Verner von Heidenstam
Die Schweden und ihre Häuptlinge
Verner von Heidenstam

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II. Ane der Alte

(Ums vierte Jahrhundert n. Chr.)

Alt-Uppsala

Lange Zeiten waren vergangen, seit das Feuer unter dem Kessel in Ura-Kaipas Grabkammer erloschen war. Auf der Ebene an dem Fyrisfluß entstand allmählich eine Thingstätte, die den Namen Uppsala erhielt, und hier versammelten sich die Sveamänner zahlreich, zu opfern und Gericht zu halten.

Im Streit mit den Goten, die weiter südwärts jenseits der Wälder wohnten, hatten sie gar viele Schwerter zerschlagen. Aber große Gotenscharen hatten sich auf die Wanderschaft in fremde Länder begeben, und ihr eigenes Land war allmählich an heimgebrachten Schätzen reicher als an bewaffneten Männern geworden. Doch endlich kam ein Abend, wo ihre vornehmsten Häuptlinge unter einem rotflammenden Himmel erschlagen auf dem Felde lagen und die siegreichen Sveamänner ihre Pferde mit deren Kostbarkeiten schmückten. Klagend sangen die Goten, ihre schönen Frauen hätten nun keinen Ringschmuck mehr um den Hals zu legen und der Harfenklang vermöge nicht mehr ihre Helden zu erwecken.

In dem abgelegenen und gefürchteten Uppsala regierte ein ungeheuer reiches Geschlecht. Das stand in so hohem Ansehen, daß der Hausherr nicht allein wie die andern Odalbauern dem Opfer unter dem eigenen Dache, sondern auch den großen Opferfesten des ganzen Volkes vorstand. Dieses Geschlecht war ein richtiges Häuptlingsgeschlecht, und es wurde die Skilvingar genannt, das hieß so viel als »Hochsitzeinnehmer«, ebenso wurde es auch die Ynglingar genannt.

Mehrere Grabhügel waren schon aufgeworfen, die weithin im Lande sichtbar waren. Zwischen den Grabhügeln und Sandhaufen erhob sich ein hölzerner Giebel mit einem geschnitzten Pferdekopf auf der Wetterfahne. Dies war das stolzeste Haus im Lande, und der hochgeachtetste Mann, der da als König den Hochsitz führte, hieß Ane.

Der Heerfahrten und Kämpfe seiner Jugend überdrüssig geworden, vertiefte er sich jetzt gerne in lange Gespräche mit seinen ernsten Opfergenossen. Eines Morgens, als diese ihn eben zu dem großen Winteropferfest ankleideten und schmückten, sagte er zu ihnen:

»Hört ihr, was das Volk dort an der Tür mir zuruft?«

Die Männer wendeten sich um und hörten das Volk sagen: »Skilvingasohn, du, der von den Göttern abstammt! Du bist mehr als ein Mensch. Du bist der Gott Frej selbst, der Schwertlose, der Ährentragende, und durch dich herrscht er über das Sveavolk und unsere Äcker.«

»Jawohl, Götterkönig, so spricht das Volk,« erwiderten die, welche das Opfer verrichteten. »Aber du gehst allmählich etwas gebeugt. Du bist jetzt sechzig Jahre alt, und die Zeit verlangt ihren Tribut von uns allen. Freue dich, daß du in deinen Söhnen verjüngt wieder aufleben kannst! Deine Väter fürchteten sich davor, den Strohtod zu sterben. Wenn sie alt geworden waren, schenkten sie sich Odin, indem sie sich die Brust mit dem Speere aufrissen. Oder sie ließen sich den Todesschlag mit der Stammeskeule geben. Dort hängt sie am Pfosten des Hochsitzes.«

Ane schob die Opfergenossen von sich und stellte sich näher an die Tür, um zu hören, was das Volk sagte.

