Jean Paul
Leben des Quintus Fixlein
Jean Paul

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O Eugenius, wie groß mußte jetzt deine Seele werden! Das Erdenleben lag entfernt und in der Tiefe vor dir ohne alle die Verzerrungen, die wir daran sehen, weil wir zu nahe davor stehen, so wie die Dekorationen kürzerer Szenen in der Nähe aus Landschaften zu ungestalten Strichen werden. –

Die zwei Liebenden umarmten sich sanft und lange vor der Hütte, und Eugenius sagte: »O stiller, ewiger Himmel, jetzt nimm uns nichts mehr!« – Aber sein blasses Kind stand mit dem geknickten Lilienhaupte vor ihm, er sah die Mutter an, und diese lag mit dem weiten feuchten Auge im Himmel und sagte leise: »Oder nimm uns alle auf einmal!«

Der Engel der Zukunft, den ich den Engel der Ruhe nennen will, weinte lächelnd, und sein Flügel verwehte mit einem Abendlüftchen die Seufzer der Eltern, damit sie einander nicht traurig machten.

Der transparente Abend floß um die rote Alpe wie ein heller See und spülte sie mit den Zirkeln kühler Abendwogen an. Je mehr sich der Abend und die Erde stillte, desto mehr fühlten die zwei Seelen, daß sie am rechten Orte wären: sie hatten keine Träne zu viel, keine zu wenig, und ihr Glück hatte keine andere Vermehrung vonnöten als seine Wiederholung. Eugenius ließ in den reinen Alpenhimmel die ersten Harmonikatöne wie Schwanen fließen. Das müde Kind spielte, in einem Ringe von Blumen eingefasset, an eine Sonnenuhr gelehnt, mit den Blumen, die es um sich auszog, um sie in seinen Zirkel einzuschlichten. Endlich wurde die Mutter aus der harmonischen Entzückung wach – ihr Auge fiel in die großen, weit auf sie gerichteten Augen ihres Kindes –, singend und anlächelnd und mit überschwellender Mutterliebe tritt sie zum kleinen Engel, der kalt war und – gestorben. Denn sein vom Himmel herabgesenktes Leben war im Dunstkreis der Erde auseinandergeflossen wie andere Töne – der Tod hatte den Schmetterling angehaucht, und dieser stieg aus den reißenden Luftströmen in den ewigen ruhenden Äther auf, von den Blumen der Erde zu den Blumen des Paradieses. – –

O flattert immer davon, selige Kinder! Euch wiegt der Engel der Ruhe in der Morgenstunde des Lebens mit Wiegenliedern ein – zwei Arme tragen euch und euern kleinen Sarg, und an einer Blumenkette gleitet euer Leib mit zwei Rosenwangen, mit einer Stirn ohne Gram-Einschnitte und mit weißen Händen in die zweite Wiege herab, und ihr habt die Paradiese nur getauscht. – Aber wir, ach wir brechen zusammen unter den Sturmwinden des Lebens, und unser Herz ist müde, unser Angesicht zerschnitten von irdischem Kummer und irdischer Müh', und unsere Seele klammert sich noch erstarret an den Erdenkloß!

Du wende dein Auge weg von Rosamundens durchstechendem Schrei, starrendem Blick und versteinernden Zügen, du, wenn du eine Mutter bist und diesen Schmerz schon gehabt hast – schaue nicht auf die Mutter, die mit sinnloser Liebe die Leiche hart an sich quetschet, die sie nicht mehr erdrücken kann, sondern auf den Vater, der seine Brust über sein kämpfendes Herz schweigend deckt, ob es gleich der schwarze Kummer mit Otterringen umzog und mit Otterzähnen vollgoß. Ach als er den Schmerz davon endlich weggehoben hatte, war das Herz vergiftet und aufgelöst. Der Mann verbeißet die Wunde und erliegt an der Narbe – das Weib bekämpft den Kummer selten und überlebt ihn doch. – »Bleibe hier« (sagt' er mit überwältigter Stimme) – »ich will es zur Ruhe legen, eh der Mond aufgeht.« Sie sagte nichts, küßte es stumm, zerbröckelte seinen Blumenring, sank an die Sonnenuhr und legte das kalte Angesicht auf den Arm, um das Wegtragen des Kindes nicht zu sehen.

