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Entthronung der Jungfrau

Man könnte, in Verkennung des wahren Charakters unserer Zeit, ein mit erotischen Aussichten und Einsichten zum Platzen geladenes Kapitel schreiben. Aber machen wir uns nichts vor! Die Frau von heute ist gewiß nicht mehr die Frau von gestern, nicht äußerlich, nicht innerlich, aber die Frau von morgen wird einmal wieder die Frau von vorgestern sein, wenn Kultur und Wirtschaft im Kreislauf wieder zusammenstimmen, wie sie zusammengestimmt haben und wieder einmal zusammenklingen werden. Die Frauen des Direktoriums zwischen Robespierres Himmelfahrt und dem 18. Brumaire, waren bestimmt nicht weniger bewußt, vielleicht noch ein wenig erotischer als die Frauen unserer Zeit. Und doch folgte die Romantik und das Biedermeier. Jede Zeit hält sich für einzig, keine Zeit glaubt, daß ihre Errungenschaften eben nur zeitlich bedingt sind. In der Distance gesehen, entpuppen sich die revolutionärsten Zeitalter viel bürgerlicher, als es den Umstürzlern damals erschien, und zwischen dem Keuschheitsgürtel der Frau und der Befreiung des Weibes im östlichsten Sibirien durch die Sowjets haben die Frauen viele Wandlungen durchgemacht. Sie haben studiert und wurden in Harems eingeschlossen, sie waren Politikerinnen, wenn auch meist gekrönte oder Teilhaberinnen des Berufs ihrer Gatten – und sie wurden wegen Ehebruchs geköpft oder ins Spinnhaus geschickt. Immer aber blieben die Frauen Trägerinnen ihrer naturbedingten Bestimmung. Und wenn in einer so zentralen, internationalen und kapitalistischen Stadt wie Berlin sich seltsame Erscheinungen des Sexus tummeln und sich als neues Weltgewissen gebärden, so darf man daran erinnern, daß die Provinz eben nur die Form der neuen Bewegung mitmacht, ihren Sinn, soweit er frauenfeindlich im Sinne eben jener schicksalhaften Hörigkeit ist, immer ablehnt: »Die Revolution der modernen Jugend,« schrieb z. B. Dr. Otto Hacker im Berliner Tageblatt über Stuttgart, »erscheint zunehmend suspekt. Aber im Grunde genommen bedeutet sie kaum ein Problem. Diese jungen Mädels, deren Lebensstil nach außen hin mit Berliner Allüren einem Magazin entsprungen scheint, sind in ihren Liebesaffären doch sehr gemütvoll. Es besteht keine tragische Kluft zwischen bürgerlicher Konvention und dem Freiheitsbedürfnis dieser Jungen. Und kommt es gelegentlich doch zu einem Eklat, so wird er in der großen Familie« beigelegt. Es gibt wohl Kreise daneben, die aus eigener Anschauung, frei von konventionellen Bindungen, leben, aber sie bestimmen nicht das geistige Ferment der dominierenden Schicht des Besitzbürgertums.«

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Im Vergnügungslokal
Otto Schoff

Unser Zeitalter hat das Schlagwort vielleicht mehr mißbraucht als je ein anderes vorher. Immerhin darf man feststellen, daß der Frau Freiheiten zugestanden wurden, die ihre Bewegung und ihre Bedürfnisse, auch die erotischen, in einer anderen Richtung regeln wie bisher. Das Weib, das als Individualität auftritt, ist nicht mehr Gegenstand ängstlicher Betrachtungen, Ehescheidung schändet nicht, und die Probeehe ist an Stelle des ehemaligen Verhältnisses oder Konkubinats getreten. Die Frau hat, nachdem sie – in Frankreich ein einhalb Jahrhunderte, in Deutschland mehrere Jahrhunderte – ausschließlich auf die männliche Einstellung von Besitz, Sitte und Moral angewiesen war, ihren Körper entdeckt und sich, freilich in bescheidenerem Maße als zugegeben wird, selbständig gemacht. Das heißt, die Entwicklung der Zivilisation hat ihr dazu verholfen, die Mode hat sich angeschlossen, Sitte und Sittlichkeit haben sich den Tatsachen der Technik und der Wirtschaftsumwälzung angepaßt.

