Verner von Heidenstam
Die Schweden und ihre Häuptlinge
Verner von Heidenstam

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XXVI. Die kleine Schwester

(1455 – 1469)

Barfuß und mit kurzgeschnittenem Haar kniete ein kleines Mädchen vor dem Hochaltar in der Klosterkirche zu Vadstena. Erst neun Jahre alt, wurde sie schon zur Nonne gekrönt. Man zog ihr das graue, ernste Gewand aus Fries an, der Gürtel mit dem einfachen hölzernen Knopf wurde ihr umgelegt und zugeknöpft, und über das schwarze Kopftuch wurde ihr eine geschlossene Krone aus weißer Leinwand mit fünf Ringen aus blutrotem Tuche gesetzt.

Damals lebte Karl Knutsson noch, und die Kleine war eine seiner Töchter. Die Begräbnisstätte ihrer Mutter war nur wenige Schritte von dem Altar entfernt, auf dem der silberne Schrein der heiligen Birgitta stand. Karl Knutsson trat in vollem Königsornat heran und umarmte sein Töchterchen, um ihr Lebewohl zu sagen; aber von inniger Sehnsucht erfüllt, hatten sich ihre Augen schon auf die an der Klostertür wartenden Nonnen gerichtet. Mit ihren weißen Kronen sahen sie aus wie Königinnen und Bräute, und aus ihren Gesichtern strahlte himmlischer Friede. Die Neueingekleidete wußte, wenn sie durch diese Tür wiederherauskam, lag sie auf ihrer Bahre. Und um sie daran zu erinnern, streckten ihr vier Schwestern eine Bahre mit Erde darauf entgegen; aber sie eilte daran vorbei und warf sich glückselig an die Brust der Äbtissin.

»Äbtissin,« sagte der Bischof, »ich übergebe diese Dienerin Gottes in den Schutz deiner Hände. Wenn der Tag der Rechenschaft anbricht, übergib sie noch heiliger, als du sie bekommen hast.«

Damit schloß sich die Tür für immer hinter der Königstochter. Jetzt war sie eine Nonne im Kloster Vadstena.

»Bist du so alt,« fragte sie und schlug die Augen zu der Äbtissin auf, »daß du dich an die Zeit erinnern kannst, wo die heilige Frau Birgitta noch unter den Lebenden weilte?« Die Kleine hatte denselben Namen wie die Heilige, und darüber war sie froh und stolz.

»Kleine Schwester,« antwortete die Äbtissin mit einem wehmütigen Lächeln – und von da an nannten die Nonnen die Königstochter nie anders als kleine Schwester – »so alt ist keine von uns. Wir Nonnen sehen indes die Heilige bisweilen in unseren Träumen, jedoch nur, wenn uns ein sehr großes Glück bevorsteht. Wie eine gute Mutter geht die Heilige umher und wacht darüber, daß das Feuer zur Nacht wohl gelöscht und alle Lichter ausgeblasen sind. Deshalb kann Vadstena nie ein Raub der Flammen werden.«

Die kleine Schwester fragte sich, ob sie jemals würdig werden könnte, solch einen Traum zu träumen. Aber in den ersten Tagen wurden ihre Gedanken von gar viel Neuem in Anspruch genommen. Sie durfte den Rosenkranz küssen, der einst der hundertundzehnjährigen Nonne Ramborg Bruddesdotter gehört hatte. Schwester Ramborg war eine der ersten Nonnen des Klosters gewesen und wurde immer mit besonderer Ehrfurcht genannt. Die kleine Schwester durfte auch mit ihren Händchen über das Altartuch streichen, das von der kunstfertigen Anna Klasdotter gestickt worden war. Und still durfte sie auch neben Botilda Petersdotter sitzen und zusehen, wie diese gar zierliche Schrift auf Kalbsleder druckte, die sie von dem Bischof in Skara erhalten hatte. Wenn die Nonne mit ein paar Blättern fertig war, ging sie hinunter zum Sprechaltar der Brüder und legte das Geschriebene in eine Tonne an der Wand. Wenn die Tonne herumgedreht wurde, nahm auf der andern Seite ein Mönch das in Empfang, was darinnen lag, denn auf der andern Seite war ein Mönchskloster. Diese Mönche waren gelehrte ernste Männer, die aber nur am Sprechaltar mit den Nonnen verkehrten. Sie hatten einen großen Saal voller Bücher, von denen die kostbarsten mit Ketten an den Wänden festgemacht waren.

Am vergnügtesten war die kleine Schwester, wenn sie mit ihrer Puppe spielen durfte, die sich unter ihren mitgebrachten Kleinigkeiten befand. Es war eine hölzerne Puppe in einem von Silber strotzenden Gewand. Die kleine Schwester zog sie an, küßte sie und nahm sie des Abends mit zu Bett.

Aber als der Sonnabend herankam, ging die Äbtissin umher und sah nach, ob die Nonnen nichts Unerlaubtes in ihrer Truhe hatten. Auch die kleine Schwester mußte ihre Truhe öffnen und die Puppe hergeben, obgleich ihr die Tränen dabei über die Wangen herabliefen.

»Die Dienerin Gottes darf nichts zu eigen haben,« sagte die Äbtissin mild und nahm die Puppe mit sich. »Jetzt sollst du mit uns Älteren nähen und klöppeln.« Aber die kleine Schwester dachte den ganzen Abend sehnsüchtig an ihre Puppe.

Dreimal während jeder Mahlzeit klopfte die Äbtissin mit dem Messer auf den Tisch, dann standen alle Nonnen auf mit den Worten: »Ave Maria, ave Maria, ave Maria!« Nach dem Essen durften sie sich im Garten ergehen und ohne fröhliches Scherzen und eitle Worte miteinander plaudern; aber die kleine Schwester ging niedergedrückt abseits und grämte sich sehr.