Unterwegs erhellete das Morgenrot des Mondes den wankenden Säugling; der Vater sagte: »Brich herauf, Mond, damit ich das Land sehe, wo Er wohnet. – Steig empor, Elysium, damit ich mir darin die Seele der Leiche denke – o Kind, Kind, kennst du mich, hörst du mich – ach hast du droben ein so schönes Angesicht wie deines da, einen so schönen Mund – o du himmlischer Mund, du himmlisches Auge, kein Geist zieht mehr in dich.« – Er bettete dem Kinde statt alles dessen, worauf man uns zum letzten Male legt, Blumen unter; aber sein Herz brach, als er die blassen Lippen, die offnen Augen mit Blumen und mit Erde überdeckte, und ein Strom von Tränen fiel zuerst ins Grab. Als er mit der grünenden Rinde der Erdschollen die kleine Erhebung überbauet hatte: fühlte er, daß er von der Reise und dem Leben müde sei und daß in der dünnen Bergluft seine kranke Brust einfalle; und das Eis des Todes setzte sich in seinem Herzen an. Er blickte sich sehnend nach der verarmten Mutter um – diese hatte schon lange hinter ihm gezittert –, und sie fielen einander schweigend in die Arme, und ihre Augen konnten kaum mehr weinen. –

Endlich quoll hinter einem ausglimmenden Gletscher der verklärte Mond einsam über die zwei stummen Unglücklichen herauf und zeigte ihnen seine weißen unbestürmten Auen und sein Dämmerlicht, womit er den Menschen besänftigt. – »Mutter! blick auf«, (sagte Eugenius) »dort ist dein Sohn – sieh, dort über den Mond gehen die weißen Blütenhaine hin, in denen unser Kind spielen wird.« – Jetzt füllete ein brennendes Feuer verzehrend sein Inneres – sein Auge erblindete am Monde gegen alles, was kein Licht war, und im Lichtstrome walleten erhabene Gestalten vor ihm vorüber, und neue Gedanken, die im Menschen nicht einheimisch sind und die für die Erinnerung zu groß sind, hörte er in seiner Seele, wie im Traume oft Melodien vor den Menschen kommen, der im Wachen keine schaffen kann. – – Der Tod und die Wonne drückten seine schwere Zunge: »Rosamunde, warum sagst du nichts? – Siehst du dein Kind? Ich schaue hinüber über die lange Erde, bis dahin, wo der Mond angeht: da flieget mein Sohn zwischen Engeln. Hohe Blumen wiegen ihn – der Erden-Frühling weht über ihn – Kinder führen ihn – Engel lehren ihn – Gott liebt ihn – O du Guter, du lächelst ja, das Silberlicht des Paradieses fließet ja himmlisch um deinen kleinen Mund, und du kennst niemand und rufest deine Eltern – Rosamunde, gib mir deine Hand, wir wollen kommen und sterben.« – –

Die dünnen Körperfesseln wurden länger. Sein ziehender Geist flatterte höher an den Grenzen des Lebens. Er fassete die Betäubte mit zuckender Kraft und lallete erblindend und sinkend: »Rosamunde, wo bist du? Ich fliege – ich sterbe – wir bleiben beisammen.«

Sein Herz zerriß, sein Geist entflog. Aber Rosamunde blieb nicht bei ihm, sondern das Schicksal riß sie aus der sterbenden Hand und warf sie lebendig auf die Erde zurück. Sie fühlte seine Hand an, ob sie totenkalt sei: und da sie es war, so legte sie sie sanft auf ihr Herz, fiel langsam auf ihre brechenden Knie, hob ihr Angesicht unaussprechlich ausgeheitert gegen die Sternennacht hinauf, ihre Augen drangen aus den tränenleeren Höhlen trocken, groß und selig in den Himmel und schaueten darin ruhig nach einer überirdischen Gestalt umher, die herunterfliegen und sie emportragen werde. Sie wähnte fest, sie sterbe sogleich, und betete: »Komm nun, Engel der Ruhe, komm und nimm mein Herz und bring es meinen Geliebten hinauf – Engel der Ruhe, laß mich nicht so lange allein unter den Leichen – o Gott! ist denn nichts Unsichtbares um mich? – Engel des Todes, du mußt hier sein, du hast ja erst neben mir zwei Seelen abgerissen und steigen lassen. – Ich bin auch gestorben, ziehe nur meine glühende Seele aus ihrem knienden kalten Leichnam!« –

Sie blickte mit einer wahnsinnigen Unruhe im leeren Himmel herum. Plötzlich entbrannte in seiner stillen Wüste ein Stern und schlängelte sich gegen die Erde zu. Sie breitete ihre entzückten Arme aus und glaubte, der Engel der Ruhe schwinge sich hinein. Ach der Stern verging, aber sie nicht. »Noch nicht? Sterb' ich noch nicht, Allgütiger?« – seufzete die Arme.