»Bin ich mehr als andere Menschen,« dachte er, »warum könnte dann nicht mir allein gewährt werden, niemals sterben zu müssen?«

An diesem Tage noch opferte er Odin seinen ältesten Sohn, um für sich selbst ein langes Leben zu gewinnen. Und Odin versprach ihm, ihn noch fünfzig Winter leben zu lassen.

Nachdem diese Zeit schließlich vergangen war, schenkte Ane Odin seinen zweiten Sohn. Und er glaubte zu hören, daß Odin, der düstere Todesgott, ihm antwortete:

»So lange du mir in jedem zehnten Jahr den ältesten deiner Söhne opferst, sollst du danach weitere zehn Jahre leben.«

Nachdem Ane seinen siebenten Sohn geopfert hatte, war er selbst schon so schwach geworden, daß er in einem Stuhl getragen werden mußte. Dann opferte er auch noch den achten Sohn und lag hierauf, um sich warm zu erhalten, in einer Hängewiege neben dem Herde zehn Winter lang. Aber als er den neunten Sohn geopfert hatte, mußte er mit einem Horn genährt werden wie ein kleines Kind.

Nun hatte Ane nur noch einen einzigen Sohn übrig, namens Egil. Er selbst konnte nichts mehr ausführen; sein Sklave, namens Tunne, wanderte auf seinen Plattfüßen im Königshofe umher, schnauzte die Leute an und teilte Befehle aus, als sei er der König. Im geheimen eignete er sich auch die Schätze des Alten an und vergrub sie in einer Ecke des Saales, um sie bei der Hand zu haben und sich im Laufe der Zeit frohe Tage damit zu machen. Später warf er sich sogar in das leere Königsbett an der Wand. Da lag er, ließ die Beine über den Bettrand heraushängen und schnarchte oder summte Lieder vor sich hin.

Die Balken in den Wänden zerspleißten und vermoderten, daß allmählich das Tageslicht hindurchschimmerte. Die Pfosten neigten sich vor, das Dach rollte sich auf wie ein nasses Zelttuch, und die Spinnengewebe mit allen toten Fliegen darin hingen bis auf den Estrich herab.

»Seht,« lallte Ane der Alte mit dünner zittriger Stimme, während er an dem Horne saugte, »um meinetwillen hat die Zeit in ihrem Laufe innegehalten!«

Er verlangt seine Milch, die von derselben Kuh geholt werden sollte, unter der einst der Melkeimer gestanden hatte, wenn er früher von lustigen Jagden erhitzt und durstig heimgekehrt war. Aber solange konnte keine Kuh leben; das Kalb von den Kälbern dieser Kuh im achtzehnten Glied mußte jetzt die Milch hergeben, wenn Tunne des Morgens kam und das Horn für Ane füllte.

Ane verlangte auch, sein treuer Hofhund sollte Tag und Nacht unter seiner Hängewiege liegen, damit er ihn zwischen den Ohren krauen könnte, wenn er den mageren Arm hinunterstreckte. Und Tunne, der eben am Herde stand und das Horn über dem Feuer etwas erwärmte, nickte nur zu allem, was sein Herr sagte. Aber auch kein Hund hätte solange leben können; das Junge der Jungen von diesem Hunde im achtzehnten Gliede lag nun unter der Hängewiege und streckte sich.

Und doch war auch dieser Hund schon so gichtbrüchig und lahm, daß er sich kaum noch rühren konnte. Nur wenn ab und zu die Tür knarrte, hob er die Schnauze ein wenig und ließ ein müdes Knurren hören.

Egil war ein kecker, fröhlicher Jäger, der sich meist in den Wäldern umhertrieb. Dort verfaulten die Tannen auf ihren Wurzeln, weil sie niemand fällte. Überall herrschte Verfall, das Moos überzog alles, der Sumpf breitete sich aus. Auf den Äckern folgte eine Mißernte der andern, weil die Landleute nur ganz abgenützte und veraltete Gerätschaften verwenden durften. Matt und schläfrig schwatzten sie miteinander, während sie zwischen ihren mit Unkraut überwucherten Feldern umherschlenderten, und sie machten so langsame Schritte, daß sie einen ganzen Tag brauchten, bis sie eine Meile zurückgelegt hatten, ja selbst die Kinder sahen schon aus wie runzlige kleine Greise.