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Ehelose Mütter
B. M. Herko

Der Körper des Weibes brauchte natürlich nicht entdeckt zu werden. Er wurde » wieder« entdeckt. Aber alles im Leben ist »Wiederentdeckung«, wie eben auch die Frauenrechte und die Befreiung der Frau keine Errungenschaft sind, auf die wir allein stolz sein dürfen. Die Römer unter den letzten Kaisern haben das alles schon gekannt, und die attischen Lebensformen waren in vielem freier und gesünder als die des XX. Jahrhunderts.

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Der Neger
L. Legrand

Immerhin: Die Diktatur der Jungfräulichkeit ist abgeschafft, als Diktatur wenigstens. Denn so wenig das weibliche Schamgefühl abgeschafft werden kann, es sei denn, die Menschheit wollte afrikanische Ursitten einführen, so wenig kann und wird das unberührte Weib gegenüber dem bereits erotisch tätigen seinen Vorzug verlieren, auch nicht in der Erotik, von Bindungen staatlicher oder gesellschaftlicher Art zu schweigen.

Aber Begriff und Bedeutung der »Jungfräulichkeit« haben sich gewandelt. Anfang des 20. Jahrhunderts war die Jungfräulichkeit noch ein unverletzliches Gut des jungen Mädchens. Es war das Zeitalter des Mannes, in dem das junge Mädchen kaum hervortreten durfte. Die Pariserin und alle Mädchen lateinischer Rasse wurden im Kloster erzogen, mit Eintritt ins Leben sofort verheiratet. Die Spanierin wurde noch strenger gehalten. Das hat sich in vieler Hinsicht geändert. In Ländern wie Rumänien ist das junge Mädchen selbständiger geworden denn je. In den westeuropäischen Staaten viel früher und noch mehr in Amerika, während Spanien und Italien konservativ blieben, und Paris nur sehr zögernd folgt. Das Gemeinschaftsleben mit dem Mann auf der Schule und im Beruf, das Wandervogelproblem, die Zeitehe, Probeehe usw. haben den Wert der Jungfrau herabgestimmt. Ehedem prägte Prevost den berühmten Typ der Halbjungfrauen. Die Halbjungfrau ist eine gewesene Erscheinung, und vielleicht darf man das als Ausdruck einer Gesundung der Erotik ansprechen.

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Der Teufel als Sittenprediger
Photoplay Gordon Ross

Die Frau ist freier geworden in ihrer erotischen Betätigung, aber unfreier in ihren natürlichen Zielen. Das jus primae noctis des Ehemanns ist in vielen Fällen bedeutungslos geworden. Die Treue erstreckt sich nicht mehr auf die Vergangenheit, und der tragikomische Begriff »Alte Jungfer« hat an Bedeutung verloren. Die Frau braucht nicht mehr Angst zu haben, ihre Jugend zu versäumen. Die Schnellebigkeit der Zeit hat die Begriffe von Moral und Sittlichkeit umgeformt. Soziale Erscheinungen, Wohnungsnot, Weekend, die sexuellen Möglichkeiten haben damit allerdings die Ehescheu des Mannes gestärkt. Man prägt Worte wie: Neue Sachlichkeit! und spielt mit dem Gedanken, die Liebe als ethischen Begriff abzuschaffen. Die Liebe soll abgelöst werden von der Erotik.

Wie war das doch einmal? (Es ist noch gar nicht so lange her, und ich fürchte, es wird bis zur alten Auffassung gar nicht so weit sein, denn – was sind schon in der Entwicklung einige lumpige Jahrzehnte?)