In Osten richtete sich eine Wolke empor – fuhr über den Mond hinauf und zog einsam am heitern Himmel heran – und stand über der gequältesten Brust der Erde. Diese bog das Haupt zurück und zu ihr hinauf und bat flehend den Blitz: »Schlag ein in diese Brust und erlöse mein Herz!« – Aber als die Wolke finster über das zurückgedrückte Haupt hinüberging und den Himmel hinunterfloh und hinter den Gebirgen versank: so rief sie mit tausend Tränen: »Sterb' ich nicht, sterb' ich nicht?« ...

Du Arme! nun rollte sich der Schmerz zusammen und tat den erzürnten Schlangensprung an deine Brust und drückte alle seine Giftzähne hinein. Aber ein weinender Geist goß das Opium der Ohnmacht über dein Herz, und die Krämpfe der Pein zerflossen in ein sanftes Zucken.

Ach sie erwachte am Morgen, aber zerrüttet; sie sah noch die Sonne und den Toten, aber ihr Auge hatte alle Tränen, ihr zersprungenes Herz gleich einer zerborstenen Glocke alle Töne verloren: sie murmelte bloß: »Warum darf ich nicht sterben?« – Sie ging kalt in die Hütte zurück und sagte nichts weiter als diese Worte. Jede Nacht ging sie eine halbe Stunde später zum Leichnam und traf jedesmal mit dem aufgehenden zerstückten Monde zusammen und sagte, indem sie ohne Tränen das Trauerauge an seine Dämmerungsauen andrückte: »Warum darf ich nicht sterben?«

Jawohl! warum darfst du es nicht, gute Seele, da die kalte Erde aus allen deinen Wunden den heißen Gift ausgesogen hätte, womit das Menschenherz unter sie geleget wird, wie die Hand in der Erde vom Bienenstich geneset? Aber ich wende mein Auge weg von diesem Schmerz und sehe hinauf auf den schimmernden Mond, wo Eugenius die Augen aufschlägt unter lächelnden Kindern, und sein eignes fället geflügelt auf sein Herz ... Wie ist alles so still im dämmernden Vorhof der zweiten Welt – ein Nebelregen von Licht übersilbert die hellen Gefilde des ersten Himmels, und Lichtkügelchen hängen statt des funkelnden Taues um Blüten und Gipfel – das Blau des HimmelsDie blaue Farbe der Luft muß im Monde dunkler sein, weil diese dünner ist, so wie beides auf Bergen zutrifft. blähet sich dunkler über die Lilien-Ebenen, alle Melodien sind in den dünnern Lüften nur zerflossene Echo – nur Nachtblumen duften und gaukeln wankend um ruhige Blicke – die schwankenden Ebenen wiegen die hier zerstoßenen Seelen, und die hohen Lebenswogen fallen gleitend auseinander – da ruht das Herz, da trocknet das Auge, da verstummet der Wunsch – Kinder flattern wie Bienengetöne um die noch pochende, in Blumen eingesenkte Brust, und der Traum nach dem Tode spielet das Erdenleben, wie ein hiesiger Traum die hiesige Kindheit, magisch, stillend, kummerfrei und gemildert nach ...

Eugenius blickte aus dem Monde nach der Erde, die an dem langen Mondstag aus zwei Erdenwochen wie eine weiße dünne Wolke im blauen Himmel schwebte; aber er erkannte sein altes Mutterland nicht. Endlich ging auf dem Monde die Sonne unter, und unsere Erde ruhte unbeweglich, groß und schimmernd am reinen Horizont des Elysiums und übergoß wie das Wasserrad einer Aue den wehenden elysischen Garten mit fließendem Schimmer. Da erkannte er die Erde, auf der er in einer so geliebten Brust ein so bekümmertes Herz zurückgelassen, und seine in Wonne ruhende Seele wurde voll Wehmut und voll unendlicher Sehnsucht nach der Geliebten des alten Lebens, die noch drunten litt. – »O, meine Rosamunde! warum ziehest du nicht aus einer Kugel fort, wo dich nichts mehr liebt?« und er blickte bittend den Engel der Ruhe an und sagte: »Geliebter! nimm mich aus dem Lande der Ruhe und führe mich hinab zu der treuen Seele, damit ich sie sehe und wieder Schmerzen habe, damit sie nicht allein sich quäle.«

Da fing plötzlich sein Herz gleichsam ohne Banden zu schwimmen an – Lüfte flatterten um ihn, als wenn sie ihn im Fliehen höben und ihn schwellend verwehten und in Fluten verhüllten – er sank durch Abendröten wie durch Blumen, und durch Nächte wie durch Lauben, und durch einen nassen Dunstkreis, und sein Auge wurde darin voll Tropfen – dann lispelte es um ihn, als kämen alte Träume aus der Kindheit wieder – dann zog eine Klage aus der Ferne näher, die alle seine geschlossenen Wunden aufschnitt – die Klage wurde Rosamundens Stimme – endlich stand sie selber vor ihm, unkenntlich, allein, ohne Trost, ohne Träne, ohne Farbe ...