Jetzt sollte Ane sein zweihundertstes Jahr vollenden, und als gehorsamer Sohn ging Egil hinein zu ihm, denn jetzt waren wieder zehn Jahre abgelaufen. Er schlug mit seinem Mantel die Spinneweben auseinander und wedelte den aufwirbelnden Staub auf die Seite. Aus der Hängewiege ertönte ein schwaches Röcheln. Ane der Alte hob den Kopf so weit in die Höhe, daß eben die Augen und die Wangen über dem Wiegenrand sichtbar wurden.

Da lag der Greis ganz in Felle eingenäht. Auf seinem Schädel war nicht ein einziges Haar mehr zu sehen, aber an den Augenbrauen standen ein paar weiße Borsten heraus. Auf jeder seiner Wangen brannte ein feuerroter Fleck, der aber nicht, wie bei jungen Leuten, kam und ging, sondern förmlich mit der Haut verwachsen war, und darum herum war die Haut gelb und vertrocknet.

»Nichts verändern!« wimmerte der Alte kaum vernehmlich. »Nicht den Staub verjagen!«

»Vater, hoher Skilvingersproß,« sagte Egil und senkte ehrfurchtsvoll den Kopf. »Draußen im Walde liegen die Tannen verfault neben ihren Stümpfen, kaum kann man noch Feld und Moor voneinander unterscheiden. Bald fällt das ganze Haus über dir zusammen und zerschmettert alles, was hier ist.«

Da sank Ane der Alte zwischen seine Felle zurück. Unsicher griff er nach seinem Horn. Aber ehe er es zwischen die Lippen steckte, wimmerte er noch leise: »Geh zum Opferbaum!«

Einen Augenblick noch zögerte Egil vor der Hängewiege, dann wendete er sich zum Gehen. Und je näher er der Tür kam, um so fester wurde sein Schritt.

»Vater, ich werde dir gehorchen,« murmelte er. »Deine Opferpriester stehen schon draußen und warten nur darauf, mich an Odins Baum aufzuhängen. Nun kann ich nie wieder mit meinem Bogen im Wald umherstreifen.«

Der Pfad bis zum Opferstein war nur kurz, und der Wind sauste durch die winterlich dürren Zweige. An Odins heiligem Baum, dem Baum des Entsetzens, hingen die geopferten Habichte und Pferde und auch Menschenleiber, den Scheitel und die Achseln voller Schnee. Einer der Körper öffnete den Mund und sagte zu dem Volk:

»Noch hat der Hunger meiner Qual kein Ende gemacht, obgleich ich schon mehrere Tage hier unter den Zweigen hänge. Wird Odin niemals satt?«

Das Volk, das in zorniger, erregter Gemütsstimmung war, umringte Egil drohend und widerwillig. Er wurde in einen offenen Grabhügel geführt, dort reich geschmückt und in ein kostbares pelzverbrämtes Gewand gehüllt. Viele hineingeworfene und geopferte Kostbarkeiten lagen hier auf der Erde und glänzten ringsherum in dem Grabhügel.

»Jetzt bist du der Opferkönig und herrschest über uns, jedoch nur bis der Hahn kräht,« sagten die, welche opferten. »Aber es ist noch eine ganze Nacht bis dahin, denke nicht daran.«

»Lieber eine einzige Nacht König über euch sein, als niemals,« erwiderte Egil. Dann rief er die Skalden herbei und sagte gebietend:

»Singt nicht die alten Lieder, sondern singt heute nacht von den Heldentaten, die wir vollbracht hätten, wenn ich euer Häuptling geworden wäre.«

Da stellten sich die Skalden vor dem Grabhügel auf, und während der Nachthimmel rot erglühte, sangen sie von dem Gang der Sichel über das Kornfeld, von dem Hämmern in der Schiffsschmiede, von vollausgerüsteten Drachenschiffen, die ins Wasser geschoben und von Svitjods Ufern fortgerudert wurden.