»Suche dir eine reine Jungfrau. Die Jungfernschaft ist der Mai im Jahr, die Blüte am Baum, der Morgen am Tage. Die Jungfernschaft ist eine so feine Sache, daß man kaum davon sprechen kann. Nichts ist billiger, als daß die Rechte den Genotzüchtigten keinen Brautkranz gestatten. – Auch eine Person heiraten, welche im allgemeinen Verdacht steht, ist schon der gerade Weg, ein Schelm zu werden. Es kommt überhaupt bei dieser Sache beinahe mehr auf das an, was sie scheint, als was sie ist.«

Dies sind Worte unseres Altdichters und Philosophen Theodor Gottlieb von Hippel. Leider haben sie der Heuchelei Tür und Tor geöffnet. Die in dem letzten Satze zum Ausdruck gebrachte Ansicht (kurz gefaßt: Man soll eine Frau nach ihrem Ruf beurteilen, nicht nach ihrem Leben) – diese bourgeoise Ansicht war und ist unsittlich. Manche Jungfrau ist an Verleumdung gescheitert, und viele Wissende haben sich den Jungfernkranz auf mancherlei erotische Art wieder gesichert.

Anders liegt die Sache, wenn man sagt: Es kommt darauf an, wie eine Jungfrau ist, und nicht, wodurch sie es nicht mehr zu sein scheint.

»Was ist es, wenn ein Mann die Schwachheit eines Weibes überrumpelt und seinen Körper überwältigt? Mein innerstes Wesen ist unberührt geblieben.« So die »Genotzüchtigte« in einem Werk »Tagebuch einer Dame« von Scharfenstein. Dies also ist der Punkt, um den sich alles dreht.

»Man ist doch noch als erwachsenes Mädchen unglaublich unwissend«, heißt es weiter in dem Buch. »Keine blasse Ahnung! Wie es um eine Jungfrau steht, ewiges Geheimnis. Den Männern wenigstens. Die Roheren unter ihnen, d. h. neun Zehntel ihres Geschlechts« – (man muß sagen: nicht die Roheren, sondern die Erziehungslosen, leider neunzehn Zwanzigstel, die sich ihre sexuelle Wissenschaft bei Kellnerinnen und alternden Kokotten holen und später eine lasterhafte Naivität in ihrem Urteil über »Weiber« entwickeln) – »die Roheren, die uns so gern gewisse Träume und Phantasien und Heimlichkeiten zuschreiben, wie sehr sind die im Irrtum!« –

Daß die Männer sich auf Jungfrauen nie recht verstanden haben, war, wie gesagt, eine Folge ihrer Erziehung.

Heuchelei auf der Schule, Heuchelei im Gymnasium, der ewig wiederkehrende Gemeinplatz von der Inferiorität der »Weiber« (natürlich: auf sittlichem Gebiet) begründen jene unreife Skepsis, die der junge Mann in die Tat umsetzte: »Er lebte sich aus.« Wie sollte der Mann etwas kennen, das er immer verleugnete?

Aber welcher Reichtum an liebenswürdigen Irrtümern, natürlicher Grazie und herber Reinheit umgibt eine Jungfrau!

Adolphe Belot sagt: »Ein junges Mädchen, das zum erstenmal küßt, meint, dies sei der Anfang, dem kein Ende folgt.«

So verwirrt, tritt es ein in den Wundergarten der Liebe, in dem es sich erst allmählich, unter tausendfältigem Erwachen zurechtfinden muß. Eine Jungfrau ist der wahre Jungbrunnen der Liebe. Der Spiegel der Glückseligkeit.

Sie ist natürlich nicht abgeschafft, denn die Natur läßt sich keine Neuerungen vorschreiben.

Aber sie ist »entthront«.

Sie ist ein blasses Weibchen geworden neben den in die Mysterien der Liebe Eingeführten.

Denn diese wissen um ihren Körper. Jene ahnen ihn nur.