Und Rosamunde träumte auf der Erde, und ihr war, als wenn die Sonne sich beflügle und ein Engel werde – und der Engel, träumte ihr, ziehe den Mond hernieder, der ein sanftes Angesicht werde – und unter dem annähernden Angesicht bilde sich endlich ein Herz – – Es war Eugenius; und seine Geliebte hob sich entgegen, und als sie entzückt ausrief: »Nun bin ich gestorben!« verschwanden die zwei Träume, der ihrige und der seinige, und die zwei Menschen waren wieder getrennt.

Eugenius erwachte droben, die schimmernde Erde stand noch am Himmel, sein Herz war beklommen, sein Auge erhitzt von einer Träne, die nicht auf den Mond gefallen war. Rosamunde erwachte unten, und ein großer warmer Tautropfen hing in einer Blume ihres Busens – da fiel der heiße Nebel ihrer Seele in einem leisen Tränenregen nieder, ihr Inneres wurde leicht und sonnenhell, ihr Auge hing sanft am tagenden Himmel, die Erde war ihr fremd, aber nicht verhaßt, und ihre beiden Hände bewegten sich, als führten sie die, die ihr gestorben waren ...

Der Engel der Ruhe sah auf den Mond, er sah auf die Erde und wurde weich über die Seufzer der Menschen. – Er sah auf der Morgenerde eine Sonnenfinsternis und eine Verlassene, er sah Rosamunden in der vorüberfliegenden Nacht auf die Blumen, die unter der Verfinsterung einschliefen, und in den kalten Abendtau, der in den Morgentau fiel, umsinken und die Hände ausstrecken gegen den eingeschatteten Himmel voll ziehender Nachtvögel und mit unendlichem Sehnen aufblicken zum Monde, der bebend in der Sonne schwebte. – Der Engel sah auf den Mond, und neben ihm weinte der Selige, der die Erde tief unter einer Schattenflut schwimmend und in einen Feuerring geschmiedet erblickte, und dem die wimmernde Gestalt, die noch auf ihr wohnte, die ganze Seligkeit des Himmels nahm. – Da brach dem Engel des Friedens das himmlische Herz – er ergriff Eugenius' Hand und des Kindes seine – riß beide durch die zweite Welt und trug sie auf die finstere Erde herab. – Rosamunde sah im Dunkel drei Gestalten wandeln, deren Schimmer an den Sternenhimmel anschlug und oben mit ihnen ging – ihr Geliebter und ihr Kind flogen wie Frühlinge an ihr Herz und sagten eilend: »O Teuere, geh mit uns!« – Ihr Mutterherz zersprang vor Mutterliebe – das Erdenblut stockte – ihr Leben war aus – selig, selig stammelte sie an den zwei geliebten Herzen: »Darf ich denn noch nicht sterben?« – »Du bist schon gestorben«, sagte der freudig weinende Engel der drei Liebenden, »und dort steht die Erdkugel, aus der du kommest, noch im Schatten« ... Und die Wellen der Wonne schlugen hoch über die selige Welt zusammen, und alle Glückliche und alle Kinder sahen unsere Kugel an, die noch im Schatten zitterte.

*

Ja wohl ist sie im Schatten. Aber der Mensch ist höher als sein Ort: er sieht empor und schlägt die Flügel seiner Seele auf, und wenn die sechzig Minuten, die wir sechzig Jahre nennen, ausgeschlagen haben: so erhebt er sich und entzündet sich steigend, und die Asche seines Gefieders fället zurück, und die enthüllte Seele kömmt allein, ohne Erde und rein wie ein Ton, in der Höhe an – – Hier aber sieht er mitten im verdunkelten Leben die Gebirge der künftigen Welt im Morgengolde einer Sonne stehen, die hienieden nicht aufgeht: so erblickt der Einwohner am Nordpol in der langen Nacht, wo keine Sonne mehr aufsteigt, doch um zwölf Uhr ein vergüldendes Morgenrot an den höchsten Bergen, und er denkt an seinen langen Sommer, wo sie niemals untergeht.


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