Hinter ihnen standen die Harfner, die ihre Saiten laut ertönen ließen. Es klang wie dumpfes Dröhnen aus der Tiefe der Erde und wie das Heulen des Sturmes durch wilde Wälder. Die Nacht schritt voran; aber plötzlich verstummten jäh alle Harfen, und der Egil am nächsten stehende Skalde flüsterte:

»Warum wendest du dich ab, Egil? Bist du unseres Heldengesanges schon müde geworden?«

»Die Stunden sind entflohen,« antwortete Egil, das Auge auf den Himmelsrand gerichtet, der sich hinter den Grabhügeln rötete. »In einer der entferntesten Ortschaften höre ich schon den Hahn krähen!«

»Weh uns, daß wir uns in Träume von Siegen, die du nie erleben wirst, vergessen haben!« riefen die Skalden bestürzt und führten Egil nun eilig zu dem Baume des Entsetzens. Egil schwankte mehr als er ging. Das Tageslicht ließ den Fackelschein erbleichen und warf ein weißliches Grau auf sein Gesicht.

Da brach eine speertragende Schar Männer hervor, die als Riesen und Trolle mit grinsenden Rüsseln und wallenden falschen Bärten verkleidet waren. Sie richtete ihre Speere auf Egil und wollten ihn auf den Baum hinaufheben; dabei schlug ihn einer aus Versehen mit seinem Speerschaft. Dieser Schlag rief die richtige Farbe auf Egils Wangen zurück; zornig riß er den Speer an sich und kämpfte allein gegen die ganze Schar.

Die Zuschauer erschraken; aber während des Kampfes war es immer heller geworden, und plötzlich kam ein alter Mann auf dem Pfad vom Königshofe keuchend dahergelaufen:

»Haltet ein!« rief er, sobald er wieder zu Atem gekommen war und sprechen konnte. »Ihr habt euch allzulange bei den Harfen aufgehalten. Ane der Alte hat in dieser Nacht zweihundert Jahre vollendet. Und da ihr in dem Augenblick, wo der Hahn krähte, seinen Sohn noch nicht geopfert hattet, ist Ane vorhin für immer entschlafen. Aber wenn ich recht sehe, steht hier gerade so ein König, wie wir Sveamänner uns einen wünschen. Deshalb rate ich euch, werfet die Speere weg und erhebt ihn statt dessen auf eure Schilde!«

Der Rat wurde befolgt. Die Männer trugen Egil auf den Schilden in den mit Staub bedeckten, halbeingestürzten Königssaal, wo Tunne schon seine verborgenen Schätze zusammengerafft und sich damit aus dem Staube gemacht hatte.

Egil hatte später viele harte Fehden mit Tunne und mit seinen Spießgesellen zu bestehen, und erst als der Sklave gefallen war, war der Friede gesichert. Da geschah es einmal, daß Egil auf der Jagd von einem Stier angefallen wurde, der zum Opfer gemästet worden war und sich losgerissen hatte. Der Stier rannte Egils Pferd um und hatte Egil schon die Hörner in die Brust gestoßen, als die andern Männer herbeikamen.

Sie fällten den Stier mit ihren Speeren und trugen Egil heim aufs Königsschloß. Da sprach Egil: »Odin, du hast Ane den Alten leben lassen, um uns zu zeigen, wie weise du uns unsere Jahre zumissest, indem du unser Leben mit unserer Kraft verrinnen lassest. Das Alte kann nicht ewig bestehen, ob wir etwas kürzer oder länger leben, hat auch weniger zu bedeuten, als daß wir mit unbeflecktem Namen von hinnen gehen. Ich danke dir, Odin, ich werde ruhig kommen, so bald du mich rufest.«

Kurz darauf starb er an seinen Wunden und wurde in Uppsala begraben.


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