Die Jungfräulichkeit als sittliches Prinzip hat also ihre Bedeutung und ihre Anziehungskraft verloren. Die Frauen stellen sich auf den Standpunkt der schönen Nonne Heloise, die ihrem (leider entmannten) Abälard aus der Einsamkeit ihrer Zelle schrieb:

»Ich sollte über meine Sünden weinen, und ich seufze nach dem, was ich verloren. O gewiß, mein Elend ist groß! Und ich darf wohl einstimmen in die Klage eines bangen Herzens: Ich unglückseliger Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes? Bei mir werden die Reizungen des Fleisches, die Begierden nach Genuß noch verschärft durch die Glut meines jungen Blutes. Und je schwächer die Natur ist, der der Angriff gilt, desto leichter erliege ich dem Ansturm der Leidenschaften. Man kennt mich als keusch, weil man nicht weiß, daß alles nur Schein ist. Man rechnet mir Reinheit des Fleisches als Tugend an, aber nicht die Reinheit des Leibes, sondern die Keuschheit der Seele ist Tugend!«

*

Unsere Zeit hat aber, will mir scheinen, mit der Entthronung der Jungfrau die Frau nicht befreit. Sie ist der Lösung des sexuellen Problems nicht näher gekommen, und das Hörigkeitsverhältnis der Frau zum Manne hat sich nur verschoben, ist nicht aufgehoben. Wir haben dafür ein neues Schlagwort bekommen. Die sexuelle Not der Jugend.

Für die Jungfrau von ehedem war die Sexualfrage ein noli me tangere. Zugegeben, daß geheime Laster blühten. Daß viele junge Mädchen onanierten (– aber waren etwa die jungen Männer frei von diesem Erbübel?).

Zugegeben, daß die Stellung des jungen Mädchens zur eigenen libido ein Labyrinth war, und daß manche kleine Messalina Lesbierin wurde oder dem Kammerdiener anheimfiel.

Aber wir kranken seit je an einem Übel: Wir verallgemeinern zu sehr. Es sind schließlich Ausnahmefälle, die vor das Forum der Öffentlichkeit kommen. Eine Serie von Blutschandeprozessen beweist nicht, daß Blutschande eine Familiengewohnheit geworden ist.

Man hat nun der Jungfrau, die es oft mit vierzehn nicht mehr ist, die sexuelle Not beschert.

Warum Not? dürfte man fragen. Man hat erkannt, daß das Sexualverlangen des jungen Mädchens etwas Natürliches ist. Man hat die sexuelle Betätigung frei gegeben.

Aber damit wurde das junge Mädchen in Konflikte gestürzt, die wahrlich mehr Fluch als Beglückung sind. Wasserfälle von Büchern sind über dieses Thema auf die Jugend, die Eltern und Älteren herabgerauscht (das ist schon verdächtig). Fünfzehnjährige Mütter stellten sich der erstaunten, verstimmten und verlegenen Mitwelt vor. Und es ergaben sich allerhand Gegensätzlichkeiten, mit denen diese Kinder nicht mehr fertig wurden. Frau Dr. Hermine Heusler-Edenhuizen, Spezialärztin für Frauenkrankheiten (also kaum mittelalterlich eingestellt), hat über das Thema in der »Frau« einige sehr gescheite Worte gesagt. Sie meint, es sei doch wahrhaftig Unreife, wenn eine Obersekundanerin als Entschuldigung für Hingabe den burschikosen Ausspruch tut: »Man kann sich doch nicht lumpen lassen« – oder wenn eine Studentin die Meinung vertritt, daß »man sich den männlichen Kommilitonen zur Verfügung stellen müsse, um sie vor der Prostitution zu schützen« – (wie das Hörigkeitsverlangen in dieser seltsamen barmherzigen Schwester wieder durchbricht!) Die Verfasserin streift die sozialen Ursachen dieser Erscheinungen und stellt dann eine Wahrheit auf, die von Pseudo-Sexualphilosophen immer wieder geleugnet wird, weil ja damit ihre Weltanschauung steht und fällt:

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»Sie – die jungen Mädchen – übersehen gar nicht, daß sie sich in ihrer Unerfahrenheit all diese Dinge von Männern haben einreden lassen. Alle sind mehr oder weniger überredet worden, daß der sexuelle Verkehr für Glück und Wohlbefinden ein unentbehrlicher Faktor sei, und verfallen so der Krankheit unserer Zeit: Der › Überwertung der körperlichen Sexualität‹.

