Verner von Heidenstam
Die Schweden und ihre Häuptlinge
Verner von Heidenstam

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XXIX. Alte Gesetze, harte Köpfe

Neben der Sundkirche in Ostgotland wohnte eine Witwe, die Mutter Ingiäll. Sie war blutarm, und als ihr Mann starb, hängte sie die Schlüssel an die Bahre, um damit den Gläubigern kund zu tun, daß sie alles, was sie bisher besessen habe, ihnen überlasse. Aber trotzdem wollten die Töchter schöne Kleider haben; und als die Trauer vorüber war, kaufte Mutter Ingiäll ein Stück rotes Tuch und begann, ein Gewand daraus anzufertigen.

»Wem soll es gehören?« fragten alle drei Schwestern und umringten die Mutter.

»Mein wird es sein!« rief die eine. »Ich bin die Älteste.« »Mir würde es besser stehen,« wendete die zweite ein, die die schönste von den Schwestern war.

Tullia, die Jüngste, verschränkte die Hände im Nacken und schaute zur Zimmerdecke empor. »Ja, wir werden es der Reihe nach am Sonntag tragen dürfen, wenn wir zur Messe gehen,« spottete sie. »Aber an den andern Sonntagen dürfen wir dann in unseren Lumpen herumlaufen.«

Damit sprang sie auf die Alte zu, hob die Hand auf, schlug nach ihr und rang mit ihr, um das Kleid an sich zu reißen.

Mutter Ingiäll setzte sich in einen Winkel und begann zu weinen. Sie seufzte und dachte, sie hätte wohl etwas besseres von ihren Kindern verdient. Doch plötzlich wischte sie sich eifrig die Augen, damit man die Tränenspuren nicht sehen sollte, und wendete sich um. Die Leute aus dem Dorfe hatten durch die offene Tür den Streit mit angehört und versammelten sich nun unter Murren und Drohen. Erschrocken stand die Mutter auf und versuchte, die Tür zu verriegeln, um ihre eigensinnige Tochter zu retten; aber es war schon zu spät.

»So etwas ist in unserem Ort noch nie vorgekommen,« sagten einige ehrfurchtgebietende weißbärtige Männer, indem sie über die Schwelle traten. »Du, Ingiäll, hast Stunde um Stunde, Tag um Tag gearbeitet, dich in deiner Armut abgemüht, immerfort nur an deine Kinder gedacht und dir selbst nur selten etwas gegönnt. Wir glaubten, sie würden dein weißes Haupt küssen, aber Schimpf und Schläge waren dein Lohn. Hier muß das uralte Gesetz zu recht bestehen.«

Tullia stand vor dem Herd und ließ ein trotziges, hochmütiges Lachen hören, während die Väter des Dorfs einen Strick holten und ihr die Hände auf dem Rücken zusammenbanden. Dann wurde sie ins Thinghaus und von da in das Gefängnis des Bezirks geführt. Dieses Gefängnis war eine sehr tiefgemauerte ringsum mit Brettern bekleidete Grube, vier Stockwerk tief und wie ein Keller mit Rasen bedeckt. Darin fand sich aber weder Feuerstelle noch Fensterluke, und die Leiter, an der Tullia hinuntersteigen mußte, wurde sogleich wieder heraufgezogen.

Die Nacht war lang und dunkel; da ging die Mutter hin und ließ ein Licht zu ihr hinunter, damit ihr die Zeit leichter vergehe. Sie neigte sich über das Gitter, das über die Grube gelegt war, und schluchzte: »Mein liebes Kind, was verzeiht nicht eine Mutter! Wie schrecklich mußt du nun leiden! Wenn ich dir doch helfen könnte, aber niemand will mich anhören, wie sehr ich auch schon auf meinen Knieen um Gnade für dich gefleht habe!«

Das Mädchen schaute schweigend in die brennende Kerze.

Nachdem einige Tage verflossen waren, kam Ingiäll mit einer neuen Kerze zu der Grube, und diesmal warf sie auch das rote Kleid hinein.

»Kann es dir irgend einen Trost gewähren, dann behalte es für dich allein,« seufzte die Mutter. »Hinter mir stehen deine Schwestern, und sie würden ein Kleidungsstück, das so viel Kummer über uns gebracht hat, nie anziehen. Wehe dem leuchtenden Tuch, wehe meinen eigenen verschrumpelten Händen, daß sie dieses Kleid genäht haben! Ich blutarme Witwe, warum habe ich euren eitlen Bitten nachgegeben? Warum ist mein Herz so schwach gewesen?«

Da sprang Tullia rasch auf, zog das Kleid an, betrachtete es beim Schein der Kerze und wendete und drehte sich ganz befriedigt darin.

»Da seht ihr, daß sie nur ein gedankenloses Kind ist, das nichts versteht!« sagte die Mutter zum Pfarrer, der eben mit einigen Fackelträgern daherkam; denn die Stunde war angebrochen, wo das Mädchen zum Tode geführt werden sollte.

»Vor dem uralten Gesetz müssen wir uns alle beugen, Mutter Ingiäll,« erwiderte der Pfarrer und befahl dann, die Leiter herbei zu bringen, damit Tullia heraufsteigen könnte. »So lange die Herzen hart sind, spricht auch das Gesetz mit einer harten Stimme, anders geht es nicht. Senke du dich herab in ihre Herzen, du himmlische Liebe, daß keine Ketten mehr für uns geschmiedet werden müssen und eine Mutter ihrer Tochter immer mit Freude in die Augen sehen kann!«

Wie eine Königsbraut leuchtend schritt Tullia in dem flatternden roten Gewand, das sie sich so sehr gewünscht hatte, dahin. Es war beim Tagesanbruch und stilles Wetter, die Kerzen und Fackeln brannten hell und ruhig. Auf einem Hügel bei Lillsjön mußte Tullia, wie es das strenge Gesetz gebot, in ein aufgeworfenes Grab steigen. Über ihren Kopf wurde ein Fladenbrot an einer Schnur so hoch über ihr aufgehängt, daß sie es nicht erreichen konnte, und dann wurde sie allein gelassen.

Nach einigen Tagen kamen die Leute wieder herbei und schauten in das Grab hinein. Da sahen die Nächststehenden, daß ein kleines durchsichtiges Wesen zwischen den Grabscheiten emporschwebte. Es war nicht größer als ein Kind, hatte aber Tullias Züge. Zuerst hatten dessen Augen einen angstvollen, reumütigen Ausdruck, aber allmählich ergoß sich der Schein himmlischer Liebe darüber aus, und als sich schließlich die kleinen Flügel ganz leise ausbreiteten, tönte das wie ein Lerchentriller.

Lange Zeiten hindurch zeigte ein viereckiges Mäuerchen den Ort, wo dies geschehen war.


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