Als die Schlafenszeit herangekommen war, kroch sie in ihr hartes Bett; sie konnte jedoch nicht einschlafen und starrte immerfort mit verweinten Augen in das graue neblige Frühlingslicht hinein. Vorsichtig schlich sie sich an die Tür und wagte es, einen scheuen Blick nach den andern offenen Zellen zu werfen. Die Nonnen lagen in ihren Nachtgewändern mit Gürtel und Kopftuch auf ihren Betten. Als die kleine Schwester sah, wie ruhig sie in ihrem Klosterschmuck, allen Stürmen der Welt weit entrückt, schliefen, sehnte sie sich nur noch heißer, bald auch so zu werden. Nun kam die Wächterin und schloß die Türen zu, und es wurde still ringsumher. Da zog die kleine Schwester die Felldecke wieder über sich.

Plötzlich fühlte sie, daß sich eine Hand weich auf ihr Herz legte, und als sie aufschaute, stand eine alte Frau vor ihr, die sich über sie beugte und die schöner und holder war als irgendein anderer Mensch, den die kleine Schwester je gesehen hatte. Über ihrem weißen Haar schimmerte ein Ring von glänzendem Licht.

»Du allerholdeste Blume in meinem Garten,« sagte sie mütterlich, »warum schlägt dein Herz so heftig, während die andern schlafen? Ich bin Birgitte, und ich will deinen ersten Schmerz in duftige Rosenblätter verwandeln und dich bald holen zu noch vollkommenerer Freude dahin, wo es keine Tränen mehr gibt.«

Voller Angst, der Traum möchte ein Ende nehmen, griff die kleine Schwester nach der guten Hand – aber da ertönte auch schon eine Glocke, und obgleich es erst zwischen drei und vier Uhr morgens war, stand sie doch vor Kälte schauernd auf. Sie zündete ihr Licht an und ging im Zug der Nonnen in den Chor der Kirche, wo sie den Tagesanbruch mit einem Lobgesang begrüßten. Zu zwei und zwei wanderten sie alsdann hinaus an ein offenes Grab, wo die Äbtissin Erde in die Hand nahm und über den Tod mit ihnen redete. Dann mußten sie Messen hören und in einem großen Saal mit hellen Fenstern nähen. Aber unter all diesem klösterlichen Schweigen fühlte sich die kleine Schwester doch immer gleich glücklich, und niemand hörte sie jemals klagen.

Bisweilen kam es doch vor, daß eine Nonne den Kopf hängen ließ, weil ihr die Gedanken an die Welt draußen Kummer machten. Dann ging gleichsam eine Woge der Unruhe durch aller Gemüt, und die, die sich verfehlt hatte, wurde in eine dunkle Kammer gesperrt, damit sie sich unter Gebet bessere. Wenn sie wieder herauskam, war sie ganz wie früher, und beim ersten Abendläuten stellten sich alle Nonnen voreinander auf und flüsterten: »Verzeihet uns, wenn eine von uns die anderen betrübt hat, wie wir euch auch von Herzen gern verzeihen.«

Verwandte und Freunde klopften zuweilen an die Außenpforte, und dann durfte die kleine Schwester mit ihnen durch das Gitter sprechen. Mit der Zeit aber wurde sie immer mehr von den Weltleuten vergessen, die an ihre eigenen Streitigkeiten zu denken hatten. Dagegen kamen oft totkranke Vornehme an das Mönchkloster. Sie wurden in der Krankenstube auf Stroh gebettet und waren glücklich, daß sie in ihrer letzten Stunde den Glockenklang hören durften; und die Königstochter wusch die Kleider der Kranken.

Jetzt war sie nicht mehr neun Jahre alt; sie wurde neunzehn und mehr und stand nun im Anfang der zwanziger. Aber noch immer hieß sie die kleine Schwester, denn sie war sehr zart und hatte einen schwebenden Gang, auch sah sie gar blaß und durchsichtig aus, wenn sie mit ihrer Weißen Krone unter dem Arm dahergeschritten kam. Die Schwestern verwunderten sich nicht darüber, daß ein so stilles liebes Kind nicht lange auf Erden verweilen konnte. Eines Morgens war sie über die Maßen schwach, und man mußte nach dem Beichtvater schicken, der ihr eine brennende Wachskerze zwischen die Finger steckte und ihr zuflüsterte: »Gott lasse sein ewiges Licht über dir leuchten!«

Nachdem sie entschlafen war, nahm die Äbtissin die Nonnen mit sich an ihren Schrank, um die der kleinen Schwester einst weggenommene Puppe herauszuholen und sie als ein unschuldiges Andenken an die Verstorbene aufzubewahren. Aber wo die Puppe ihren Platz gehabt hatte, lagen statt ihrer frische duftende Rosenblätter, obgleich der Vorfrühling kaum angebrochen war. Die Äbtissin nahm die Blätter heraus und legte sie in ihren Mantel; aber so oft sie eine Handvoll herausholte, erblühte immer wieder ein neues duftendes Häuflein in dem halbdunklen Schrank, bis es so viele Rosenblätter waren, daß die Äbtissin nicht noch mehr in ihrem Mantel tragen konnte. Dann ging sie hinunter und streute alle die rosigen Blätter auf das Herz der kleinen Schwester.

Am Abend kamen die Brüder und trugen sie auf einer Bahre in die Kirche. Dort wurde sie unter dem Abendgesang der Nonnen begraben, als eben der letzte Sonnenstrahl im Westen durch die Spitzbogenfenster hereinfiel.


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