Bis zur Pubertät sind gesunde Kinder – Knaben und Mädchen – asexuell, d. h. sie kümmern sich nicht um geschlechtliche Fragen, weil sie körperlich noch nicht dazu getrieben sind. Betätigen sie sich trotzdem vor Beginn der eigenen Reife auf dem Gebiete, dann ist an ihnen gesündigt worden durch vorzeitige Aufreizung.

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Annäherung
Orplid-Messtro

Was nun die Reifezeit selbst betrifft, so muß ich Annäherung da bezüglich der Mädchen eine Tatsache feststellen, die von großer Bedeutung ist: › Ein unberührtes, unverdorbenes Mädchen hat heute keine Vorstellung von den körperlichen Vorgängen des Geschlechtsverkehrs und wird deshalb von sich aus nie dazu drängen.‹ Es hat das seinen Grund darin, daß sich an ihrem Körper äußerlich keine Schwellungsvorgänge geltend machen bei erotischen Vorstellungen, wie das fast unmittelbar beim Mann der Fall ist. Erst nach eigenem Erleben weiß das junge Mädchen, wie der Vorgang sich abspielt. Deshalb ist für jedes junge Mädchen der beste Schutz die Unberührtheit, die wir ihr zu erhalten suchen sollten, bis sie verständig genug ist, sich zur Lebensgemeinschaft einen wertvollen Weggenossen auszusuchen.«

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Moderne Mädchen
Südfilm

(Aber die falschen Propheten legen den Keim frühreifer Sexualität mit solcher Geflissenheit in die Herzen und in das Gefühlsleben der Kinder, daß sie schließlich sexuell erregt werden müssen und unnatürliche Regungen für natürliche halten. Nichts liegt mir ferner, als hier für muckerhafte Unterdrückung zu plädieren. Aber als Gemeinheit muß an dieser Stelle die Tatsache gebrandmarkt werden, daß seit einem Jahrzehnt Kreise am Werke sind, die das Kind [die Vierzehnjährige ist ein Kind], bewußt und mit allen Finessen erotisieren. Und wenn das Objekt dieser Verführung dann schwanger ist, steht es allein und starrt entsetzt auf die Schatten des Paragraphen 218. Selbstmord oder Prostitution sind meist die einzigen Auswege.)

»Heute sehe ich,« fährt Frau Heusler-Edenhuizen fort, »obgleich ich nur Privatpraxis habe, in meiner Sprechstunde sechzehnjährige Mädchen aus guten Familien, bei denen ich ›gewohnheitsmäßigen Verkehr‹ feststellen kann. Bei Siebzehn- bis Achtzehnjährigen wundert es mich schon nicht mehr. Alle diese Kinder – mehr sind es ja nicht – sind schon genau orientiert über die Technik des Verkehrs, über Maßnahmen zur Schwangerschaftsverhütung und über Geschlechtskrankheiten. Daß sie über Geschlechtskrankheiten unterrichtet sind, müssen wir als einen gewissen Schutz begrüßen. Ich wünschte nur, daß ihre Kenntnisse darüber hinaus noch etwas tiefer gingen. Daß sie das Wesen des Geschlechtsverkehrs erklärt bekämen von einer Frau, die es in Reinheit selbst erlebt und beobachtet hat. Dann würden sie erfahren, daß der Akt der Vereinigung mit dem Manne, den sie unter Verhinderung etwaiger Folgen so intensiv erstreben, auf die Dauer kein volles Glück für die Frau geben kann!

Denn die Art des geschlechtlichen Erlebens ist bei Mann und Frau verschieden. Um die Art zu erhalten, hat die Natur diesen Akt für den Mann mit einem sehr starken Lustgefühl verbunden, das für ihn einen besonderen Antrieb zum Sinnesgenuß bedeutet. Ob entsprechend die Frau voll empfinden kann, was der Mann erlebt in seinen Momenten höchster Verzückung! Ich glaube es nicht. Wohl hat die Frau ein Lustgefühl, ein stärkeres, wenn sie den Mann liebt, aber die Intensität ihres Lustgefühls reicht wohl nie an die des Mannes heran.

