sie war eine Kunstgärtnerin) allemal wie ein Rebhuhn die Schalen des Werkeltags-Eies, aus dem er sich hackt, noch unter der Vormittagskirche am Steiße herum.

Man kann sich denken, wie die herzensgute Mutter den ganzen Morgen auf ihren Schulherrn mag gelauert haben, den sie liebte wie ihren Augapfel, da sie auf der ganzen vollen Erde niemand weiter – Mann und erster Sohn waren gestorben – für ihre in Liebe überquellende Seele hatte, niemand weiter als ihren Zebedäus. Konnte sie jemals irgend etwas von ihm erzählen, ich meine nur etwas Freudiges, ohne zehnmal die Augen abzuwischen? Verschnitt sie nicht einmal ihren einzigen Kirmeskuchen an zwei Bettelstudenten, weil sie dachte, Gott strafe sie, daß sie so schmause, indes ihr Kind in Leipzig nichts zu beißen habe und an den Kuchengarten nur wie an andere Gärten rieche?

»Tausend! Du bists schon, Zebedäus!« – sagte die Mutter und lächelte verlegen, um nicht zu weinen, als der Sohn, der sich unter dem Fenster weggeduckt und an die mit Grummet gepolsterte Tür nicht angeklopft hatte, plötzlich eingetreten war. Sie konnte vor Vergnügen den Plättstein nicht in die Plätte schütteln, da der vornehme Schulmann sie unter dem lauten Sieden des Bratens zärtlich auf die nackte Stirn küßte und gar Mama sagte – welcher Name sich an sie so weich anlegte wie ein Herzkissen. Alle Fenster waren offen, und der Garten war mit seinem Blumenrauche und Vögelgeschrei und Schmetterlingssammlungen fast halb in der Stube: ich werde aber noch nicht berichtet haben, daß das kleine Gärtnerhäuschen, das mehr eine Stube als ein Haus war, in der westlichen Landspitze des Schloßgartens belegen war. Der Edelmann ließ die Witwe aus Gnaden diesen Witwensitz behalten, weil der Sitz ohnehin leer gestanden wäre, da er keinen Gärtner mehr hielt.

Fixlein konnt' aber trotz der Freude nicht lange bleiben, weil er in die Kirche mußte, die für seinen geistigen Magen eine Hofküche, eine mütterliche war. Ihm gefiel eine Predigt, bloß weil sie eine Predigt war und weil er schon eine gehalten hatte. Der Mutter wars recht: die guten Weiber glauben schon die Gäste zu genießen, wenn sie ihnen nur zu genießen geben.

Er lächelte im Chore, diesem Freihafen und Heidenvorhof ausländischer Kirchengänger, alle imparochierte an und schauete wie in seiner Kindheit unter dem Holzfittich eines Erzengels herab auf das gehaubte Parterre. Seine Kinderjahre schlossen ihn jetzt wie Kinder in ihren lächelnden Kreis, und eine lange Girlande durchflocht sie ringelnd, und sie rupften zuweilen Blumen daraus, um sie ihm ins Gesicht zu werfen: stand nicht auf dem Kanzel-Parnaß der alte Senior Astmann, der ihn so oft geprügelt hatte, weil er bei ihm das Griechische aus einer lateinisch edierten Grammatik schöpfen mußte, die er nicht exponieren, obwohl merken konnte? Stand nicht hinter der Kanzeltreppe die Sakristei-Kajüte, worin eine Kirchenbibliothek von Bedeutung – ein Schulknabe hätte sie gar nicht in seinen Bücherriemen schnallen können – unter dem Grauwerk von Pastell-Staub eigentlich lag? und bestand sie nicht noch aus der Polyglotta in Folio, die er – angefrischt durch Pfeiffers critica sacra – in frühern Jahren Blatt für Blatt umgeschlagen hatte, um daraus die litteras inversas, majusculas, minusculas etc. mit der größten Mühe zu exzerpieren? Er hätt' aber heute lieber als morgen dieses Buchstaben-Rauchfutter in einen hebräischen Schriftkasten werfen sollen, an den die orientalischen Rhizophagen gehangen sind, da sie ohnehin fast ohne alles Vokalen-Hartfutter erhalten werden. – Stand nicht neben ihm der Orgelstuhl als der Thron, auf den ihn allemal an Aposteltagen der Schulmeister durch drei Winke gesetzt hatte, damit er durch ein plätscherndes Murki den Kirchensprengel tanzend die Treppen niederführte? – –