Die Frau hat die neunmonatige Entwicklung der Frucht in ihrem Körper zu ertragen und am Ende die schmerzhafte Ausstoßung des Kindes. Um sie diese Last freudig tragen zu lassen, hat die Natur das höchste Glücksgefühl für sie in das werdende und neugeborene Kind gelegt. Dumm und befangen sehe ich die Väter gewöhnlich bei diesem Erlebnis dabeistehen.« – –

Mit anderen Worten: die Verfasserin verneint für die ehemaligen Backfische die »Dringlichkeit« erotischer Auslebung aus physischer und psychischer Notwendigkeit heraus – und sie hat Recht. Das junge Mädchen ist freilich in der Ehe oft genug besonders durch die sexuelle Unerfahrenheit geradezu in einen Zustand der sexuellen Sklaverei geraten. Es gab viele Ehemänner, die die Keuschheit der Frau mißbrauchten, um ihren Ausschweifungen nun die Zügel schießen zu lassen. Die junge Frau dachte ja, das müsse so sein, und Ekel und Abwendung von dem Sexuellen waren die Folge. Aber das war nicht eben die Regel, und heute geht wohl keine junge Frau ohne Ahnung von sexuellen Vorgängen in die Ehe, die Spanierin vielleicht ausgenommen. Auch sonst war die Jungfräulichkeit früher vielfach Gegenstand erotischer Spekulationen, ja, man darf sagen, daß die Virginität ein Anreiz war, der sadistische Naturen herausforderte.

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Gier
(Aus: Biros »Küsse«)

In der Prostitution spielte die Jungfräulichkeit eine große Rolle. Es gab Bordelle und Absteigequartiere, die auf solche Leckerbissen förmlich Jagd machten, und je älter und reifer die »Kunden« waren, desto mehr schätzten sie den Genuß der Durchstoßung des Hymens. Es bildeten sich bei den Uneingeweihten förmliche Legenden um den Verkehr mit einer Jungfrau. Kein Wunder, daß die raffinierten Priesterinnen der Venus, wenn ihr Äußeres es ihnen noch erlaubte, durch adstringierende Mittel einen Zustand vorzutäuschen wußten, dessen Begleiterscheinungen, wie Blutung, durch die groteskesten Taschenspielerkunststücke hervorgerufen wurden. Der in seinem Trieb umnebelte Mann fiel leicht auf solchen Schwindel herein, und die Kunst, unzählige Male sich »entjungfern« zu lassen, stand in Brüssel, Paris und im Orient in hohen Ehren. Das ist mit dem Sinken der Jungfrau-Valuta vorbei. Was nicht Marktwert hat, hat auch für den Durchschnittsmenschen keinen Reiz, und so hat man statt der »Jungfrau« die sich auslebende »Vierzehnjährige« entdeckt. – –

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G. Smit
Die Hilflose (Zeichnung aus einem flagellantischen Roman)

Aber der Segen erotischen Auslebens, das die Männer den Frauen gebracht, deren Erkämpfung sie den Frauen förmlich aufgezwungen haben, ist eine neue Art der Sklaverei, in die sich das Weib begeben hat, und wahrlich die schlimmste. Das hat nichts mit Moral und nichts mit Fortschritt zu tun. Das ist wider die Natur! Und so sehr wir das Natürliche als Naturgesetz vertreten, so sehr wir gegen die falschen Moralpropheten zu Felde ziehen, so sehr müssen wir diese »doppelte« Moral bekämpfen. Hier ist nicht freies Griechentum nachgeahmt. Hier wird das Mädchen auf die Stufe jener armen indischen Sklavinnen herabgewürdigt, die, zehnjährig (das Klima läßt die Blüte schneller reifen) an Männer verheiratet werden und als arme sieche Geschöpfe diese Schmach mit Verlust ihrer Lebensfreude und Gesundheit bezahlen.

Die Jungfräulichkeit der Halberwachsenen ist eine persönliche Angelegenheit. Die Sexualisierung des Kindes ist eine öffentliche Schande und die gleiche Muckerei, wie das Veto der Dunkelmänner gegen den nackten Menschen an sich. Denn man bezeichnet wider besseres Wissen oder aus innerer Verworfenheit einen unnatürlichen, krankhaften Zustand als den natürlichen.


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