Die Leser werden selber immer lustiger werden, wenn sie jetzt hören, daß unser Quintus vom Senior, dem geistlichen Ortskurfürsten, unter dem Ausschütten des Klingelbeutels invitiert wird auf Nachmittag; und es wird ihnen so lieb sein, als invitierte der Senior sie selber. Was werden sie aber erst sagen, wenn sie mit dem Quintus zur Mutter und zum Eßtisch, die beide schon den weißen gewürfelten Sonntagsanzug umhaben, nach Hause kommen und den großen Kuchen erblicken, den Fräulein Thiennette (Stephanie) von der Backscheibe laufen lassen? Sie werden aber freilich zuallererst wissen wollen, wer die ist.

Sie ist – denn wenn man (nach Lessing) eben über die Vortrefflichkeit der Iliade die Personalien ihres Verfassers vernachlässigte: so mag das wohl auf das Schicksal mehrerer Verfasser, z. B. auf mein eignes passen; aber die Verfasserin des Kuchens soll über ihr Backwerk nicht vergessen werden – Thiennette ist ein hausarmes, insolventes Fräulein – hat nicht viel, ausgenommen Jahre, deren sie fünfundzwanzig hat – besitzt keine nahen Anverwandten mehr – hat keine Kenntnisse (da sie nicht einmal den Werther aus Büchern kennt) als ökonomische – lieset keine Bücher, meine gar nicht – bewohnt, d. h. bewacht als Schloßhauptmännin ganz allein die dreizehn öden erledigten Zimmer des Schlosses zu Hukelum, das dem im Filial Schadeck seßhaften Dragonerrittmeister Aufhammer zugehöret – kommandieret und beköstigt seine Fröner und Mägde und kann sich von Gottes Gnaden – welches im dreizehnten Jahrhunderte die landsässigen Edelleute so gut wie die Fürsten taten – schreiben, weil sie von menschlicher Gnade lebt, wenigstens von der adeligen der Rittmeisterin, die allemal die Untertanen segnet, denen ihr Mann flucht. – Aber in der Brust der verwaiseten Thiennette hing ein verzuckertes Marzipanherz, das man vor Liebe hätte fressen mögen – ihr Schicksal war hart, aber ihre Seele weich – sie war bescheiden, höflich und furchtsam, aber zu sehr – sie nahm schneidende Demütigungen gern und kalt in Schadeck auf und fühlte keinen Schmerz, aber einige Tage darauf sann sie sich erst alles aus, und die Einschnitte fingen heiß an zu bluten, wie Verwundungen in der Starrsucht erst nach dem Vorübergang der letztern schmerzen, und sie weinte dann ganz allein über ihr Los...

Es wird mir schwer, wieder einen hellen Klang zu geben nach diesem tiefen und hinzuzufügen, daß Fixlein fast mit ihr auferzogen wurde und daß sie, als seine Schul-Moitistin drüben beim Senior, da er ihn für die Städtebank der Tertianer stimmfähig machte, mit ihm die verba anomala erlernte.

Das Achilles-Schild des Kuchens, den ein erhobnes Bildwerk von braunen Schuppen auszackte, ging im Quintus als ein Schwungrad hungriger und dankbarer Ideen um: er hatte von jener Philosophie, die das Essen verachtet, und von jener großen Welt, die es verschleudert, nicht so viel bei sich, als zur Undankbarkeit der Weltweisen und Weltleute gehört, sondern er konnte sich für eine Schlachtschüssel, für ein Linsengericht gar nicht satt bedanken.


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